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4 Frühling

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Einige Wochen später, am Nachmittag des 13. Februar 1974, war alles still am Werk in Longbridge. Die Bristol Road, zu dieser Tageszeit sonst von parkenden Autos gesäumt, war so gut wie ausgestorben. Irene Anderton genoß die seltsame Ruhe, als sie, den schweren Korb mit den Lebensmitteln in der Hand, vom Einkauf zurückkam. Sie nahm den Korb in die andere Hand und winkte der Streikpostenkette am Südeingang zu; einige der Männer erkannten sie und winkten zurück. Ein jähes Stolzgefühl durchdrang ihre Brust. Ihr Mann bedeutete diesen Menschen etwas; er war ein Held für sie. Ohne ihn als Anführer hatten sie keine Chance. Sie ging den Hügel zur Bushaltestelle hinauf. Es war ein langer Weg, aber manchmal verzichtete sie darauf, den Bus zu nehmen, und heute war ein besonders schöner Tag, dank der angenehmen Stille, die sich über die ganze Gegend gebreitet hatte. Sonst machte man sich gar nicht bewußt, was für einen Lärm die Montagebänder verursachten, die den ganzen Tag hinter den Fabriktoren ratterten. Man war so daran gewöhnt, daß es einem erst auffiel, wenn sie stillstanden.

Sie kaufte eine Evening Mail beim Zeitungshändler und blätterte sie auf einer Bank im Cofton Park durch. Sie hielt sich jedoch nicht lange auf; es dämmerte bereits, und es wurde kalt. Es war ein eisiger Winter gewesen. In einem Artikel zum Streik wurde auch Bill erwähnt, obwohl er nicht abgebildet war. Doch das war bestimmt ganz in seinem Sinne.

Als sie nach Hause kam, saß er am Eßtisch, Stapel von Unterlagen vor sich. Wie immer steckte er bis über beide Ohren in Arbeit. Wenn er eines an den Zeitungen haßte, dann, daß sie bei jedem Streik sofort unterstellten, den Arbeitern ginge es sowieso nur darum, im Pub herumzuhängen oder sich zu Hause auf die faule Haut zu legen. Bill wäre nie auf die Idee gekommen, etwas Derartiges zu tun. Als Betriebsratsvorsitzender hatte er sich dauernd mit neuem Papierkrieg auseinanderzusetzen; es war einfach nie Land in Sicht. Oft brütete er bis Mitternacht über seinen Unterlagen, und auch von den Versammlungen kam er immer erst spät nach Hause. Sie glaubte nicht, daß einer von den Werksbossen auch nur annähernd so hart arbeitete. Die hatten nicht den blassesten Schimmer von dem, was er tat. Zwar verbrachte er immer weniger Zeit am Fließband, aber das konnte man ihm nicht vorwerfen. Er hatte jetzt andere Verpflichtungen, die schwer auf seinen Schultern lasteten. Kein Wunder, daß er langsam graue Haare bekam, wenn auch nur ganz leicht um die Schläfen.

Er war immer noch ein sehr gutaussehender Mann. Nicht schlecht für einen, der auf die Vierzig zuging.

Sie gab ihm einen Kuß auf die Stirn. »Magst du einen Tee, Schatz?«

Er lehnte sich zurück, reckte sich und legte den Federhalter aus der Hand. »Das wär prima.« Er wies auf die ungelesene Korrespondenz. »Mein Gott, man wird einfach nie fertig.«

»Du schaffst das schon«, sagte sie. »Ist Duggie schon da?«

Bill zog ein genervtes, wenn auch nicht völlig verständnisloses Gesicht. »Seit einer Viertelstunde. Er hat sich gleich nach oben verzogen. Er war wieder im Plattenladen. Er wollte sich vorbeischleichen, aber ich hab die Tüte gesehen.«

Wie aufs Stichwort tönte ein dumpfer Drumbeat durch die Zimmerdecke. Reggae, obwohl weder Bill noch Irene in der Lage gewesen wären, ihn als solchen zu identifizieren. Bob Marley übrigens.

