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Waldnovellen und Waldlektüren

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Riehls vor allem im Kleinbürgertum viel gelesene Novellen interessieren hier nicht im Hinblick auf ihre literarische Qualität, sondern aufgrund der darin eingeschriebenen Denkmuster des Silvanen.120 Grundzüge seiner Weltanschauung aus dem sonstigen Werk finden sich ebenso in dieser kulturgeschichtlichen Textgattung, der sich Riehl nach der Naturgeschichte des Volkes verstärkt zuwandte. Das betrifft etwa das Ideal politisch-sozialer Stabilität von Land und Leuten, die Wichtigkeit von Familie und Stand, die Verherrlichung von Region und Nation sowie die Vorliebe für normative Kontrastierungen und anekdotische Evidenz.121 Im Einklang mit seinem deutschzentrierten Ansatz spielten alle diese mittlerweile kaum noch bekannten Thesennovellen im eigenen Kulturraum. Zeit der Handlung war für knapp die Hälfte das 17. und 18. Jahrhundert als ein von den revolutionären Erschütterungen noch verschontes Idyll, aber paradoxerweise thematisierte nur eine von ihnen das sonst so unermüdlich beschworene Bauerntum.122

Bezogen auf die Themenkomplexe Wald und Baum sind jedoch in erster Linie die in Riehls eigener Lebensperiode angesiedelten Geschichten relevant. Diese waren oft in den baumreichen Landschaften seiner Kindheit und Jugend verortet und beschrieben in Anlehnung an etablierte romantische Klischees dichte, dunkle und einsame Wälder.123 Schon der Titel Das verlorene Paradies (1879) ist bezeichnend für Riehls auch im wissenschaftlichen Werk vertretene Auffassung von der Stadt als naturfernem Lebensraum. Die autobiographisch grundierte Handlung kontrastierte „Lärm und Gedränge der engen Straßen“ etwa im Ruhrgebiet mit dem „Frieden unserer Wälder“ als einem Rückzugsraum für den Menschen.124 Für die frühere Novelle Die Lüge der Geschichte (1862) hatte er den Gegensatz von Stadt und Wald zusätzlich national unterlegt, indem er den Protagonisten zwischen französischer Lebensart in Paris und deutscher Tiefgründigkeit in der Baumnatur der Bayerischen Alpen schwanken ließ – womit er inzwischen etablierte Stereotype des urbanen Anderen und des ruralen Eigenen aufgriff.125

In einem Text namens Der Märzminister (1873) kam Riehl auf den Zusammenhang von Revolution und Wald zu sprechen, der ihn auch bei der publizistischen Auseinandersetzung mit den Ereignissen in seiner damaligen Heimat Hessen-Nassau beschäftigte. Dort klagte ein wegen seiner waldschützerischen Haltung von der neuen Regierung pensionierter Oberförster ganz im Sinne des Autors darüber, dass Wild und Holz nun den ökonomischen Begehrlichkeiten der breiten Massen schutzlos ausgeliefert seien. Als Gipfel der Unbotmäßigkeit gegenüber Autorität und Tradition hätten die revolutionären Protagonisten „die schönste junge Eiche gefällt und im Triumph zum Dorfe gefahren, und dort um dieselbe getanzt wie um einen Freiheitsbaum“126. Auf der arborealpolitischen Symbolebene präsentierte auch der sonstige Lindenfreund Riehl die Eiche als denjenigen deutschen Nationalbaum, der den naturfernen politischen Werten Frankreichs zum Opfer fiel.

Die Novelle Gespensterkampf (1862) schließlich hatte als Ort der Handlung ein baumumstandenes pfälzisches Schloss, das eine naturnahe und zugleich historisch aufgeladene Kulisse bot. Riehl ließ die auf Besuch befindliche jugendliche Berlinerin Charlotte dort inniglich äußern, es möge anstelle einer christlichen Kirche der einstige heilige Hain der Vorvergangenheit neu errichtet werden. Darin sei unbedingt eine Büste Klopstocks aufzustellen, der den „altdeutschen Urwald“127 in seinen Eichenund Hermann-Gedichten so unvergleichlich wiederbeseelt habe. Für deren Lektüre komme natürlich nur ein Ort in Frage, denn „unter deutschen Eichen und Buchen wollen wir uns in Germaniens und des Wodansbergs Urgeschichte zurückversenken, hier wollen wir Klopstocks Bardiete lesen“128.

Eine solche Engführung von Wald und Literatur zeigt sich gleichfalls an verschiedenen Stellen von Riehls autobiographisch geprägten Texten. Begeistert schilderte er einmal seinen und seiner Schulkameraden Zeitvertreib, in der Phantasie auf den Spuren der erlesenen Heroen „in den Urwäldern Amerikas und in altdeutschen Eichenhainen“129 unterwegs zu sein. Auch würdigte er retrospektiv einen Lehrer, der Goethe auf einem Eichbaum sitzend gelesen habe und so nicht nur für die Klopstock-Lektüre zum Vorbild geraten sei: „Wo ich in Waldesnähe lebte, blieb ich der Gewohnheit treu, das Beste im Walde zu lesen, und wenn ich etwas besonders Gutes schreiben wollte, ging ich gleichfalls in den Wald.“130 Das Assoziationspotenzial einer engen Verbindung von Inhalt und Ort der Lektüre sollte manchen späteren Adepten Riehls wie zuvor einigen Anhängern Eichendorffs nicht verborgen bleiben.131

Überdies berichtete Riehl in stilisierten Darstellungen einzelner Abschnitte seines Lebens von jugendlichem „Umherschweifen in Feld und Wald“, das sich später in Form wiederholter Flucht aus der „Stubenluft“ von Residenz und Universität zur Welt der Bäume und Burgen fortgesetzt habe.132 Die veröffentlichten Berichte von seinen Wanderungen schließlich enthalten zahlreiche Schilderungen silvaner Erhabenheit, in denen, wie zu erwarten, die Rede war vom „geheimnisvollen Zauber deutscher Waldnatur“, vom „lauschigsten Waldesdunkel“ oder von „tiefster Waldeinsamkeit“.133 Er bezog sich in solchen Formulierungen auf die längst zum sinnentleerten Gemeinplatz gewordene Wortschöpfung Tiecks, allerdings waren Riehls imaginierte Volkswälder unberührt von jeglicher Ambivalenz und Selbstironie. Ähnlich eindeutig verstand er die Waldnatur als Garanten ständischer Gliederung und als Vorbild gesellschaftlicher Ungleichheit.

Der deutsche Wald

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