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Eine Minute Pause machen

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Unsere Pferde sind heute sehr unruhig. Mit gewölbtem Nacken, erhobenem Schweif und nervös schnaubend rennen sie wie wild über die Koppel. Etwas hat sie in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Ich bin mir ziemlich sicher – in der Nacht muss ein Löwe in der Nähe gewesen sein.

Meine Frau und ich haben im Moment zwei Pferde, eines davon ist ein sogenannter Pinto. Es ist ein prächtiges Tier, braun-weiß gescheckt, mit weißer Mähne und schwarzem Schweif. Wer den Westernfilm Silverado gesehen hat, weiß, was ich meine – das Pferd, das Kevin Costner dort reitet, sieht ganz ähnlich aus. Die Indianer fanden diese Schecken so schön, dass sie tatsächlich ihren einfarbigen Pferden Flecken aufs Fell malten.8

Unser zweites Pferd ist ein Brauner mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif. Sein Fell ist so dicht und glänzend, dass es an einen Biberpelz erinnert. Früher hatten wir insgesamt acht Ponys, aber als unsere Söhne nach und nach das Elternhaus verließen, reduzierten wir den Bestand, bis unsere Herde immer überschaubarer wurde. Heute sind uns selbst die zwei Pferde fast schon zu viel.

Pferde sind kraftstrotzende, beeindruckende Wesen, aber das ist ihnen selbst gar nicht bewusst. Sie wissen um ihre Verletzlichkeit. Als Beutetiere nehmen sie, ähnlich wie Elche und Hirsche, ihre Welt auf ganz bestimmte Weise wahr. Sie sind immer auf der Hut, immer bereit zur Flucht. Egal ob sie in den Weiten Nordamerikas oder in Europa leben: Sie wissen um die Gefahr, die ihnen von den großen Raubtieren droht, deren Nahrung sie sind.

Im späten Pleistozän waren die endlosen nordamerikanischen Steppen das Jagdrevier riesiger Löwen, die viel größer waren als ihre afrikanischen Verwandten. Mit ihnen konkurrierten verschiedene Arten von Geparden, tonnenschwere Riesenfaultiere, blutrünstige Wölfe, gefräßige Kurznasen-Bären und eine ganze Schar weiterer superschneller Raubtiere. Unter diesen Lebensbedingungen erwarben die Pferde ihr nervöses, leicht zu verunsicherndes Wesen. Wenn sie sich zwischen Kampf und Flucht entscheiden müssen, dann wählen sie die Flucht.

Den Sommer verbringen meine Frau und ich immer in unserem Ferienhaus im Westen Colorados, die Pferde nehmen wir mit. Dort gibt es auch heute noch eine Menge Raubtiere – ganze Rudel von Kojoten leben dort, dazu Schwarzbären, Rotluchse und andere Luchsarten. Berglöwen gibt es auch. Sehr viele sogar. Einmal ritt ich durch die Landschaft, als mein Pferd aus heiterem Himmel in Panik geriet. Vermutlich hatte es plötzlich einen Löwen gewittert. Es war gar kein Löwe in der Nähe, aber die männlichen Tiere hatten dort wohl ihr Revier markiert. Mein Pferd explodierte förmlich unter mir, ich landete im Dreck und das Pferd war weg.

Raubtiere nutzen den Schutz der Nacht. Für die Pferde bedeutet das, in der Dunkelheit besonders aufmerksam sein zu müssen. Wollen wir am Morgen mit ihnen ausreiten, müssen wir sie zuerst beruhigen. Wir führen sie am Halfter, als würden wir den Acker pflügen – so lange, bis sie sich innerlich auf uns eingestellt haben und wieder ruhig und sicher sind. Ist dieser Zustand erreicht, stoßen sie einen wunderbaren Seufzer aus. Aus ihren großen Nüstern kommt ein tiefer, langer Schnaufer. Gleichzeitig entspannt sich ihre Muskulatur und sie senken den Kopf. Sie haben ihre Wachsamkeit aufgegeben, die Alarmbereitschaft abgeschaltet. Ich liebe diesen Moment. Wer mit Pferden zu tun hat, kennt dieses Seufzen und wünscht sich so oft wie möglich diesen Zustand bei seinem Tier.

Auch Menschen können so seufzen, wenn sie an einem sicheren Ort gut angekommen sind.

Ich denke, Sie kennen das von sich. Nach einem langen Tag kommt man nach Hause, kickt die Schuhe in die Ecke, schnappt sich etwas zu trinken, vielleicht noch eine Tüte Chips, lässt sich in den Lieblingssessel fallen und zieht sich eine Decke über die Beine. Das ist der Moment, in dem dieses tiefe Seufzen aufsteigt.

Auch in besonders schönen Augenblicken seufzen wir so – am Strand bei Sonnenuntergang oder wenn der Wanderweg plötzlich den Blick auf einen Bergsee freigibt, der unbewegt wie ein glänzender Spiegel vor uns liegt. Überwältigt von der Schönheit der Natur atmen wir tief durch. So ein Moment ist wie ein tiefer Trost. Alles ist gut. Manchmal stoßen wir diesen langen Seufzer auch aus, wenn wir uns an eine kostbare Wahrheit erinnern. Wir lesen einen Satz, der uns sagt, wie sehr Gott uns liebt. Dann lassen wir das Buch sinken, lehnen uns zurück und atmen auf, während die Seele Trost empfängt. Erst heute Morgen ging es mir so.

Gut, wenn wir so seufzen können. Es zeigt, dass wir zur Ruhe gekommen sind und den Alarmzustand hinter uns gelassen haben.

Wo die Seele atmen kann

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