»Ich sag ihm, er soll die Musik leiser machen. So kannst du doch nicht arbeiten.«

Mit dieser Ankündigung ging sie nach oben, während Bill sich wieder dem Brief widmete, den er bei ihrem Eintreffen verstohlen unter einen anderen geschoben hatte. Was gar nicht nötig gewesen wäre; aber eigentlich ging es auch nicht so sehr um den Inhalt, sondern um die Gewissensbisse, die in ihm aufkamen, sobald Miriams Name im Spiel war oder er an sie denken mußte. Er wußte, daß er sich mit der Sache keinen Gefallen tat. Dennoch: Wenn er nur an ihren geschmeidigen Körper dachte, die sinnlichen Brüste, die sich verlangend an ihn preßten ... Und sie war inzwischen die neunte – oder sogar schon die zehnte? Traurig, was er nach achtzehn Jahren Ehe auf dem Kerbholz hatte. Die meisten hatte er bei der Arbeit kennengelernt, Schreibkräfte oder Näherinnen; was wohl aus diesem Rotschopf aus der Kantine geworden war... Nicht zu vergessen diese Reise nach Italien vor zwei Jahren, während der er die Fiat-Werke in Turin besucht hatte und abends in der Hotelbar diese Paola kennengelernt hatte, wirklich ein wunderschönes Mädchen... Doch mit Miriam war es irgendwie anders, leidenschaftlicher, zugleich einfacher und komplizierter als bei seinen anderen Affären. In gewisser Weise machte sie ihm sogar angst, wenngleich er sich dies bislang nicht eingestanden hatte.

Wiederum konnte er seinen Ärger kaum unterdrücken, als er den Brief ein weiteres Mal las.

Verehrter Genosse Anderton,

hiermit möchte ich mich über die Arbeit von Miss Newman als Sekretärin des Stiftungskomitees beschweren.

Miss Newman ist keine gute Sekretärin. Sie kommt ihren Pflichten nicht in angemessener Weise nach.

An dieser Stelle möchte ich insbesondere Miss Newmans auffällige Unaufmerksamkeit ansprechen. Bei den Sitzungen des Stiftungskomitees läßt sich diese Abwesenheit ein ums andere Mal beobachten. Offenbar gehen ihr Dinge durch den Kopf, die mit ihren Obliegenheiten als Sekretärin nichts zu tun haben. Ich erspare mir hier Einlassungen, worum es sich bei diesen Dingen handeln könnte.

Ich habe im Rahmen des Stiftungskomitees eine Reihe von Vorschlägen und Eingaben zu Gehör gebracht, die durch Miss Newmans Verschulden nicht zu Protokoll genommen worden sind. Dies gilt auch für andere Mitglieder des Komitees, insbesondere aber für mich. Meines Erachtens kommt Miss Newman ihren Pflichten in keiner Weise nach.

Ich wende mich in dieser Angelegenheit dringlich an Dich, Genosse Anderton, und schlage hiermit vor, Miss Newman mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben zu entbinden. Ihre Stellung als Schreibkraft im Werkssekretariat bleibt davon selbstverständlich unberührt. Obwohl ich sie auch nicht für eine gute Stenotypistin halte.

Mit genossenschaftlichen Grüßen,

Victor Gibbs

Bill wischte sich über die Stirn und gähnte; eine Gebärde, die bei ihm eher Anspannung als Müdigkeit signalisierte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt – dieser Schnüffler, der ihm das Leben mit seinen Beanstandungen und hinterlistigen Anspielungen noch schwerer machte. Wie kam dieser Mann dazu, Miriam – und ihm – dergleichen zu unterstellen? Keine Frage, sie hatten ein Lächeln zuviel ausgetauscht, sich wohl einmal für den Bruchteil einer Sekunde zu lang in die Augen geschaut. Mehr war nicht nötig gewesen. Trotzdem fand er es bezeichnend, daß dies ausgerechnet Gibbs ins Auge gestochen war.

Das Stiftungskomitee war ins Leben gerufen worden, um soziale Einrichtungen, hauptsächlich Schulen und Krankenhäuser, mit kleinen Spenden aus dem Gewerkschaftsfonds zu unterstützen; Victor Gibbs fungierte als Schatzmeister des Komitees. Er arbeitete als Buchhalter im Controlling, einer von diesen geleckten Typen in Schlips und Kragen, bei dem der anbiedernde Gebrauch der Anrede »Genosse« pure Speichelleckerei darstellte – fast schon eine Beleidigung, was Bill anging. Er kam aus dem Süden von Yorkshire, ein sauertöpfischer, unfreundlicher Griesgram; bedeutsamer war allerdings, daß er auch ein Betrüger zu sein schien. Bill war sich dessen inzwischen so gut wie sicher – jedenfalls fand er keine andere Erklärung für jenen mysteriösen, mit seiner Unterschrift versehenen Scheck, den die Bank vor drei Monaten hatte zurückgehen lassen. Seine Unterschrift war gefälscht worden; wenn auch ziemlich perfekt, wie er einräumen mußte. Seitdem hatte Bill der Bank mehrere Besuche abgestattet, um die Zahlungen des Komitees zu überprüfen, und war dabei auf drei weitere, auf denselben Empfänger ausgestellte Schecks gestoßen, von denen zwei Miriams und einer seine Unterschrift trugen. Wiederum handelte es sich um fast perfekte Fälschungen, die Bill jedoch nicht hinters Licht führen konnten; Gibbs mußte verrückt sein, wenn er glaubte, daß er damit durchkommen würde. Auf alle Fälle war Bill froh, seinem Instinkt gefolgt zu sein, daß er abgewartet und weiterer Beweise geharrt hatte. Damit saß er am längeren Hebel. Falls Gibbs weiter Ärger wegen Miriam machte, würde er ihm zeigen, was eine Harke war. Die miese Tour würde er ihm heimzahlen; und zwar doppelt und dreifach.

