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Wohltuenden Abstand gewinnen

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Dieses Buch soll uns dazu anleiten, Gott mehr Raum zu geben, damit sich mehr von seinem wunderbaren Wesen in uns entfalten kann und wir dadurch widerstandsfähiger und belastbarer werden. Bestimmte Verhaltensweisen wie das Einlegen von Mini-Pausen helfen uns dabei. Aber es gibt auch andere, mehr innerlich angesiedelte Möglichkeiten, um diesem Ziel näher zu kommen.

Bevor Gott unser Inneres erfüllen kann, müssen wir dort erst einmal Platz schaffen. Manchmal ist unsere Seele wie eine Krimskrams-Schublade im Küchenschrank. Ich glaube, viele Familien haben so eine Schublade in der Küche. Sie funktioniert wie ein schwarzes Loch, in dem Autoschlüssel, Stifte, Büroklammern, Gummiringe und all die nützlichen kleinen Dinge landen, die sich in einem Haushalt ständig wie Strandgut ansammeln.

Die Seele funktioniert ähnlich wie diese Schublade, auch sie zieht Ballast an wie ein Magnet. Schon Augustinus sagte, wir müssten innerlich leer werden von dem, was uns füllt, damit wir erfüllt werden können von dem, woran wir Mangel haben. „Gieß aus, auf dass du erfüllt werdest.“

Seit Jahren suche ich nach immer neuen Wegen, wie ich meine Seele entrümpeln kann, und habe dabei nichts Effektiveres gefunden, als Dinge loszulassen und wohltuenden Abstand zu gewinnen. Ich lege die schweren Themen ab, lasse sie zurück, gehe weiter – nicht wörtlich, nicht im Sichtbaren, sondern im Unsichtbaren; ich entferne mich emotional, seelisch.

Ich möchte darauf etwas näher eingehen. Das Ziel ist also, Dinge, die uns belasten, loszuwerden, an Gott abzugeben und sie dann auch bei ihm zu lassen. Die Gefahr, dass wir im Gewirr des Alltags den Überblick verlieren, ist groß. Dann vergessen wir, Grenzen zu setzen, und lassen uns von anderen bestimmen, statt in aller Freiheit selbst zu entscheiden, was für uns gut ist. Wenn das in zwischenmenschlichen Beziehungen passiert, sprechen Psychologen von emotionaler Koabhängigkeit.

Wenn ein Kind in seiner Entwicklung Beziehungen erlebt, die von emotionaler Koabhängigkeit geprägt sind, kann das zur Folge haben, dass sich das Kind weder körperlich noch emotional der eigenen Bedürfnisse bewusst wird. Die Grenzen zwischen angemessener Empathie (sich mit den Gefühlen oder Problemen einer anderen Person identifizieren und sie verstehen) und einer ungesunden, übermäßigen Identifizierung (zu enge Verschmelzung mit einer anderen Person) verschwinden.10

Reife Erwachsene haben gelernt, zwischen sich selbst und dem, worin sie sich zu sehr verstrickt haben, eine gesunde Distanz herzustellen. Sie können sich von den Problemen lösen, können innerlich loslassen und dem gedanklichen Sog entfliehen. Egal ob es sich um die Nöte lieber Menschen handelt, um Konflikte in zwischenmenschlichen Beziehungen, persönliche Katastrophen oder globale Krisenherde – im Idealfall können wir diese Themen immer wieder abschütteln und uns anderen Dingen zuwenden. Wir ziehen den Klettverschluss auseinander. Dabei ist es egal, wie die unheilvolle Haftung entstanden ist, ob die Probleme sich auf unsere Seele gelegt haben – oder ob unsere Seele sich mit den Problemen verbunden hat.

Die sozialen Medien überfrachten uns mit negativen Schlagzeilen und wir sind in Gefahr, innerlich abzustumpfen. Das meine ich aber nicht, wenn ich von innerer Distanz spreche. Das Loslassen, das ich meine, hat nichts mit Resignation, Sarkasmus oder Zynismus zu tun. Die Distanz, um die es mir geht, ist von Liebe und Freundlichkeit umgeben. Jesus lädt uns zu einem Lebensstil ein, bei dem wir wie selbstverständlich alle Lasten und Sorgen immer direkt an ihn weiterleiten – mit einer Gelassenheit, die in dem Wissen gründet, dass er sich darum kümmern wird.

„Kommt zu mir, ihr alle, die ihr euch plagt und von eurer Last fast erdrückt werdet; ich werde sie euch abnehmen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig. So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn das Joch, das ich auferlege, drückt nicht, und die Last, die ich zu tragen gebe, ist leicht.“ (Matthäus 11,28-30)

Bist du müde? Ausgelaugt? Hast du genug von toter Religion? Mach dich mit mir zusammen auf den Weg, dann wirst du dein Leben zurückgewinnen. Ich werde dir zeigen, wie man sich richtig ausruht. Lebe mit mir und arbeite mit mir – und schau mir zu, wie ich es mache. Von mir lernst du, wie entspannt man aus Gnade leben kann. Ich werde dir keinen Druck machen und nichts von dir verlangen, was nicht zu dir passt. Bleibe einfach in meiner Nähe, dann wirst du lernen, frei und unbeschwert zu leben. (Matthäus 11,28-30, frei nach der englischen „Message“-Übersetzung)

Ist Ihnen etwas aufgefallen? Jesus spricht hier davon, dass die Last „leicht“ ist, dass wir „frei und unbeschwert“ leben können. Sein guter Freund Petrus wiederholt das später in einem seiner Briefe.

Ladet alle eure Sorgen bei Gott ab, denn er sorgt für euch.

