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Naturgeschichte und Stabilitätslandschaften

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Das gesamte Denken Riehls war von politisch wie national nutzbaren Figuren des Organischen durchzogen und klimatheoretisch fundiert.53 Darin offenbart sich ein deutlicher Einfluss arndtscher Vorstellungen, insbesondere in der naturgeschichtlichen Herangehensweise und der zentralen Bedeutung wurzelhafter Faktoren. Für Riehl ging das „Naturvolk“ in historischer Perspektive stets dem „Staatsvolk“ voraus, nötigenfalls könnte es sogar ohne dieses existieren und fortbestehen.54 Seine wissenschaftlichen Bemühungen verstand er primär als Aufzeigen der „Naturgrundlagen der Stämme und Völker“55, die als Basis einer jeden wirkungsvollen Politik dienen müssten. Gegenüber dem in seinen Augen abstrakten und unnatürlichen Staatsverständnis Frankreichs bevorzugte er politische Gemeinwesen, die „aus einer Sitte des Volkes hervorwachsen“56.

In gesellschaftlicher Hinsicht vertraute Riehl auf die stabilisierenden Institutionen der Ehe und der Familie als „natürliche Vorgebilde der Volkspersönlichkeit“, in denen die Grundlage sozialer Ordnung enthalten liege „wie der Eichbaum in der Eichel“.57 Solche unter allen Umständen zu bewahrenden Keimzellen seien dem „Naturgesetz“58 der Ungleichheit unterworfen, das für Geschlechter, Stände und Völker gleichermaßen gelte. In diesem Sinne verstand Riehl die bewahrende Kraft der Bauernschaft als „Granitgrund der Sitte“ und den Adel als „Bauernthum in erhöhter Potenz“.59 Ohne strukturierende Hierarchien – so seine Überzeugung – werde das deutsche Volk einem Ende als „gleichheitlicher Molluskenbrei“60 der gliederungslosen Weichtierexistenz entgegengehen.

Aus dem organischen Verständnis des Volkes als Grundlage und Daseinsberechtigung des Staates ergab sich Riehls Konzeption von Kulturgeschichte. Diese sollte gegenüber der damaligen Dominanz politikgeschichtlicher Fragestellungen den Fokus auf das Volk in all seinen oft unterschätzten Lebensäußerungen legen, die es wiederzuentdecken gelte.61 Daher äußerte sich Riehl deutlich ablehnend gegenüber der trockenen Arbeit des Historikers in „der Moderluft der Antiquitätenkammern und Archive oder der Staubluft der Bibliotheken und Studierstuben“62. Stattdessen propagierte und praktizierte er unter freiem Himmel die von Arndt vertrauten „Wanderstudien“63, für die er teils wochenlang die entsprechenden Gebiete durchquerte. Jedoch kam er im Gegensatz zu seinem Lehrmeister und anderen Autoren von Reiseberichten nicht über die deutschen Grenzen hinaus.

Riehls „Handwerksgeheimnisse des Volksstudiums“64 beinhalteten ausführliche Erläuterungen dazu, wie wahre Erkenntnis vor Ort zu erwandern statt im Archiv zu erlesen sei. Allerdings waren diese Beobachtungen notwendigerweise vorgeprägt durch politische Erwartungen und gesellschaftliche Idealbilder, die er im Feld wiederzufinden hoffte. Zudem bestanden die meist namenlos bleibenden Gewährsleute – wie Riehl sogar selbst zugab – hauptsächlich aus gebildeten Personen wie Ärzten, Lehrern oder Pfarrern und nicht aus den einfachen Bauern oder Handwerkern. Folglich dominierten in Riehls Werken nicht detaillierte und differenzierende Auseinandersetzungen mit der Komplexität individueller Verhaltensweisen, sondern pauschalisierende Zuschreibungen vermeintlich naturbasierter landsmannschaftlicher Identitäten.

In diesem Sinne behauptete er, die Deutschen seien im Gegensatz etwa zu Griechen oder Römern „von Hause aus ein Landvolk gewesen“65. Das gefürchtete Gegenbild zur ländlich-natürlichen Harmonie verkörperten die für ihn orientalisch konnotierten (Groß-)Städte als „Wasserköpfe der modernen Civilisation“66. Dort sammelten sich ihm zufolge vorrangig aus den „uralten Gesteinschichten der Stände“67 losgerissene Bevölkerungsteile, die als bindungslos gewordenes Proletariat ein immerwährendes Unruhepotenzial bildeten. So war ihm die französische Metropole Paris der „niemals erkaltende Feuerherd der sozialen Revolution“68, der auch die deutsche Stabilität bedrohe. Mit einem solchen gesellschaftlichen Zerfall gehe die Verachtung von Geschichte und Tradition einher, sodass in der „Monstrosität unserer sogenannten Weltstädte“69 ein vaterlandsloser und demnach widernatürlicher Kosmopolitismus die Herrschaft zu erringen drohe.