Bill heftete den Brief sorgfältig ab. Die Ehre einer Antwort wäre zuviel des Guten gewesen, aber vernichten wollte er ihn auch nicht. Zu gegebener Zeit mochte das Schreiben noch mehr als nützlich sein. Darüber hinaus hatte er es sich zum Prinzip gemacht, niemals Dokumente zu vernichten. Er war dabei, ein Archiv des Klassenkampfs zusammenzustellen, in dem jedes noch so winzige Detail zählte und das für kommende Generationen von unschätzbarem Wert sein würde. Sein Plan war, es irgendwann einer Universitätsbibliothek zu vermachen.

Die Musik oben war leiser gestellt worden. Er hörte, wie Irene und Doug miteinander stritten; keine von den heftigen Auseinandersetzungen, die es manchmal gab, nur ein bißchen Gemecker und Gemaule. Das war okay. Die beiden kamen gut miteinander aus. Seine Familie war völlig intakt. Nur er trug immer weniger dazu bei.

Die nächsten Blätter auf dem Stapel standen in engem Zusammenhang: ein Zettel, auf den er letzte Woche am Schwarzen Brett in der Kantine gestoßen war, und ein gedrucktes Flugblatt, das kürzlich im Werk die Runde gemacht hatte.

Auf dem handgeschriebenen Zettel stand:


Bei dem Flugblatt handelte es sich um den Erguß einer Vereinigung, die sich »Bund aller Briten« nannte, eines ultrarechten Ablegers der National Front, aber noch schlechter organisiert. Bill fand ihre Propaganda einfach nur armselig und hätte sie normalerweise sofort dem Papierkorb überantwortet. Doch es gab Gerüchte, daß diese Gruppe hinter dem Anschlag auf zwei asiatische Teenager steckte, die halb totgeschlagen vor einem Imbiß in Moseley aufgefunden worden waren; man mußte sich diesen Auswüchsen stellen, bevor die Welle der Gewalt auch auf das Werk übergriff.

Angewidert überflog er die ersten Zeilen.

Britische Arbeiter!

Wacht auf und schließt euch zusammen.

Eure Arbeitsplätze sind bedroht. Eure Heimat und euer Lebensunterhalt stehen auf dem Spiel.

Eure Existenz ist so bedroht wie nie zuvor.

Weder Heath noch Wilson, noch Thorpe haben den Mumm, der Einwanderungswelle der Farbigen endlich Einhalt zu gebieten. Sie alle sind Sklaven jener liberalen Gesinnung, die die Schwarzen nicht bloß toleriert, sondern auch noch über die hier geborenen Engländer stellt. Sie rollen den Schwarzen die roten Teppiche aus und scheren sich einen Dreck darum, daß wir unsere Häuser und Jobs verlieren. Wenn ihr euch umseht, werdet ihr feststellen, daß sich die Zahl der Schwarzen überall verzehnfacht hat. Wir MÜSSEN mit ihnen zusammenarbeiten, ohne daß uns jemand gefragt hat, ob wir das überhaupt WOLLEN. Wenn das auch eure Meinung ist, hier noch ein paar wissenschaftliche FAKTEN:

1. Schwarze sind nicht genauso intelligent wie Weiße. Ihr Gehirn ist genetisch nicht im selben Maße entwickelt. Wie also sollen sie für die gleiche Arbeit geeignet sein?

2. Schwarze sind von Natur aus fauler als Weiße. Weshalb sonst haben wir Engländer uns Afrika und Indien untertan gemacht statt umgekehrt? Weil die weiße Rasse den Schwarzen überlegen ist. Historische

FAKTEN.

