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Kampf oder Flucht

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Wir leben in einer Welt, in der unsere Seelen viel zu oft in Alarmbereitschaft sind. Das Leben ist komplex geworden, die Anforderungen sind überwältigend. Ständig wechseln wir die sozialen Settings, laufend wird ein anderes Verhalten von uns verlangt. Dazu begleiten wir unzählige Menschen gleichzeitig durch traumatische Erfahrungen. Auch die Geräusche der Stadt erhöhen den Stresspegel rund um die Uhr, die dröhnenden Bässe aus dem Auto, das vier Fahrspuren neben uns unterwegs ist, lässt unseren ganzen Körper vibrieren. Es klingt alarmierend, bedrohlich wie entferntes Gewehrfeuer.

Dank Smartphone und Internet strömt Tag für Tag eine Flut von Informationen auf uns ein, in einem Ausmaß, wie es sich frühere Generationen nie hätten vorstellen können. Und diese Informationen sind nicht neutral, man präsentiert uns das Leiden des gesamten Planeten. Von morgens bis abends werden uns im Minutentakt Katastrophen gemeldet. Bedenkt man dann noch, in welchem Tempo wir leben müssen, gibt es selten Situationen, in denen wir tief durchatmen können, entspannt seufzen und spüren, dass wir sicher sind. Das Seufzen fehlt uns – und die Erfahrung, die damit verbunden ist, auch.

Wir leben geistlich und emotional unter den gleichen Bedingungen wie die wilden Pferde, die im späten Pleistozän über die weite Prärie jagten.

Heute Morgen kann ich nicht wirklich feststellen, ob meine Seele eher im Kampf- oder im Fluchtmodus ist. Auf jeden Fall ist mein Zustand unangenehm. Gestern Abend konnte ich wieder einmal nicht einschlafen. Das Abschalten fiel mir schwer, nachdem tagsüber ununterbrochen so viel auf mich eingestürmt war. Als ich endlich zur Ruhe kam, war es so spät, dass ich heute Morgen verschlafen habe. Seither werde ich das Gefühl nicht los, wichtige Dinge zu verpassen oder zu vergessen.

Zum Frühstücken fehlte heute Morgen natürlich die Zeit, und als meine Frau mir noch irgendetwas sagen wollte, war ich viel zu hektisch unterwegs, um ihr zuzuhören. Ich schnappte mir ein Brötchen und stürmte aus dem Haus – wichtige Besprechungstermine erwarteten mich. Seither fühle ich mich unsicher und unausgeglichen. Ich kenne den Zustand und mag es gar nicht, wenn ich so bin. In dieser Verfassung bin ich schnell genervt und reagiere anders als sonst. An solchen Tagen ist es mir auch fast unmöglich, Gottes leise Stimme zu hören. Das Gefühl, nicht mehr in der engen Verbindung mit ihm zu stehen, ist das Schlimmste dabei.

Dann rede ich mir ein: Essen würde jetzt helfen. Ich brauche etwas Süßes, Gehaltvolles, dann wird es mir bestimmt gleich besser gehen. Wenn ich innerlich so aus dem Gleichgewicht geraten bin und mir alles zu viel wird, suche ich unwillkürlich nach Möglichkeiten, mein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Das ist normal. Diese seelische Schräglage ist unangenehm und wir sind froh, wenn wir einen „Stoff“ finden, der uns wieder stabilisiert. Ich frage mich, ob nicht die meisten Abhängigkeiten so ihren Anfang nehmen – auf der Suche nach ein bisschen Erleichterung, einem schnell wirksamen Trost.

Wir leben in einer Welt, die einen wirklich verrückt machen kann. Was stürmt da nicht alles auf uns ein, pausenlos, mit ungeheurer Wucht? Sind wir nicht von morgens bis abends überlastet? Immer seltener finden wir Zeit für die Dinge, die uns guttun würden – entspanntes Plaudern, ziellos durch den Park streifen, in Ruhe kochen und essen. Das passt in der Regel einfach nicht in unseren Tag. Ganz ehrlich, ich glaube, die meisten von uns führen ihr alltägliches Leben in einem Zustand irgendwo zwischen Dauerstress und absoluter Überlastung.

Erst am späten Vormittag finde ich endlich Zeit für das, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen: Ich gönne mir eine Pause. Tief durchatmen und mich wieder auf Gott und mich selbst besinnen. Meine Atemzüge werden langsamer und gleichmäßiger. (Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich immer wieder mit angehaltenem Atem unterwegs gewesen war.) Das Gefühl, zwischen den Aufgaben eingekeilt zu sein, lässt nach, als würde ich von der Enge in die Weite treten. Das tut gut!

Genau in dem Moment geht vor meinem Fenster ein Laubbläser los. Dieser Tiefpunkt des menschlichen Erfindungsgeistes, der Todfeind von Ruhe und Entspannung, löst sofort wieder die ganze Anspannung aus. Meine Muskeln verhärten sich. Da ich gerade ganz ruhig war, kann ich genau beobachten, wie sich mein Körper und meine Seele verändern. Der Krach des Laubbläsers und all die anderen, ganz normalen Reize unserer verrückten Welt schrecken uns immer wieder auf und lassen keine dauerhafte Entspannung zu.

