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Die Kraft der Schönheit

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Auf meiner Reise durch Wyoming und Montana kam ich zum Yellowstone-Nationalpark, für mich einer der schönsten Orte der ganzen Welt. Auch wenn ich die Menschenansammlungen dort nicht wirklich mag, ich habe einen einfachen Weg gefunden, wie ich den vielen Besuchern entkommen kann. Man muss sich nur einen halben Kilometer von den ausgetretenen Pfaden entfernen, schon hat man diese nahezu unendliche Wildnis ganz für sich allein. Doch ich wollte auch die Stelle aufsuchen, wo der Yellowstone-River in den Grand Canyon des Yellowstone-Parks stürzt. Dafür musste ich mich dann doch unter die vielen anderen Wasserfall-Besucher gesellen.

Es gibt von Thomas Moran (1837–1926), einem Maler, der 1871 unter der Leitung des Geologen Ferdinand Hayden an einer Expedition durch den Westen der USA teilnahm, herrliche Skizzen und Aquarelle des Yellowstone-Nationalparks. Einem Monumentalbild von ihm gelang es damals, den Kongress davon zu überzeugen, dass diese Landschaft schützenswert ist. So entstand 1872 der erste US-amerikanische Nationalpark.

Verschiedene Aussichtspunkte bieten einen schönen Blick in den Grand Canyon des Yellowstone-Parks. Die wohl bekannteste Stelle ist der Artist Point, wo Thomas Moran einige seiner Bilder malte. Man hat von hier aus einen herrlichen Blick hinauf zu den etwa fünfhundert Meter entfernten Wasserfällen. Das Panorama ist atemberaubend und man kann sich gut vorstellen, wie gerne ein Maler genau hier ein Bild malen möchte.

Für meinen Geschmack war das Gedränge am Artist Point allerdings zu groß. Also ging ich weiter, um einen Platz für mich allein zu finden, irgendwo im Wald, wo ich einen ruhigen Tag verbrachte. Gegen Abend fuhr ich zurück, um noch vor Einbruch der Dunkelheit den Campingplatz zu erreichen.

Unterwegs kam ich nördlich des Wasserfalls an einem Schild vorbei, das auf eine „Wasserfall-Felskante“ hinwies. Diese Stelle kannte ich noch nicht. Am oberen Abschnitt des Weges ragte warnend eine Tafel auf, die mit drastischen Worten darüber informierte, dass man hier gleich hundertachtzig Meter in die Tiefe stürzen könne und dass es deshalb besser sei, wieder zurückzugehen. Bestimmt kehrten die meisten Wanderer hier um.

Aber ich war zu neugierig auf die Felskante und mich trieb die Hoffnung, den Wasserfall doch noch ganz für mich alleine erleben zu können. Also kletterte ich den steilen Weg hinunter und gelangte schließlich direkt an die Stelle, wo das Wasser in die Tiefe stürzte. Vor meinen Augen donnerten Tausende von Litern Wasser pausenlos und mit großem Getöse in einen Abgrund, der mehr als doppelt so tief wie die Niagarafälle war. Explodierender Sprühnebel verbarg den Aufprall des Wassers, das sich in Gischt und kochende Nebelwolken verwandelte, die aus großer Tiefe aufstiegen.

Es ist schwer, diese Erfahrung zu beschreiben. Der Fluss war klar und glatt, von durchscheinendem Grün, bevor er über die Felskante glitt. Ich sah hinunter, gebannt von diesem aufgewühlten Wasser, dessen unaufhörlich schäumende Wellen wie Meeresbrecher in den Abgrund rollten. Welle um Welle türmten sie sich übereinander, alles in Gischt und Schaum hüllend. Wasser in satten, dunklen Farben. Am Grund des Flusses oben war es noch intensives Smaragdgrün, im langen, tiefen Fallen wurde es zu Lavendelblau.