3. Schwarze kennen nicht dieselbe Hygiene wie wir. Und trotzdem sollen wir mit ihnen an denselben Plätzen arbeiten, in derselben Kantine essen, sogar dieselbe Toilette benutzen. Welche Auswirkungen hat das auf unsere Gesundheit? Welche Krankheiten werden dadurch verbreitet? Und weit und breit ist niemand, der sich darum kümmert.

Bill las nicht weiter. Er verwandte ohnehin schon zuviel Zeit auf die Organisation von Diskussionsrunden und anderen Veranstaltungen, um diesem Unsinn entgegenzuwirken. Selbst die Infoblätter der Gewerkschaft zum Thema Rassismus mußte er in den meisten Fällen selbst verfassen. Diese Schmierereien deprimierten ihn einfach nur. Alle machten es sich so hundserbärmlich einfach. Dauernd fanden die Leute irgendwelche Gründe, um sich gegenseitig an die Kehle zu gehen, statt sich als Arbeiterschaft gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden. Manchmal schienen ihm alle Anstrengungen einfach bloß für die Katz zu sein.

Seine düstere Stimmung – durch seine Gewissensbisse wegen Miriam noch verstärkt – hellte sich ein paar Minuten später durch das Fernsehprogramm minimal auf. Irene hatte ihm seinen Tee gebracht, stark und mit viel Zucker, und zusammen sahen sie sich vom Sofa aus die Lokalnachrichten an; ihre Hand lag zärtlich auf seinem Knie (entweder schien sie es nicht zu bemerken, oder es machte ihr nichts aus, daß er diese Gesten nie erwiderte). Der dritte Bericht war über den Streik in Longbridge.

»Dann waren ja die Leute vom Fernsehen da«, sagte Irene. »Haben sie mit dir gesprochen?«

»Nein, sie waren schon weg, als ich kam. Aber ich glaube sowieso nicht, daß sie ...«

Er brach mittendrin ab und fluchte wie ein Fuhrkutscher, außer sich vor Wut, als Roy Slater – verdammt noch mal, Slater, das Arschloch! – auf dem Bildschirm in das Mikro eines Reporters sprach. Wie, in drei Teufels Namen, hatte Slater es hingekriegt, als erster vor die Kameras zu kommen? Was fiel ihm ein, sich über den Arbeitskampf auszulassen, bevor überhaupt eine offizielle Absprache getroffen worden war?

»Die von oben nehmen uns doch bloß aus«, sagte Slater mit seiner schroffen, ausdruckslosen Stimme. »Jedesmal, wenn sie ihre Versprechungen einschränken, geht das auf Kosten unserer Lohntüten. Das kann so nicht weitergehen. Es muß ...«

»Darum geht’s doch gar nicht, du Idiot!« rief Bill. »Mit den Löhnen hat der Streik doch gar nichts zu tun!«

»Womit denn?« sagte Doug, der, angelockt vom Geräusch des Fernsehers, in der Wohnzimmertür aufgetaucht war.

»Diese verdammte Pfeife!« Einen Augenblick lang war Bill sprachlos vor Wut. »Es geht um Recht und Unrecht«, erklärte er dann, wenn auch weniger seinem Sohn als einem nicht vorhandenen Fernsehpublikum. »Sie haben die Löhne gekürzt, weil sie die Körperpflege nach der Schicht nicht länger als Arbeitszeit anerkennen. Es geht um das Recht auf Sauberkeit und Hygiene.«

»... und wenn es ewig dauert«, war Slater auf dem Bildschirm zu hören. »Wir wollen unser Geld. Wir haben ein Recht auf unser Geld. Und wir werden ...«

»Es geht nicht um dein verdammtes Scheißgeld!« brüllte Bill, während er sich mit der Hand durch das langsam schütter werdende Haar fuhr. »Der hat doch nicht den blassesten Schimmer! Der weiß doch überhaupt nicht, wovon er redet!«

»Ist das nicht dieser muffige Typ«, warf Irene ein, »der letztens im Club so grob zu mir war? Als du Drinks holen warst?«

»So ist der doch immer. Eine ganz linke Bazille. Was fällt dem eigentlich ein, sich zum Sprecher von...« Er wurde vom schrillen Läuten des Telefons unterbrochen. Bill erhob sich. »Da hast du’s. Jede Wette, das ist Kevin. Der hat das bestimmt auch gesehen. Und jetzt ist Schluß mit lustig.« Er nahm den Hörer ab und bellte: »Hallo?«

Es war nicht Kevin. Es war Miriam.

