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Virenkunde
ОглавлениеBär und Etter saßen um 10.20 Uhr einem der leitenden Ärzte gegenüber. Dieser hatte sich als Professor Erich Palmer vorgestellt.
Bärs Team wartete im obersten Stockwerk immer noch auf weitere Befehle. Währenddessen erklärte er seine Rolle in der Sache und ließ sich dann von Palmer noch einiges mehr über Viren erklären.
„Wir sind nun sicher, dass es sich um ein neuartiges Virus, vermutlich genmanipuliert, handelt. Ich versuche mal, es so einfach wie möglich zu erklären, als wären Sie meine Studenten. Ist das für Sie in Ordnung?“
Bär nickte heftig und fügte ein „Sehr gerne.“ an.
„Es scheint“, begann Palmer, „dass es sich um einen Supervirus durch gentechnische Manipulation handelt.“
John und Bär schauten sich an.
„Also etwas, was absichtlich in die Welt gesetzt wurde?“
„Es scheint so. Dazu muss man wissen, dass Viren das Genom des Menschen und vieler Spezies mitgestaltet haben. Über die Entstehung und Veränderung von Zellen und Organismen haben Viren einen gravierenden Einfluss auf die Evolution gehabt. Nach neuesten Schätzungen besteht unser Genom zu 50 Prozent aus Fragmenten von Retroviren. Unter der Bezeichnung Junk-DNA wurden diese Fragmente lange Zeit nicht beachtet. Heute weiß man, dass sie eine entscheidende Rolle bei der Genexpression spielen. Doch wann sind Viren gut für den Menschen und wann gefährlich?“
Das Interesse von Bär und Etter war immer noch hoch, wie Palmer ihren Gesichtsausdrücken entnehmen konnte.
„Viren haben sich über Millionen von Jahren gemeinsam mit ihrem Wirt entwickelt. Viele bringen ihren Wirt nicht um, weil sie selber überleben möchten. Tödlich wirkt ein Virus nur, wenn die Balance des Wirtsorganismus gestört ist, oder wenn das Virus zu einem anderen Lebewesen übertritt, das sich nicht anpassen konnte.“
Palmer unterbrach kurz, schenkte sich ein Glas Wasser ein und fuhr fort:
"Viren sind wahrscheinlich dafür wichtig, dass wir uns schnell an neue Umweltbedingungen anpassen können. Die Elemente der Viren, die sich in unserem Erbgut befinden, sorgen dafür, dass es schnell zu sogenannten Duplikationen kommen kann. Das heißt, dass aus einem Gen zum Beispiel zwei Gene werden. Und dieses zweite Gen kann dann von der Evolution dazu verwendet werden, sich auf eine neue Eigenschaft, eine neue Umweltbedingung einzustellen und sich so zu verändern. Das ist ein viel schnellerer Weg in der Evolution als ein komplettes Gen durch Mutation neu entstehen zu lassen. Ist das noch verständlich?"
Die beiden schwenken die Köpfe so, dass Palmer annehmen konnte, dass es gerade noch ging.
„Nun, neue Viren stammen meist von Tieren. HIV-ähnliche Viren existieren bei Affen schon seit mindesten fünf bis zwölf Millionen Jahren. Jährlich werden zwei bis drei unbekannte Viren entdeckt, die von Tieren auf den Menschen übertragen werden. Jedes Virus könnte eine Lücke in der menschlichen Immunabwehr offenbaren und eine Pandemie auslösen. Doch die panischen Diskussionen über die Krankheitserreger verdecken, dass Viren tatsächlich überwiegend positive Eigenschaften besitzen. Nur etwa ein Prozent sind gefährlich. Viren sind Grenzgänger zwischen lebender und toter Materie.
An der Influenza sterben jährlich weltweit bis zu 500.000 Menschen und an HIV jährlich 2,8 Millionen, trotz Medikamenten. Sie verstehen?“
Jetzt nickten die beiden zustimmend.
„Viren sind einem Waldbrand vergleichbar. Je früher man eingreift, umso besser. Sonst muss man immense, auch wirtschaftliche Folgen, einkalkulieren. Die Weltbank schätzt den weltweiten volkswirtschaftlichen Schaden einer Pandemie auf 683 Milliarden Euro. Und die Gefahr wächst, denn heute kann ein Infizierter innerhalb von Stunden fast jeden Ort der Welt erreichen. Globalisierung und Klimawandel führen dazu, dass sich immer mehr exotische Krankheiten verbreiten, die früher auf eng begrenzte Gebiete Asiens oder Afrikas beschränkt waren.“
Palmer schaute in die Gesichter seiner beiden Gegenüber, um zu überprüfen, ob sie ihm noch folgen konnten und fuhr danach unbeirrt weiter:
„In Tierarten, die bisher nur wenig Kontakt mit Menschen hatten, lauern möglicherweise zahllose mörderische Erreger. Und durch Mutation und Genaustausch zwischen verschiedenen tierischen Erregern entstehen ständig neue Viren.“
Palmer nahm wieder einen großen Schluck Wasser, schaute auf seine wie Schüler vor ihm sitzenden Ermittler.
