Читать книгу Der deutsche Wald - Johannes Zechner - Страница 45

Zwischenbilanz

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Der imaginierte Wald in den Veröffentlichungen Jacob und Wilhelm Grimms war ganz wesentlich einer der Märchen und Metaphern. Als archaischer Märchenwald bildete er eine numinose Gegenwelt, in der die Protagonisten während ihres temporären Aufenthaltes außeralltäglichen Regeln unterworfen und die Rangunterschiede der menschlichen Lebenssphäre außer Kraft gesetzt waren. Die Brüder sahen in der Baumnatur ferner ein neben der Bergwelt letztes Repositorium der als volkstümlich verstandenen Geschichten, die ihrer Meinung nach von der voranschreitenden Moderne akut bedroht waren. Der vergleichsweise vielgestaltige Metaphernwald in den wissenschaftlichen Texten hingegen verknüpfte die Sphären von Natur und Kultur, indem er ein organisches Wachstum der Volksüberlieferung über die Jahrtausende behauptete. Damit wurde das Volk selbst mit seinen kulturellen Errungenschaften zum Gruppenorganismus erklärt, der den gleichen Naturgesetzen unterliegen sollte wie die Baum- und Pflanzenwelt.

Im Gegensatz beispielsweise zu Arndt war das Naturideal der Brüder Grimm aber kein bäuerlicher Nutzforst, sondern in den literarischen wie in den wissenschaftlichen Texten ein von menschlicher Einwirkung fast unberührt gebliebener Vorzeitwald. Demzufolge zeigen sich in der Naturdarstellung der Märchen deutliche Anlehnungen an das romantische Bild vom dichten und dunklen Raum der Bedrohung wie Bewährung, die sich von Auflage zu Auflage noch weiter verstärkten. Jedoch fehlte bei den Grimms – anders als etwa bei Tieck oder Eichendorff – die poetische Kehrseite als anmutige Landschaft der Liebe, Selbstfindung und Wanderschaft. Allerdings waren sich die Brüder als Wissenschaftler sehr wohl klar darüber, dass es keine Rückkehr der Deutschen zur unwiderruflich verlorenen Ursprünglichkeit der germanischen Urwälder und zum vorchristlichen Baumglauben geben konnte.

Stattdessen sollte das metaphorische Waldideal vor allem in einer tagespolitisch turbulenten Zeit der Auseinandersetzungen mit Frankreich als Quelle kollektiven Charakters und patriotischer Begeisterung dienen. Der Wald erschien als eine Sphäre außerhalb von Zeit und Geschichte, in der die tatsächlichen historischen Entwicklungen seit der germanischen Zeit keine Rolle spielten. Ein solcher imaginierter Wald gehörte für die Brüder Grimm neben Sprache und Literatur zu den wenigen Elementen, die die Gebiete des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation noch miteinander verbanden. Die ihm zugeschriebenen politischen Bedeutungen changierten zwischen Hort des Gestern und deutschem Einheitsversprechen, womit er weit über die silvan-botanische Bedeutungssphäre hinaus zur Natur der Nation geriet. Ein nun zu untersuchender Walddenker sollte die solchermaßen politisierte Baumnatur aufgreifen und noch weit nachdrücklicher für seine explizit nationalistischen Zwecke instrumentalisieren.

Der deutsche Wald

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