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Waldwildnis versus Feld und Park

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Den Wald erhob Riehl zum Hauptkriterium deutscher kollektiver Identität und stellte ihn den vermeintlichen Nationalnaturen anderer Völker gegenüber. Diesem Thema widmete sich vor allem sein im Bildungsbürgertum zeitweise weitverbreitetes vierbändiges Hauptwerk Naturgeschichte des Volkes (1851–1869), an dem er ab Mitte der 1840er-Jahre gearbeitet hatte.87 Von besonderem Interesse ist der zweite Band, Land und Leute (1854), als nach eigener Aussage „erwandertes“88 Buch, das schon in den sieben Jahren nach der Erstausgabe vier Neuauflagen und später mehrere partielle Wiederabdrucke erfuhr. Die eingängige Alliteration im Titel inspirierte zudem andere Veröffentlichungen, die sich für ihre jeweiligen nationalen oder regionalen Konstellationen explizit oder implizit auf das Vorbild bezogen.89

Riehl versuchte damit, den Nationalcharakter der Völker wesentlich aus der umgebenden und prägenden Natur herzuleiten. Wie schon bei Arndt geschah dies nach dem eingeführten Modell antiker und frühneuzeitlicher Autoren aus dem Umfeld der Klimatheorie. Selbst ohne eigene Ortskenntnis parallelisierte Riehl natürliche und soziale Verfallszustände gemäß dem Motto „nicht bloß das Land ist ausgelebt, auch das Volk“90. Negativ erschien ihm zum Beispiel die indifferente Landschaft der „endlosen Steppen des russischen Reiches“, wo seiner Meinung nach die „dunklen Schattenbilder einer neuen Völkerwanderung“ lauerten.91 Das gerodete Feld und den gezähmten Park erklärte er zu typischen Landschaften der Konkurrenznationen Frankreich und England, in denen aufgrund von Rationalisierung und Individualisierung nur noch ein „schon halbwegs ausgelebtes Volksthum“92 zu finden sei. Vergleichbar traditionswie zukunftslos war für ihn angesichts der umfangreichen Abholzungen seit römischer Zeit das zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht einmal als Nationalstaat existierende Italien.

Solchen in seinen Augen bereits übermäßig zivilisierten Gemeinwesen ordnete er stereotypisch ebenso die urbane und damit traditionsfeindliche Sphäre zu. Auf der arborealen Ebene warf Riehl Frankreich die „napoleonische Vorliebe für die Pappel“93 als Alleebaum vor, in der der militaristische und zentralistische Charakter des Nachbarlandes zum Ausdruck komme. Darin habe sich eine schon den Römern eigene Präferenz für gerade Straßenführungen gezeigt, während die Deutschen die Vielfalt gewundener Wege pflegten. Um 1800 sei diese Baumspezies dann als „Sinnbild der von außen her aufgedrungenen Centralisation“94 massiv in den von Frankreich kontrollierten deutschsprachigen Gebieten links des Rheines gepflanzt worden. Demgegenüber favorisierte Riehl die altehrwürdige Linde, die er den „volkthümlichsten deutschen Waldbaume“95 nannte und der Eiche klar vorzog – anders als etwa Klopstock, Arndt oder Eichendorff.

Bezogen auf das eigene Vaterland begriff Riehl den Gegensatz von Feld und Wald, dem er ein ganzes Kapitel seiner Ausführungen widmete, als „von größter Wichtigkeit für die sociale Ethnographie“96. Zwar betonte er einerseits die ökonomische Notwendigkeit von landwirtschaftlich genutzten Flächen, um indes andererseits gegen deren vollständige Vorherrschaft metaphorisch ein „Recht der Wildniß“97 zu reklamieren. Nur eine Aufrechterhaltung dieser grundlegenden naturalen Zweiteilung könne die Gewähr bieten, dass in der sozialen Sphäre die traditionellen Standesunterschiede weiter bestehen blieben. In der Angleichung von Feld und Wald, Stadt und Land, Proletarier und Bauer nach dem Vorbild Frankreichs sah er das eigentliche Ziel von Liberalismus und Revolution, die er aus diesem Grunde publizistisch und wissenschaftlich entschieden bekämpfte.

Für Riehl bewahrte die Baumnatur die „Kraft des natürlichen, rohen Volksthumes“98, was neben den deutschen ebenso für die russischen und amerikanischen Wälder gelte. Das ökonomische Potenzial der Forstwirtschaft war ihm nebensächlich gegenüber einer nationalmetaphysischen Bedeutung des Silvanen. So behauptete er apodiktisch, „auch wenn wir keines Holzes mehr bedürften, würden wir doch noch den Wald brauchen“ – denn „das deutsche Volk bedarf des Waldes wie der Mensch des Weines“.99 Eine kollektiverhaltende und sinnstiftende Funktion schrieb er auch anderen menschenfernen Naturräumen zu, wie zum Beispiel schroffen Küstenoder zerklüfteten Berglandschaften: „Das Meer hält Norddeutschland zusammen, wie die Hochgebirge den deutschen Süden.“100 Solche naturalen Jungbrunnen waren für ihn wie schon bei Arndt die Garantie, dass ein unverdorbenes und starkes Volk trotz zunehmend städtischer Lebensweise fortbestehen konnte.

Diesen grundlegenden Zusammenhang von Natur und Nation fasste Riehl in eine einprägsame Formulierung, die später zu seinen am häufigsten zitierten silvanen Stellen gehören sollte: „Wir müssen den Wald erhalten, nicht bloß damit uns der Ofen im Winter nicht kalt werde, sondern auch damit die Pulse des Volkslebens warm und fröhlich weiter schlagen, damit Deutschland deutsch bleibe.“101 Interessanterweise zeigt sich darin eine national wesentlich entschiedenere Diktion als in seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Zeitungsartikel Der Wald. Eine social-politische Studie (1852), in dem die letzten vier Worte des eben zitierten Satzes noch nicht enthalten gewesen waren. Dort hatte man auch die weniger exklusive Formulierung lesen können, die ganze „civilisierte Welt“102 statt nur das deutsche Volk sei auf den Wald gleich wie auf den Wein angewiesen.

In Riehls Denken lässt sich insgesamt die deutliche Tendenz feststellen, die segensreichen Wirkungen des Silvanen auf das eigene Kollektiv zu beschränken. So sah er das Ideal naturnaher Ungebundenheit zuallererst in einer unverbrüchlichen „deutschen Waldfreiheit“103. Diese beschwor er emphatisch als einen möglichst ungehinderten Naturzugang aller, um der „waldesfrischen Poesie nationaler Sitte“104 immer wieder Erholung wie Gesundung zu ermöglichen. Während Riehl 1848/1849 zumindest einige der politischen Forderungen unterstützt hatte, lehnte er danach die bürgerlichparlamentarische Freiheit rundheraus ab: Denn „was helfen den Engländern ihre liberalen Gesetze, da sie nur eingehegte Parke, da sie kaum noch einen freien Wald haben?“105 Gegenüber einer solchen vermeintlichen Naturferne anderer Nationen betonte Riehl für den deutschen Fall vielfach den silvanen Charakter von Land und Leuten.

Der deutsche Wald

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