„Jetzt, meine Herren, wird es für sie richtig interessant.“
John und Bruno wurden noch aufmerksamer.
„Jetzt kommen wir zur Entwicklung eines Supervirus. In Rotterdam wurde durch gentechnische Manipulation ein Supervirus erzeugt. Es basiert auf dem Vogelgrippe-Virus H5N1 und hatte eine katastrophale neue Eigenschaft. Es konnte sich per Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch verbreiten. Zunächst wurde die Veröffentlichung der Forschung gestoppt. Die Angst war groß, das Virus könnte in Hände von Terroristen geraten oder versehentlich aus dem Labor entweichen und eine Pandemie auslösen. Im Juni 2013 wurde die Arbeit jedoch veröffentlicht und es wird weiter geforscht. Man will verstehen, welche Mutationen für extreme Ansteckungsraten verantwortlich sind und ein Frühwarnsystem für Pandemien entwickeln.“
Palmer machte eine kurze Pause.
„Alles deutet darauf hin, dass wir es hier mit einem solchen Supervirus zu tun haben. Er scheint menschengemacht. Das plötzliche Auftauchen, der eng gezogene Kreis der Erkrankten lässt fast keinen anderen Schluss zu. Ein allfälliger Täter versucht nicht, das Virus großflächig zu verbreiten, sonst hätte er anders gehandelt.“
Palmer verabschiedete sich kurz in eine Besprechung mit seinen Ärzten, denn das Krankenhaus musste wie immer weiterfunktionieren. Bär nahm die Gelegenheit war, Konrad von Gunten anzurufen, der erstaunlicherweise den Anruf sofort entgegennahm.
„Ja, Bruno, habe gehört, du hast mich gesucht“, versuchte er gleich die Stimmung etwas gedrosselt zu halten.
„Oh ja, Konrad. Wo bist du gerade jetzt?“
„Im Krankenhaus, beim Team. Ich bin bestimmt gesund“, war seine Antwort, die fast gleichzeitig mit dem nächsten Befehl von Bruno gegeben wurde.
„Du bist in zwei Minuten im Parterre im großen Sitzungszimmer! Verstanden“, befahl Bruno und verstaute sein Handy.
Zu John Etter meinte er in wesentlich ruhigerem Ton: „Den werde ich auch noch zurechtstutzen.“
John lächelte. Er kannte Bruno schon lange genug und wusste, dass er nur bei Leuten, die besonders gut in ihrem Job waren, so reagierte.
„Lass Gnade walten, er ist sicher ein guter Mann“, meinte John.
„Ja, eben und genau deswegen verstehe ich nicht, warum er mitgefahren ist.“
Etliche Stockwerke darüber stand Konrad vom Boden auf, schaute dem kleinen Mädchen von weitem zu und stellte sich der Krankenschwester vor.
„Ich bin Konrad und ich muss schnell mal nach unten zum Chef. Karin, passen Sie gut auf die Kleine auf?“
Das Namensschild hatte Konrad ihren Namen verraten.
„Mache ich, Konrad. Mache ich, versprochen.“
Konrad verließ das Stockwerk über die Treppe, denn die Zeit, die er brauchte um im Parterre anzukommen, wollte er nutzen, um sich eine gute Entschuldigung zurechtzulegen.
So verpasste er die Männer, die im zweitobersten Stock den Aufzug verließen nur knapp. Diese gingen die beiden letzten Treppen nach oben, ebenfalls zu Fuß.
„Was läuft denn da“, fragte Adem die Krankenschwester, als zwei Männer von außen die Türe in den Treppengang verschlossen. Sie verklebten die Türe zusätzlich mit einer Plastikplane - auch die kleinsten Ritzen verklebten sie.
„Ich nehme an, Quarantänestufe sechs. Wir dürfen die Station nicht mehr verlassen, beziehungsweise können es auch nicht.“
Adem, Bruno und Frank stellten sich dazu.
„Wir kommen hier nicht mehr raus?“, fragte Adem erstaunt.
„Nein, bis die Situation geklärt ist, nicht“, antwortete die Krankenschwester.
Adem holte das Handy hervor und bevor er Bär anrufen konnte, klingelte es schon.