In erster Linie ist Wasser ein lebensspendendes Element und selbst hier, wo es sich in seiner ungebändigten Kraft zeigte, erschien es mir nicht bedrohlich, nur gewaltig in dieser grenzenlosen Dimension. Majestätisch und lebendig und immer wieder neu. Ich beugte mich über die Felskante und sah nichts als das Weiß dieser schäumenden Flut, die unaufhörlich fiel und fiel und fiel, weiße Schwaden, in denen immer wieder Schimmer von Jadegrün, zartem Blau und Violett aufleuchteten. Bei aller Gewalt lag auch so viel Anmut in diesem kraftvoll strömenden Fluss, dass ich mich dem Anblick für lange Momente ganz hingeben wollte. Später erzählte ich Stacy: „So stelle ich mir die Herrlichkeit Gottes vor, und als mir dieser Gedanke kam, da hätte ich mich am liebsten hineingeworfen.“

Unbewegt stand ich da und ließ die fließende, pulsierende, tosende Schönheit lange auf mich wirken. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Andere Besucher kamen und gingen, ich beachtete sie nicht. Die Schönheit dieser Szene hatte Besitz von mir ergriffen. Ich erlebte, wie die Fülle an Schönem, die gewaltige Herrlichkeit und das nie endende, fließende Leben meiner Seele Heilung brachte.

Ich hatte diese Reise vor allem unternommen, weil ich seelisch viel gelitten hatte. Zuletzt war ich mit so viel Sterben konfrontiert gewesen, dass ich gar nicht anfangen will, hier darüber zu berichten. Nun hatte ich den Eindruck, dass meine ganze Reise nur ein Ziel hatte, nämlich genau diesen Ort. Gott hatte mir die Schönheit hier zeigen wollen.

Schönheit tröstet. Schönheit heilt. Deshalb bringen wir Blumen auf den Friedhof und ins Krankenhaus.

Der Gedanke ist mir nicht neu, schon seit Jahren denke ich über diese Zusammenhänge nach. Umso mehr freute ich mich über ein ansprechendes kleines Buch, das mir ein Freund empfahl. Es handelt von Schönheit und Gerechtigkeit, Autorin ist die Professorin für Ästhetik an der Harvard Universität, Elaine Scarry. Sie schreibt über die wichtige Rolle, die der Schönheit in unserer oft so kritischen Welt zukommt:

Schönheit ist überlebensnotwendig. Augustinus beschrieb sie als eine „Planke mitten in den Wellen des Meeres“. Auch Proust schrieb immer wieder über Schönheit. Sie macht lebendig. Sie ist aufregend. Beim Anblick von etwas Schönem beschleunigt sich unser Herzschlag. Schönheit erfüllt uns mit Leben, beseelt uns, bewegt uns und macht unser Dasein lebenswert … Beim Anblick von etwas Schönem fühlt man sich, als sei man plötzlich an einen barmherzigen Strand angespült worden.12

Genau das ist es – Schönheit ist wie ein Ausweg für die Seele, weil sie barmherzig und tröstlich ist. Sie heilt, stellt wieder her, belebt und erneuert. Deshalb hat jeder Kurort einen Park, in dem die Genesenden gerne spazieren gehen, und Kranke lieben es, wenn sich vor dem Fenster ihres Krankenzimmers eine liebliche Landschaft ausbreitet. Untersuchungen haben ergeben, dass Patienten sich schneller erholen, weniger Schmerztabletten brauchen und früher aus dem Krankenhaus entlassen werden können, wenn sie von ihrem Fenster aus einen schönen Blick in die Natur haben.13 „Die Freude, die wir an Schönem haben, ist unerschöpflich“, schreibt Scarry. „Egal wie lange die schönen Dinge andauern, wir sehen uns nie satt und stumpfen nicht ab, die Freude an der Schönheit nutzt sich nicht ab.“14

Stacy und ich waren im letzten Frühjahr auf einer Vortragsreise in England. Unser Terminplan war richtig vollgepackt, mit neunzehn Terminen in neun Tagen. Zwei Tage verbachten wir in St. Albans, einem Vorort von London. Die Gegend ist genau so, wie man sich England vorstellt: eine Mischung von Kopfsteinpflaster und Architektur des 15. Jahrhunderts mit modernen Galerien und teuren Restaurants. Der Ort war überlaufen, es war ungewöhnlich heiß und der dichte Verkehr staute sich von morgens bis abends.