Ähnlich stellte Riehl die in Boden und Sitte fest verwurzelten deutschen Bauern den wurzellosen Gruppen „des umherschweifenden Lebenswandels, der Heimathlosigkeit“70 gegenüber. Sein Misstrauen galt neben den proletarischen Stadtbewohnern vor allem den „wandernden Schacherjuden“ und den Zigeunern als dem „verdorbenen Wandervolke“, was an das etablierte christlich-antijudaistische Klischee vom Ewigen Juden sowie weitere pejorative Nomadenstereotype anknüpfte.71 Diese untergrüben durch ihre rastlose Lebensweise die ehrwürdigen Werte von Stabilität und Tradition sowie das deutsche Verständnis von Arbeit, Familie und Staat. Auf diese Gruppen erstreckte sich Riehls sonstige Hochschätzung des Wanderns keineswegs, da er deren Nichtsesshaftigkeit als Ausdruck der jeweiligen unsteten Volkscharaktere verstand. Allerdings sah er die Volksprägung im Gegensatz zu biologistisch argumentierenden Rassentheoretikern späterer Jahrzehnte nicht als grundsätzlich unüberwindlich an, denn „der Jude hinterm Pfluge und in der Werkstatt verliert sein semitisches und mittelaltriges Volksgepräge“72.

Darüber hinaus verknüpfte Riehl den Charakter naturaler Landschaften grundsätzlich mit den dort herrschenden politischen Zuständen, indem er sich auf die kulturprägenden Einflüsse von Boden- und Klimaverhältnissen berief.73 So behauptete er beispielsweise einen „frappanten Zusammenhang zwischen den revolutionären Volksstimmungen und örtlichen geologischen Bildungen“74, dem gemäß Phänomene gesellschaftlicher Unrast primär in einst tektonisch unruhigen Gebieten stattfanden. Analog war für ihn der Widerstand gegen aufklärerische und kosmopolitische Bestrebungen in denjenigen deutschen Regionen am stärksten gewesen, „wo noch die großen Wälder, Sümpfe und Berge sind“75.

In seinen volkskundlichen Texten verwendete Riehl ebenso wie schon Arndt oder die Brüder Grimm gerne naturnahe Bilder des Montanen und Fluvialen. Dies unternahm er vor allem, um positive Volkseigenschaften wie zum Beispiel Reinheit, Unverdorbenheit oder Vitalität besonders hervorzuheben. So ähnele „das lebendig dahinwallende Volk einem Strome“, während im Hochgebirge die „Naturkraft der Race“ noch am ursprünglichsten erhalten geblieben sei.76 Vergleichbar zog er auch Parallelen zwischen wahrgenommenen Verfallserscheinungen von Natur und Volk, wenn die „Geißel der Uebercivilisation“77 als bedrohlich für die landwirtschaftliche und für die menschliche Sphäre galt: dies in Gestalt eines gleichermaßen ungehemmten Wachstums von Pflanzen und Großstädten.

Speziell der montanen Natur widmete Riehl seinen Vortrag Alpenwanderung eines Historikers (1869/1872), den er als eine Form der „culturgeschichtlichen Bergbesteigung“78 bezeichnete. Die ältesten Schichten der Volksüberlieferung sah er am reinsten in den höchsten Lagen fern der Städte konserviert, denn „die Geschichte der Gesittung ist hier in den Fels gegraben“79. Besonderes Kennzeichen sei das weitgehende Fehlen dauerhafter menschlicher Besiedlung und Architektur, sodass es kaum vom Wanderer zu bewundernde Burgen oder Denkmäler gebe. Dies unterscheide die Bergnatur der Schluchten und Wasserfälle von der Flussnatur des Rheines, die indes beide zusammen ein „contrastirendes Doppelbild“80 von Wildnis- und Geschichtslandschaft böten.

An anderer Stelle äußerte sich Riehl zu der damals viel diskutierten Frage, inwiefern der „König der deutschen Flüsse“81 den Übergang zum französischen Gebiet markiere. Am Beispiel der bayerischen Pfalz bezeichnete er den Rhein als bloß „anscheinende Naturgrenze“82, weil er Berge, Flüsse oder Meere kaum als geeignete Scheidelinien ansah. Überdies hielt er es für einen Widerspruch in sich, dass solchen angenommenen Naturgrenzen bisweilen durch militärisches Handeln überhaupt erst Gültigkeit verschafft werden müsse. Für die territorial umstrittene Elsassregion konstatierte er eine Existenz als ambivalentes „Zwischenland“, dessen Bewohner infolgedessen ein „Mischvolk“ bildeten.83 Allerdings war es ihm spätestens mit der Reichseinigung ein dringendes Anliegen, diese mögen „aus künstlichen Halbfranzosen wieder werden, was sie von Natur sind, ganze Deutsche“84.

Spezifisch den Symbolgehalt der Flussnatur thematisierte Riehl in einem weiteren Vortrag unter dem Titel Rheinlandschaft (1871), der gleich eingangs vor allem für die bergige und bewaldete Gegend des Mittelrheines postulierte: „Geschichte, Volksleben und Natur sind in prächtiger Harmonie durch den Stromlauf mitbestimmt und verbunden.“85 Allerdings habe im Laufe der Zeit die Kultur gegenüber der Natur eindeutig den Sieg davongetragen, zuletzt durch Begradigung und Brückenbau, Dampfschiffe und Eisenbahnen. So sei der Strom als historisch gewordene Kulturlandschaft schließlich fast all jener ursprünglichen Attraktivität verlustig gegangen, die zuvor zahlreiche Dichter und Maler in ihren Bann gezogen habe. Gleichwohl bleibe die „ideelle Hoheit“86 des Rheines weitgehend unabhängig von konkreten naturalen Faktoren wie Flusslänge oder Wassermenge bestehen. Diese Belegstellen offenbaren eine intensive Beschäftigung Riehls mit den nichtnaturalen Aspekten von Gebirgs- und Flusslandschaften, noch häufiger gebrauchte er jedoch die silvane Natur als Denkbild und Identitätsmetapher.

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