(1. Petrus 5,7)

Lebt sorglos vor Gott, er geht sehr vorsichtig mit euch um.

(1. Petrus 5,7, frei nach der englischen „Message“-Übersetzung)

Sorglos? Er bietet uns ein sorgloses Leben an? Ich liebe es, sorglos zu sein. Mitten im Urlaub fühle ich mich manchmal so, jetzt gerade auch, während ich alleine durch die Steppe fahre, ohne Aufgaben, ohne Verantwortung, ohne Termine, immer nur der Straße folgend, Richtung Norden.

Suchen nicht alle Menschen nach diesem unbekümmerten Zustand? Was tun wir nicht alles, um uns wenigstens vorübergehend unbeschwert und frei zu fühlen? Wer seiner Realität entflieht, indem er am PC in die virtuelle Welt eintaucht und in eine andere Rolle schlüpft, wer Substanzen konsumiert, um eine Zeit lang alles Belastende zu vergessen – ist er nicht auch ein Mensch, der das sorglose Leben sucht?

Auch der immense Erfolg des Buches „Nein sagen ohne Schuldgefühle: Gesunde Grenzen setzen“ von Henry Cloud und John Townsend ist ein Beleg dafür, dass wir versuchen, Lasten abzuschütteln und uns aus ungesunden Bindungen zu lösen. Jeder sucht auf seine Art nach Möglichkeiten, um sich von Dingen zu distanzieren, die ihm das Leben schwer machen.

Oder denken wir an das Lied „Let It Go“ aus dem Film „Die Eiskönigin – völlig unverfroren“ aus dem Jahr 2013. Weltweit sangen junge und nicht mehr ganz so junge Mädchen dieses Lied. Mir selbst wurde erst klar, welche Reichweite und Bedeutung dieser Song hat, als er uns von der neunjährigen Tochter unserer Nachbarn beim Abendessen vorgetragen wurde. Sie ist eine selbstbewusste kleine Persönlichkeit und anders als viele ihrer Altersgenossen schert sie sich nicht darum, was gerade in ist. Aber sie konnte den gesamten Text des Liedes Wort für Wort auswendig. Das kann man sich unmöglich merken, wenn man den Film nur einmal gesehen hat.

Falls Sie den Walt-Disney-Streifen nicht kennen: Elsa, die junge Prinzessin eines nordischen Königreiches, hat besondere Kräfte, die vielleicht auch die Folgen eines Fluches sind. Es ist wie beim Midas-Effekt, nur dass alles, was sie berührt, zu Eis wird. (Der griechischen Mythologie zufolge kann Midas mit seiner Berührung alles in Gold verwandeln.) Jahrelang wird Elsa weggesperrt, weil sie keine Kontrolle über ihre gefährlichen Kräfte hat.

Dann kommt das große Fest ihrer Thronbesteigung, das Schloss wird für das Volk geöffnet und prompt werden Elsas besondere Fähigkeiten sichtbar. Entsetzt flieht sie in die Berge, aus Scham und auch aus Angst davor, anderen unabsichtlich zu schaden. An der Stelle singt sie dieses Lied, das weltweit bekannt geworden ist. Darin verkündet sie ihren Entschluss, nie wieder jemanden in ihre Nähe kommen zu lassen, sondern in vollkommener Einsamkeit ein isoliertes Reich zu regieren. Anscheinend macht ihr das auch gar nichts aus. Let it go. Egal, es spielt keine Rolle. Hauptsache, sie ist endlich sorglos und frei.

Natürlich ist diese Sorglosigkeit nicht echt. Die Verfassung ihrer Seele ist alles andere als unbekümmert, sie ist ein junges Mädchen, das vor seinen Verletzungen wegläuft und dem seine Situation sehr zusetzt. Wie ein wildes Pferd auf der Flucht. Das Lied beschreibt keine heilsame Distanzierung, sondern eine verzweifelte Ausweglosigkeit.

Eigentlich hätte das Lied einen anderen Titel haben müssen, zum Beispiel „Ich verschließe mein Herz“. Es geht nicht wirklich ums Loslassen, eher ums Einmauern. Sogar im wörtlichen Sinn. Während sie singt, baut sie um sich herum eine Burg aus Eis, und als das Lied seinen musikalischen Höhepunkt erreicht, ist die kalte Festung, die Elsa künftig bewohnen wird, fertig. Ganz allein wird sie hier leben. Das ist keine gute Form des Loslassens, hier wird keine gesunde Distanz aufgebaut. Elsas Lied ist wütend und trotzig. Trotzdem hat es so viele Menschen berührt.

Das Buch von Mark Manson, das 2017 unter dem deutschen Titel „Die subtile Kunst des Daraufscheißens“ erschien, geht in dieselbe Richtung. Ich entschuldige mich für die derbe Wortwahl. Aber das Buch dieses unbekannten Autors hat sich extrem gut verkauft, in den USA ging es millionenfach über den Ladentisch. Das macht mich neugierig. Der Autor beschreibt einen Schmerz, den jeder Mensch in sich trägt, und meint seinen Titel gar nicht zynisch. Seine Hauptaussage ist vielmehr, dass wir uns nicht ständig in alles Leid der Welt hineinversetzen können. Millionen von Menschen fühlen sich offensichtlich massiv überfordert und suchen nach einem Weg, der emotionalen Belastung zu entkommen.

Genau das ist Jesu Spezialgebiet, in dem Bereich kann er wunderbar helfen. Wenn wir von ihm lernen, wie wir unsere Lasten ablegen können, nicht sarkastisch und verbittert, sondern mit einer positiven, liebevollen und freundlichen Herzenshaltung, dann empfangen wir die Gnade, die unsere Seele so dringend braucht.

Wo die Seele atmen kann

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