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Am Abend der Dinnerparty war Lois schlechter Stimmung. Seit vielen Wochen war es der erste Samstag, an dem Malcolm und sie nicht zusammen ausgingen, und obwohl an seiner Entschuldigung nichts auszusetzen war (sein bester Freund feierte seinen Junggesellenabschied), fühlte sie sich zurückgesetzt. Nun war sie dazu gezwungen, sich den gesamten Abend mit einem wildfremden Ehepaar zu unterhalten, ganz zu schweigen von dem linkischen, dürren Freund ihres Bruders, der sie die ganze Zeit anstarrte, als hätte er noch nie im Leben eine Frau gesehen.

In der Tat benahm sich Philip ziemlich merkwürdig. Die Wahrheit war, daß er seit ein paar Wochen heimlich für Lois schwärmte, und der Umstand, daß sie an diesem Abend ein orangefarbenes, ärmelloses und sehr knappes Kleid trug, ließ ihn sich nur noch mehr nach ihr verzehren. Er saß ihr direkt gegenüber, so daß ihm ihre großen weißen Brüste unweigerlich in die Augen sprangen. Er war sich durchaus bewußt, daß er die ganze Zeit verzückt zu ihr hinüberstierte, war dabei aber außerstande, irgend etwas dagegen zu unternehmen. Was die Konversation bei Tisch anging, hatte ihn sein Sprachtalent – ohnehin immer leicht reduziert, wenn Mädchen anwesend waren – mittlerweile komplett im Stich gelassen. Er schien die einfachsten Worte vergessen zu haben. Bei der simplen Frage nach dem Salzstreuer war nichts als groteskes Gestammel über seine Lippen gekommen, und bei dem bloßen Gedanken an weitere Plaudereien brach ihm der kalte Schweiß aus. Zwischen ihm und Lois herrschte absolute Funkstille, während es am anderen Ende des Tisches beinahe tumultartig zuging. In einem Anfall von Verschwendungssucht hatte Colin nicht eine, sondern gleich zwei Flaschen Blue Nun zum Abendessen gekauft. Dazu kam, daß die Chases dank einer glücklichen Fügung eine Literflasche desselben Weins als Geschenk mitgebracht hatten, womit nahezu orgiastische Exzesse ihren Lauf nahmen. All das spendete Philip kaum Trost, während er vor seiner Orangeade saß und sich vergeblich den Kopf zerbrach, wie er mit Lois ins Gespräch kommen sollte, die sich unterdessen angeregt mit Sam Chase unterhielt. Als er schließlich ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen konnte, nahm er seinen ganzen Mut zusammen, um sich die Chance nicht durch die Lappen gehen zu lassen.

»Wie heißt dein Goldfisch?« fragte er.

Lois sah ihn unverwandt an. Obwohl sonst niemand aufgehört hatte zu reden, kam es Philip plötzlich so vor, als hätte sich ein tödliches, eisiges Schweigen über den Tisch gesenkt. Äonen schienen zu vergehen, bevor sie schließlich sagte: »Wie mein Goldfisch heißt?«

Philip schluckte schwer, während er sie hilflos anstarrte. Er mußte irgend etwas falsch verstanden haben; jedenfalls war sein Annäherungsversuch schwer in die Hose gegangen. Verächtlich warf Lois die Haare in den Nacken und wandte sich von ihm ab; sich selbst überlassen, blieb ihm nichts anderes übrig, als von neuem die blasse Pracht ihrer Brüste zu kontemplieren, in der nun endgültigen Gewißheit, daß dies die äußerste Reichweite war, in die sie jemals rücken würden.

(Wie üblich hatte Paul das Ganze beobachtet und klärte Philip später mit einem dämonischen Glitzern in den Augen darüber auf, daß Sam und Lois nicht über einen »Goldfisch«, sondern über die Fernsehserie »Colditz« gesprochen hatten. Leider hatte Philip nichts von dieser Erklärung. Für Lois stand fest, daß er ein Volltrottel war, und sie wechselten kein Wort mehr miteinander, und zwar nicht nur für den Rest des Abends, sondern für die nächsten 29 Jahre, wie sich herausstellen sollte.)