»Hallo, Bill. Bist du allein?«

Ab und zu war er immer noch in der Lage, sich selbst zu überraschen; er brauchte nur ein oder zwei Sekunden, um den Schock zu verdauen, dann war er wieder ganz Herr der Lage.

»Oh, hallo, Kev. Ja, hab ich auch gesehen. Tja... was meinst du dazu? Wie sollen wir jetzt vorgehen?«

Auch Miriam war inzwischen an diese Art Versteckspiel gewöhnt. »Ich rufe wegen morgen abend an, Bill. Hast du Zeit?«

»Na ja.« Er warf einen Seitenblick zu seiner Frau hinüber, die aber ganz auf den Fernseher konzentriert war. »Das könnte schwierig werden. Ich weiß nicht, ob wir das so hinkriegen.«

»Aber, Bill, Liebling.« Meinte sie das ehrlich, oder sagte sie das nur, um ihn zu becircen? »Es ist doch Valentinstag.«

»Ja, ich weiß. Aber ...«

»Und ich hab die Wohnung für mich allein.«

Damit brachte sie ihn kurz zum Verstummen.

»Claire geht in die Disco. Außerdem ist Elternabend am King William’s. Mum und Dad sind den ganzen Abend weg.«

So wie ich auch, Miss Dummschlau, schoß es Bill durch den Kopf. Daran hast du wohl nicht gedacht. Gleichzeitig aber eröffnete sich ihm ein geradezu paradiesischer Ausblick. Eine Stunde allein mit Miriam; vielleicht sogar zwei. Völlige Ungestörtheit. Im Bett. Sie hatten sich noch nie im Bett geliebt. Jedesmal hatten sie es hastig in irgendeinem Winkel machen müssen, immer in Gefahr, plötzlich entdeckt zu werden; hektisches Gefummel mit hochgeschobenem Rock und offener Hose. Und jetzt bot sich ihm die Chance, sie in aller Ruhe auszuziehen. Sie nackt zu sehen. Eine ganze Stunde lang; vielleicht sogar zwei.

Aber es war Elternabend. Irene erwartete, daß er sie begleitete. Und das stand ihr auch zu. Außerdem war er es Duggie schuldig.

»Geht das nicht ein andermal, Kev?« sagte er laut in den Hörer. »Morgen ist es wirklich ganz schlecht.«

»Ich bitte dich, Bill. Bitte. Denk einfach daran, was ...«

»Ja, okay, okay«, schnitt er ihr das Wort ab; ihr Gebettel wollte er sich jetzt nicht auch noch anhören. Er hatte auch so verstanden. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Na ja, wenn es wirklich nicht anders geht... dann geht’s halt nicht anders.« Er konnte ihre Erleichterung am anderen Ende spüren. Ein siegessicheres Gefühl durchströmte ihn, ein Gefühl von Zufriedenheit, ja, Zärtlichkeit, in die sich etwas fast Väterliches mischte. »Und wann sollen wir uns treffen?«

»Um halb acht? Geht das?«

Er stieß einen weiteren schweren Seufzer aus, in dem sein ganzer Überdruß mitschwang. »Okay, Kev. Wir sehen uns dann. Die Sache muß ein für allemal vom Tisch. Aber jetzt bist du mir was schuldig, klar?«

»Bye, Billy«, sagte Miriam. Irene hätte er ein solches Kosewort niemals durchgehen lassen.

»Also dann«, sagte Bill und legte auf.

Anschließend widmeten sie sich dem Tee. Erst als Doug wieder nach oben gegangen war, um seine Hausaufgaben zu machen und sich seine neue Platte anzuhören, kam Irene auf das Thema zurück.

»Hab ich das richtig verstanden? Du kannst morgen abend nicht mitkommen?«

Bill breitete bedauernd die Hände aus. »Wir müssen das klären, Schatz. Morgen früh gibt es ein neues Angebot des Vorstands, das diskutiert werden muß. Und dann müssen wir etwas wegen Slater unternehmen. Wird Zeit, daß er mal einen Rüffel kriegt.« Er wischte sich den Mund mit einem Geschirrtuch ab. »Es tut mir ja leid, aber was soll ich denn machen?« Leise wiederholte er, wie zu sich selbst: »Was soll ich denn machen?«

Irene sah ihn ein paar Sekunden lang an, einen verständnisvollen, aber seltsam unergründlichen Schimmer in den Augen. Sie stand auf und gab ihm einen sanften Kuß auf die Stirn. »Du wirst wohl immer ein Sklave deiner Arbeit bleiben«, sagte sie. Draußen war es jetzt fast ganz dunkel. Sie zog die Vorhänge zu.

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