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Wohltuenden Abstand gewinnen

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Ich sitze auf einer Klippe im kargen Südwesten von Wyoming und suche mit meinem Fernglas den Horizont ab. Was ich sehe, ist überwältigend – zumindest für mich. Blühender Beifuß und hohe Gräser, so weit das Auge reicht, Hunderte von Kilometern in alle Himmelsrichtungen. Ich kann sogar die Krümmung der Erdoberfläche erkennen.

Es ist August, und obwohl es noch früh am Tag ist, flimmert die Luft schon in der Hitze und macht es mir schwer, das zu entdecken, wonach meine Augen suchen. Die meisten Leute würden sagen, diese Gegend sei trostlos, kahl und öde. Im Sommer sengende Hitze, im Winter bitterkalt. Und immer weht dieser scharfe Wind. Aber ich komme so gerne hierher, weil hier die wilden Pferde zu Hause sind. Das ist genau die Landschaft, in der sie sich sicher fühlen.

Hier im Westen Amerikas gibt es immer noch Hunderte wilder Pferdeherden. Wenn ich darüber nachdenke, macht mich das richtig froh. Unberührtes Land, eine menschenleere Weite, wo Tiere in völliger Freiheit leben können – welch ein wohltuender Gedanke für Menschen wie mich, die überwiegend in Ballungsräumen leben. Manchmal braucht es einen Ortswechsel, eine Reise in eine andere Landschaft, um der Seele weiten Raum zu geben, um mit einem leichteren Herzen weiterleben zu können. Deshalb bin ich hier.

Nur zwanzig Meter von mir entfernt sitzt ein Steinadler, ein Raubvogel von beeindruckender Größe. Die Flügelspannweite dieser Tiere liegt bei über zwei Metern und sie haben genug Kraft, um mit ihren Krallen ganze Rehkitze oder Lämmer in die Lüfte zu heben.

Der Steinadler sitzt auf dem Rand einer Klippe und beobachtet die karge Landschaft auf der Suche nach Beute. Er hat den perfekten Ort ausgewählt. An dem Felsen, der unter ihm steil abfällt, steigen die Winde auf und werden ihn bereitwillig über das Land tragen. Er muss bloß seine Schwingen ausbreiten und einen Schritt über die Felskante hinaus machen, und schon wird er mühelos in großer Höhe dahingleiten.

Kann es sein, dass er mich nicht bemerkt hat? Es erscheint mir unwahrscheinlich. Aber vermutlich stört ihn meine Anwesenheit nicht. Ich seufze tief, Frieden und Glück durchströmen mich.

Ich bin heute Morgen schon in aller Frühe aufgestanden, habe unseren kleinen Transporter beladen und die Straße Richtung Norden genommen. Ohne konkrete Pläne fuhr ich der Einsamkeit entgegen, für eine Woche würde ich mich dem Alltagstrubel entziehen. Die Campingausrüstung war dabei, Angelruten und Landkarten des Wind-River-Range, einer 160 Kilometer langen Bergkette der Rocky Mountains im Westen des US-Bundesstaates Wyoming. Zu diesem Gebirgszug gehören über vierzig Viertausender-Gipfel, sieben Gletscher und weit über tausend Bergseen.

Als würde das nicht reichen, hatte ich auch noch Landkarten vom Yellowstone-Nationalpark eingepackt und zusätzliche Karten des Bundesstaates Montana, der sich im Norden an Wyoming anschließt. Das Ganze war eine völlig spontane Entscheidung, weder geplant noch vorbereitet. Ich hatte aber wahrgenommen, dass Gott mich dazu drängte. Es war viele Jahre her, seit ich mir zuletzt Zeit genommen hatte, um meiner Seele etwas so Gutes zu tun und Gottes Nähe mehrere Tage lang zu suchen.

Ganz ehrlich, als ich dann im Rückspiegel beobachtete, wie mein Zuhause kleiner wurde und sich immer weiter entfernte, war das schon ein ganz besonderes Gefühl. Vor mir erstreckte sich die endlose Straße, das weite Land.

Genau das hat Jesus oft und gerne getan (allerdings ohne Auto) und das gehört zu den Dingen, die mich schon immer an ihm faszinierten. Egal, was gerade los war, er besaß den Mut, einfach abzuhauen. Er stand auf und ging an einen anderen Ort. Immer wieder ließ er Menschen und Erwartungen hinter sich und zog sich zurück.

Auch in der folgenden Geschichte wird das berichtet, am Anfang des Markusevangeliums. Viele begeisterte Menschen hatten Jesus umringt, um ihn herum war großer Trubel gewesen. Doch am nächsten Tag verschwand er einfach.

Früh am Morgen, als es noch völlig dunkel war, stand Jesus auf, verließ das Haus und ging an einen einsamen Ort, um dort zu beten. Simon und die, die bei ihm waren, eilten ihm nach, und als sie ihn gefunden hatten, sagten sie zu ihm: „Alle fragen nach dir.“ Er aber erwiderte: „Lasst uns von hier weggehen in die umliegenden Ortschaften, damit ich auch dort die Botschaft vom Reich Gottes verkünden kann; denn dazu bin ich gekommen.“ (Markus 1,32-39)

Jesus hat uns hier eine innere Freiheit und Unabhängigkeit vorgelebt, die wohl jeder von uns gerne hätte. Wie beneidenswert, dass er sich immer wieder so aus seiner Welt herauslösen konnte. Als guter Schüler meines Herrn habe ich jetzt also dasselbe versucht. Tausend Leute wollten etwas von mir – und ich bin einfach verschwunden.

Wilde Pferde kriege ich heute leider nicht zu Gesicht, dafür hätte ich vermutlich noch viel früher aufstehen müssen. Aber ich habe schon viele andere schöne Dinge gesehen. Überall am Straßenrand stehen diese Hinweistafeln, die etwas über die lokalen Besonderheiten verraten. Normalerweise rausche ich daran vorbei. Heute nicht. Ich halte an jeder einzelnen Tafel an und lese mir in Ruhe durch, welche Pflanzen und Tiere hier vorkommen und welche historischen Ereignisse mit dem jeweiligen Ort verknüpft sind.

Nein, ich bin noch nicht so ganz bei der Sache, ich habe die Hektik des Alltags noch nicht vollständig abgelegt, aber das ist nicht schlimm. Ich habe Zeit. Im Laufe der nächsten Tage werde ich bestimmt ganz eintauchen in diese herrliche Welt und unbeschwert und froh die Schönheit der Natur genießen.

Wo die Seele atmen kann

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