Nach dem Dinner entschuldigte sich Lois und verschwand auf ihr Zimmer, worauf sich Philips Anspannung etwas löste. Schließlich wurde er sogar von der Hochstimmung der Erwachsenen angesteckt. Insbesondere Sheila und Colin sprühten nur so vor guter Laune, nachdem ihr Gastmahl nicht nur ein voller Erfolg, sondern geradezu ein gastronomischer Triumph gewesen war. Nach den Horsd’œuvres – Chips in den Geschmacksrichtungen Salz/Essig und Käse/Zwiebel, die in Tupperware-Dosen gereicht wurden – hatten sie Melonenscheiben mit kandierten Kirschen aufgefahren, die mit ein paar großzügigen Gläsern Blue Nun heruntergespült wurden. Anschließend gab es gegrilltes Rumpsteak – extra schön angebrannt, wenn auch nicht ganz bis zur Unkenntlichkeit –, dazu Pommes frites, Champignons, Salat und Salatsoße satt, während der Wein in bacchanalischen Strömen floß. Zum krönenden Abschluß wurde eine Schwarzwälder Kirschtorte kredenzt und erbarmungslos mit Schlagsahne gesüßt; der Wein floß noch reichlicher, auch wenn das kaum mehr möglich schien. Sam und Colin setzten sich zusammen, um kurz darauf ihren Weinkonsum mit jenem Getränk abzurunden, das im Haushalt der Trotters fraglos das alkoholische pièce de resistance darstellte: Colins hausgemachtes Light Ale, das er unten im Keller mit einem Geräte-Set aus der Drogerie braute. Wie er bereitwillig erläuterte, beliefen sich die Kosten auf weniger als fünf Pence pro Liter; es war schon erstaunlich, wie preiswert man ein Bier herstellen konnte, das sich kaum von den gängigen Marken unterschied, mal abgesehen davon, daß es eine milchig-grüne Farbe hatte und im Abgang wie gegorenes Frostschutzmittel schmeckte. Nachdem sie sich mit ein paar Gläschen dieses tödlichen Gebräus angeheizt hatten, erörterten die beiden Männer die irische Frage, um gleichermaßen Gift und Galle über den ohnmächtigen Staatssekretär für Nordirland, Francis Pym, wie über die »verdammten katholischen Mörder« zu spucken, deretwegen die ganzen Scherereien überhaupt erst angefangen hatten. Scharfe, bitterböse Töne gewannen die Oberhand. Die Frauen zogen es wie üblich vor, sich nicht weiter um die Diskussion zu kümmern. Sie hatten andere, persönlichere Themen, die ihnen unter den Nägeln brannten.

»Wie heißt dein Kunstlehrer noch mal?« Sheila beugte sich vertraulich zu ihrem älteren Sohn. »Der mit dem Schnäuzer?«

»Mr. Plumb?«

»Was ... was ist er so für ein Typ?«

»Bei uns heißt er nur die alte Zuckerpflaume«, preschte Philip vor. »Das ist sein Spitzname.«

Barbara sah ihn entgeistert an. »Du meinst, er ist... vom anderen Ufer?«

»Im Leben nicht.« Benjamin lachte. »Wir nennen ihn bloß so, weil er ein Weichei ist. Und geil wie ein alter Bock.«

»Er hat eine Affäre mit Mrs. Ridley«, ließ Philip nachdrücklich wissen.

