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Waldland und Waldkultur

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Gemäß Riehls klimatheoretisch fundiertem Volksverständnis prägte die „Physiognomie“106 der Landschaft den Kollektivcharakter der in ihnen wohnenden Gruppen. Am deutschen Beispiel unterschied er vor allem zwischen den Kategorien von „Weinland“ und „Waldland“.107 Auf der nachgeordneten individuellen Ebene war für ihn „der ausstudierte Städter, der feiste Bauer des reichen Getreidelandes“ der negativ konnotierte Menschentyp, zu dem „der armselige Moorbauer, der rauhe, zähe Waldbauer“ die positive Kontrastfolie bildete.108 Während die Einwohner der fruchtbaren Gegenden sich bereits weitgehend und die der Städte vollkommen von den traditionellen Lebensweisen entfernt hätten, seien diese unter den „Waldmenschen“109 in ihren kargen Landstrichen noch vergleichsweise ursprünglich erhalten geblieben – ebendort hatten schon die Brüder Grimm angesichts der voranschreitenden Moderne die letzten Rückzugsräume der altehrwürdigen Volksüberlieferung gesehen.

Entscheidend war in diesem Zusammenhang neben dem silvanen Aspekt die vertikale Dimension, da Riehl aus der jeweiligen Höhenlage unmittelbar auf die Vitalität des dort siedelnden Menschenschlages schloss. Die Kraft zur Erneuerung und Verjüngung des Volkes lokalisierte er vor allem in den baumbestandenen Landschaften der Mittelgebirge, die sich jenseits von Stadt und Flachland erstreckten: Denn, wenn „die Mittagssonne der Civilisation die Ebenen bereits versengt hat, dann wird von den culturarmen Berg- und Hochländern der Odem eines ungebrochenen naturwüchsigen Volksgeistes wie Waldesduft wieder erfrischend über sie hinwehen“.110 Damit korrespondierten wildes Land und unverdorbene Leute unmittelbar miteinander und boten nur in dieser Verschränkung die Gewähr für Erhalt und Erneuerung von Wald wie Volk.

Daher dürfe die Baumnatur nicht, wie zu seinen Lebzeiten zu befürchten, vollständig den ökonomischen Interessen unterworfen werden, weil sonst lediglich ein „nach Maß und Elle abgegrenzter, vom Beil verwüsteter forstculturlicher Wald“111 übrig bleibe. Im Gegensatz zu den germanischen Urwäldern der Vergangenheit könnten solche künstlich angelegten Holzfabriken die silvane Jungbrunnenfunktion keinesfalls dauerhaft sicherstellen – damit betonte Riehl stärker als Arndt den auch von den Brüdern Grimm verfochtenen Wildnisaspekt der Silvanatur. Anmerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Riehls Mutter für den Sohn statt einer lange unsicheren Existenz als Journalist und Wissenschaftler den ehrbaren Beruf des Försters vorgesehen hatte.112 Riehl sah aber, abweichend von der forstlichen Lehre, im Wald weit über den materiellen Aspekt hinaus „nicht bloß Bäume, sondern vor allen Dingen auch Wildniß und Freiheit“113. Wie zwischen Feld und Wald beabsichtigte er auf lange Sicht, einen landschaftlichen Ausgleich zwischen ökonomischem Nadelforst und organischem Laubwald zu erreichen. Ihm ging es dabei aber genauso wenig wie Arndt um protoökologische Schutzmaßnahmen zugunsten des Waldes, sondern um die Wiederherstellung eines gesunden Einklanges der wirtschaftlichen und spirituellen Notwendigkeiten.114

Ferner unterstrich Riehl mehrfach den großen Einfluss, den die jeweiligen landschaftlichen Umgebungen auf die kulturellen Leistungen der entsprechenden dort lebenden Bevölkerungsgruppen ausübten. So galt ihm der Wald schlicht als „Heerd der volksthümlichen Kunst“115, was weniger ausgeprägt für weitere naturbelassene Landschaftsstriche wie etwa Heiden, Küsten oder Moore zutreffe. Diesen vorwiegend silvanen Einfluss versuchte er mit verschiedenen Rückgriffen auf die deutsche Kulturgeschichte zu belegen, unter anderem am Beispiel waldbezogener Ortsnamen, Handwerksbräuche oder Bestattungssitten. Seit germanischer Zeit habe sich die deutsche Baumverbundenheit auch in einer Tradition kollektiven statt individuellen Forsteigentums ausgedrückt, sodass es im Gegensatz zu den agrarischen Flächen immer noch viele Wälder im Besitz von Gemeinden oder Genossenschaften gebe.

Speziell der Malerei widmete sich der Aufsatz Das landschaftliche Auge (1850), mit dem Riehl die Landschaft als kulturhistorisches Thema zu etablieren half und der aus gegenwärtiger Sicht fast schon konstruktivistisch zu nennende Perspektiven aufzeigt. Dort führte er zunächst aus, dass die zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen von Natur trotz deren grundsätzlich gleichbleibenden Charakters wandelbar seien. Dies habe wiederholte kulturbedingte Wechsel der „Landschaftsanschauung“116 zur Folge, wenn etwa die von der Klassik bevorzugten lieblichen Ebenen und Haine in der Romantik zugunsten schroffer Berge, verfallener Burgen und wilder Wälder aus der künstlerischen Mode gerieten. Die Schönheit des Waldes hätten die Menschen indes erst mit einigem räumlichen und mentalen Abstand wirklich erkennen und schätzen können – nämlich „als sie ihm fremder geworden waren und er selber zu verschwinden begann“117.

Für seine Gegenwart wollte Riehl eine kulturelle Rolle des Silvanen unter anderem am Beispiel des baumumstandenen Niederwalddenkmals belegen, das an die Gründung des Deutschen Reiches im Krieg gegen Frankreich erinnern sollte und 1883 eingeweiht worden war. Die Germania-Figur des am Rhein gelegenen Nationalmonuments stehe, von Eichenlaub bekränzt, selbstsicher und gleichzeitig kampfbereit am Waldrand, ebenso „wie weiland das deutsche Volk aus seinen Wäldern trat“118. Auch müsse angesichts der liberalen Verfehlungen der vergangenen Jahrzehnte das Gemeinwesen der „Bärenhäuter in den germanischen Urwäldern“119 wieder eine Vorbildfunktion für die politische Kultur der Zeit bekommen. Eine solche kulturschöpferische Rolle imaginierter Waldnatur blieb nicht nur abstrakte Theorie, sondern äußerte sich auch konkret in einigen novellistischen wie autobiographischen Texten Riehls.

Der deutsche Wald

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