Vielleicht war ich besonders empfindlich, weil ich so müde war, aber irgendwann konnte ich den Lärm der Motorräder einfach nicht mehr ertragen, die pausenlos durch die engen Straßen knatterten. Was mir am Anfang so idyllisch erschien, brachte mich bald an meine Grenzen. Da bekam ich eine Textnachricht von meiner Frau, die sich auf die Suche nach der Kathedrale gemacht hatte. „Komm zur Kirche und geh hinein.“

Kaum hatte ich den gartenähnlichen Vorplatz betreten, ging es mir schon besser. Hier gab es Gras, Blumen und Bäume. Ich betrat die Kirche und war plötzlich ganz allein. Angenehme Kühle empfing mich. Gedämpft fiel buntes Licht durch die bemalten Glasfenster. Nichts drang durch die dicken Mauern, vom Lärm der Stadt war kein Laut mehr zu hören. Irgendwo ganz vorne schien ein Chor zu üben, sehen konnte ich die Sänger vom Eingang aus nicht. Die Musik war himmlisch, Balsam für meine Seele.

Was vom Himmel kommt, ist immer heilsam. Das gilt auch für Schönheit. Ihr Anblick heilt die Seele, weil sie ein Zeichen dafür ist, dass es in unserer Welt auch Gutes gibt. Schöne Dinge sind ein Zeichen der Güte Gottes, die alles überdauert und stärker ist als alle Not und Dunkelheit.

„Der Augenblick, in dem ein Mensch etwas Schönes wahrnimmt, ist der Moment, in dem er erkennt, welches Geschenk das Leben ist.“15

Schönheit erzählt uns auch etwas von Fülle und Überfluss.

Zwei Tage bevor ich an den Yellowstone-Wasserfällen war, saß ich mit meinem Campingstuhl hoch über einem See, irgendwo in dem Teil der Rocky Mountains, der sich Wind-River-Range nennt. Ich verbrachte den ganzen Nachmittag dort und ließ die Schönheit der Natur auf mich wirken. Der See und die Granitfelsen waren wunderschön, aber noch mehr faszinierten mich die immergrünen Wälder an den Bergabhängen. Hier regnet es viel, die Bäume wachsen üppig und in saftigem Grün, der Wald erschien mir so dicht, als würden Millionen von Bäumen an diesen Hängen stehen.

Es tat meiner Seele gut, den Blick auf diesem Grün ruhen zu lassen. Warum? Ich glaube, das hat mit der Wahrnehmung von Überfluss zu tun. Jeder einzelne Baum ist schon ein Wunder an sich. Hundert Bäume sind ein hundertfaches Wunder. Aber hier schaute ich auf eine unzählbare Menge an Bäumen, Zehntausende, die hoch aufragten, dicht an dicht, deren dunkles Grün von Kraft und Gesundheit zeugte. Der Anblick rührte etwas in meiner Seele an, was sehr tief, sehr verborgen ist, als sei es die Erinnerung an Eden.

Bilder können Botschaften weitergeben, die direkt in die Seele hineinwirken. „Bei Matisse sehen wir, dass schöne Dinge uns immer einen Gruß aus einer anderen Welt übermitteln.“16 Für Christen sind das Grüße aus Gottes Welt, direkt aus seinem Königreich.

Ein weiterer Grund, warum Schönheit uns so guttut, ist die Sicherheit, die sie uns gibt. Wenn wir etwas Schönem begegnen, gibt uns das innerlich die Gewissheit, dass Gottes Gnade immer noch da ist und unser Leben umgibt. Diese Zusicherung können wir gar nicht oft genug bekommen.

Solange es schöne Dinge in der Welt gibt, existiert auch das Gute noch und es ist realer als alles Unheil, alle Ängste und das ganze Böse in der Welt. Schönheit ist ein Hinweis auf Überfluss und erinnert uns daran, dass von Gott eine Fülle von Gutem und von Leben ausgeht. Wenn wir Schönheit erleben, wissen wir gleichzeitig, dass Gott ein gutes Leben für uns hat. Es ist, als würde uns bestätigt, dass alles zu einem Happy End kommen wird. Der französische Impressionist Matisse „sagte immer wieder, er wolle Bilder malen, die so schön sind, dass man beim Betrachten alle seine Probleme vergisst“17.

Schönheit ist eine sanfte Gnade. Sie ähnelt dem Wesen Gottes, sie schreit nicht herum und drängt sich nicht auf. Stattdessen umwirbt sie den Betrachter, besänftigt und lädt ein, sie ist liebevoll und zärtlich. Angesichts von Schönheit, die auf unsere Seele einwirkt, seufzen wir oft – dieses wohltuende, tiefe Seufzen des Herzens.

Wo die Seele atmen kann

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