»Wer ist denn Mrs. Ridley?« fragte Barbara, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

»Die Lateinlehrerin von der Mädchenschule. Das Ganze hat auf ’ner Klassenfahrt letztes Jahr angefangen.«

»Als sie mit der Zwölften in Florenz waren«, gab Paul seinen Senf dazu. »Die haben eine Nummer nach der anderen im Hotel geschoben.«

»Was sind denn das für Ausdrücke!« Sheila sah ihn wütend an. »Und auch noch vor den Gästen!«

»Ich sag bloß, was Lois erzählt hat.«

Urplötzlich kicherte Philip in sich hinein. Er wandte sich zu Benjamin. »Weißt du noch? Die Schote, die Harding letztes Jahr beim Fest an der Mädchenschule gebracht hat?«

»Und ob!« Benjamins Augen leuchteten, wie immer, wenn es um einen von Hardings Streichen ging. Seine Mutter und Mrs. Chase sahen ihn gespannt an. »Mr. Plumb und Mrs. Ridley sollten zusammen einen Sketch aufführen. Und als sie auf die Bühne kommen, steht Harding plötzlich auf und ruft ...«

Er hielt inne und warf Philip einen Blick zu, bevor sie beide lautstark deklamierten: »Ehebrecher!«

Ihre Mütter sahen sie einigermaßen geschockt an.

»Und dann?« Sheila hielt sich die Hand vor den Mund. »Für so etwas fliegt man doch achtkantig von der Schule.«

Benjamin schüttelte den Kopf. »Gar nichts ist passiert.«

»Harding weiß genau, was er tut«, sagte Philip. »Er weiß genau, wie weit er gehen kann.«

Die Stimme seines Vaters wurde indes immer lauter und lauter, während der Alkohol seinen Tribut zu fordern begann.

»Ich weiß ja nicht, was in den Sternen steht«, dröhnte Sam, worauf Barbara ein leises Stöhnen von sich gab, weil er so immer seine Prognosen einleitete, »aber auf eines verwette ich Haus und Hof. In zwei Jahren ist der Eiertanz in Irland ein für allemal vorbei.«

»Wieso fragst du überhaupt nach der alten Zuckerpflaume?« wollte Benjamin von seiner Mutter wissen.

»Ach, einfach so.«

»Und soll ich euch auch sagen, warum?« fuhr Sam fort. »Weil die Burschen von der IRA nämlich Schlappschwänze sind!«

»So hab ich selten jemand reden hören«, sagte Sheila, die nach wie vor bei Mr. Plumb war. »Mit Worten kann er wirklich umgehen, das muß man schon sagen.«

Barbara nickte zerstreut. Sie sah zu ihrem Mann hinüber, der mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, bevor er sagte: »Die markieren den starken Max, aber in Wirklichkeit sind das alles Waschlappen! Waschlappen, sage ich euch!«

»Ja, das kann er«, sagte Barbara gedankenverloren. Dann stand sie auf, bevor sie abrupt das Thema wechselte. »Komm, Sheila, kümmern wir uns um den Abwasch.«

Die Diskussion ihrer Väter begann Benjamin und Philip schnell zu langweilen. Benjamin brannte darauf, Philip die Platten vorzuspielen, die ihm Malcolm ein paar Tage zuvor geliehen hatte, und so verzogen sich die beiden auf Benjamins Zimmer. Bei einer Aufräumaktion am Nachmittag hatte er bereits den Tischkalender verschwinden lassen, in dem er neben seinem Hausaufgabenplan peinlich genau eintrug, welche Filme er im Fernsehen gesehen hatte, und dabei auch gleich alle Spuren getilgt, die auf den großen humoristischen Roman hingewiesen hätten, an dem er gerade arbeitete; selbst seinem engsten Freund wagte er nicht anzuvertrauen, welchem ehrgeizigen Projekt er sich seit neuestem widmete, daß er glaubte, eine Berufung gefunden zu haben, ein kreatives Betätigungsfeld, das ihm mindestens so wichtig, wenn nicht gar wichtiger als seine musikalischen Gehversuche war. An der Wand hing ein Poster seines ehemaligen Helden Eric Clapton, gleich neben einem von J.R.R. Tolkien selbst gezeichneten Bild von Bilbo Beutlins Haus in Beutelsend und einer detaillierten Karte von Mittelerde, wo sich sowohl Benjamin als auch Philip besser auskannten als auf den Britischen Inseln.