Kleine Testfrage: Wie geht es Ihnen jetzt gerade? Sind Ihre Muskeln locker oder sind Sie angespannt? Sind Ihre Atemzüge tief und ruhig oder flach und hektisch? Genießen Sie das Lesen oder haben Sie das Gefühl, schnell durch das Buch kommen zu müssen? Die meiste Zeit des Tages werden wir von unzähligen Aufgaben und Pflichten gejagt, haken Punkte auf unseren To-do-Listen ab und haben Dinge zu erledigen. Weil das so anstrengend ist, greifen wir dankbar nach allem, was für uns ein Seelentröster oder Nervennahrung ist. Natürlich ist uns dabei klar, dass Kaffee und Kuchen unsere Lage nicht wirklich verbessern können. Seufzend stehe ich auf und schließe das Fenster, um mich wenigstens ein bisschen vor dem Getöse da draußen zu schützen. Dann versuche ich es erneut:

Ich lege eine Mini-Pause ein.

Sie dauert nur etwa sechzig Sekunden. Ich habe gelernt, für diese kurze Zeit wirklich zur Ruhe zu kommen.

Das Loslassen ist dabei der erste Schritt. Bewusst lege ich die Themen zur Seite, die in den Besprechungen heute Morgen behandelt wurden, auch die Dinge, die jetzt als Nächstes anstehen, zusammen mit dem Gefühl, in allen Bereichen im Rückstand zu sein. All das lasse ich ganz bewusst los, indem ich bete. Jesus, ich gebe dir jetzt alle Menschen und Themen. Dieses Gebet wiederhole ich so lange, bis ich wirklich spüre, dass ich die Dinge innerlich abgegeben habe. Gott, ich gebe dir alle Menschen und Themen.

Mein Ziel ist dabei nicht, irgendwelche Dinge oder Personen grundsätzlich und für immer loszulassen. Das wäre etwas für Fortgeschrittene, was nur die wenigsten von uns schaffen. Es geht mir nur um den kurzen, vorübergehenden Moment des Luftholens, nur eine Minute lang. (Das ist der Trick: Für eine so kurze Zeit kann man eigentlich immer alles loslassen.) Während ich alles an Gott abgebe und das auch laut ausspreche – ich gebe dir alle Menschen und Themen –, wird meine Seele ruhig. Die Anspannung löst sich.

Und dann seufze ich sogar, dieses ganz bestimmte, tiefe, schöne Seufzen.

Im nächsten Schritt bitte ich Gott um seine Nähe: Jesus, ich brauche mehr von dir. Erfülle mich noch mehr mit dir selbst, lass uns wieder ganz eng verbunden sein, dein Leben soll in mir pulsieren.

Es ist erstaunlich, wie viel sich in einer einzigen Minute verändern kann. Man kann so eine kleine Pause eigentlich immer und überall einlegen – am Steuer, im Zug, nach einem Telefongespräch. Das ist für jeden machbar, egal wie gestresst man ist. Die Übung ist wirklich einfach, aber in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen. Je öfter wir sie machen, desto größer ist der Effekt.

David hat diese Pausen vermutlich auch gekannt, denn er beschreibt den Effekt so: „Ich habe meine Seele besänftigt und beruhigt.“ Oder in anderen Worten: „Ich bin zur Ruhe gekommen, mein Herz ist zufrieden und still“ (Psalm 131,2 Hfa). Wie viele Leute in unserem Büro, im Fitnessstudio oder im Stau des Feierabendverkehrs können von sich sagen, dass sie ihre Seele besänftigt und beruhigt haben? Unser ganz normaler, alltäglicher Lebensstil ist das Gegenteil dessen, was die Seele eigentlich braucht und wofür Gott sie geschaffen hat. „Das weite Tor und der breite Weg führen ins Verderben, und viele sind auf diesem Weg“ (Matthäus 7,13).

Wir können unsere Welt nicht ändern und die Entwicklung nicht aufhalten. Stress und Überforderung sind unsere Realität. Unter diesen Bedingungen müssen wir unsere berufliche Laufbahn gestalten und es ist auch das Setting, in dem unsere Kinder aufwachsen. Wir können dem nicht grundsätzlich entfliehen, aber wir können lernen, immer wieder zurückzutreten und kleine Auszeiten einzulegen. Dafür müssen wir Methoden entwickeln, die einfach umzusetzen sind. Die Mini-Pause ist ein guter, erster Schritt. Wir können für einige wenige Sekunden in die Ruhe eintreten, die nötig ist, damit Gott unsere Seele berühren kann.

Die Wüstenväter im dritten und vierten Jahrhundert waren ein bunter Haufen mutiger Leute, Nachfolger Jesu, die dem Wahnsinn ihrer Welt entflohen waren, um in der Stille ein Leben der Schönheit und Einfachheit mit Gott zu suchen. Sie lebten in der Wüste, weil sie ihre Welt damals als „ein untergehendes Schiff“ bezeichneten, von dem jeder, der nicht mit in die Tiefe gerissen werden wollte, so schnell wie möglich wegschwimmen sollte.9 Man stelle sich das vor: Damals gab es noch keine Smartphones, kein Internet, überhaupt keine Medien, nicht ein einziges Auto, kein Fast Food und keine Laubbläser. Die einzigen Nachrichten, die man erfuhr, stammten aus dem eigenen Dorf, das Leid der restlichen Welt kannte niemand. Man ging grundsätzlich zu Fuß, entsprechend bewegte man sich mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Stundenkilometern (!) fort. Doch auch unter diesen Bedingungen hatten die Leute das Gefühl, ihnen wird zu viel Kraft geraubt, und sie kamen zu der Einsicht, dass sie selbst etwas ändern und aus ihrer Welt heraustreten mussten.

Im Gegensatz dazu leben wir in einer absolut wahnsinnig gewordenen Welt. Wer heute mit Gott zusammen einen guten Lebensstil entwickeln will, dem können die Übungen, die ich im Folgenden vorstelle, eine Anregung sein. Es wäre ja schon eine Hilfe, wenn unser Alltag in Ruhe ablaufen würde und wir nicht immer so gestresst und übernächtigt wären.

Wo die Seele atmen kann

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