»Hör dir das mal an«, sagte Benjamin, während er nervös zusah, wie sich die Nadel seines tragbaren Mono-Plattenspielers in das kreisende Vinyl fräste. »Genau so stelle ich mir den Sound unserer Band vor.«

»Übrigens«, sagte Philip. »Mir ist ein genialer Name für die Band eingefallen.« Er wies auf die Karte an der Wand, fuhr zielsicher mit dem Finger über das Nebelgebirge und hielt ein paar hundert Elfenmeilen südöstlich von Fangorn inne. »Minas Tirith.«

Benjamin zog eine Kennermiene. »Gar nicht übel.« Das erste Stück des Albums lief jetzt seit etwa einer halben Minute; Gitarre und Saxophon spielten eine schräge, zweistimmige Melodie, die mit einem vertrackten Rhythmus unterlegt war, der sich Benjamin immer noch nicht ganz erschlossen hatte. Die Musik klang eigenwillig, intellektuell und leicht durchgeknallt. »Und? Was meinst du dazu?«

»Hört sich an, als würden sie ihre Instrumente stimmen«, sagte Philip. »Wie heißt die Band?«

»Henry Cow«, sagte Benjamin. »Der Freak hat mir die Scheibe geliehen.«

»Wer?«

»Malcolm. Lois’ Freund.«

»Oh.« Philip klang noch deprimierter als vorher. »Ich wußte nicht, daß sie einen Freund hat.« Stirnrunzelnd betrachtete er das Plattencover, auf dem eine aus Ketten gestrickte Socke abgebildet war. »Geht das die ganze Zeit so weiter?«

»Es wird noch abgefahrener«, sagte Benjamin, stolz auf seine Neuentdeckung. »Ohne offene Ohren geht da gar nichts, sagt Malcolm. Sie sind wohl ziemlich von Dada beeinflußt.«

»Wer oder was ist denn Dada?« sagte Philip.

»Keine Ahnung«, gab Benjamin zu. »Na ja ... Man muß sich das ungefähr so vorstellen, als würden die Yardbirds in den Trümmern des geteilten Berlin mit Ligeti ins Bett gehen.«

»Wer ist Ligeti?«

»Ein Komponist«, sagte Benjamin. »Glaube ich jedenfalls.« Er griff nach seiner Gitarre und versuchte vergeblich, zur atonalen Melodie der Geige zu spielen.

»Wieso ist Berlin überhaupt geteilt?« fragte Philip. »Das hab ich mich schon immer gefragt.«

»Keine Ahnung... Wahrscheinlich fließt ein Fluß durch die Stadt. So wie die Themse. Ich glaube, die Donau oder so.«

»Ich dachte, es hätte etwas mit dem kalten Krieg zu tun.«

»Kann sein.«

Benjamin legte die Gitarre wieder beiseite. Von unten drang gedämpftes Gelächter zu ihnen herauf, dann ertönte ein dumpfer, gleichförmiger Schlagzeugrhythmus. Sein Vater spielte wieder diese gräßliche James-Last-Platte auf der Kompaktanlage. Angewidert verzog er das Gesicht.

»Worum geht’s eigentlich bei diesem kalten Krieg? Ich meine, was soll das überhaupt heißen, kalter Krieg?«

»Na ja«, sagte Benjamin, der nur schwer Interesse für das Thema aufbringen konnte. »Soweit ich weiß, ist es in Berlin ziemlich kalt.«

»Aber ich dachte, das hätte etwas mit Amerika und Rußland zu tun.«

»In Rußland ist es sowieso saukalt. Weiß doch jeder.«

»Und Watergate? Hast du ’ne Ahnung, in was Präsident Nixon da verwickelt ist?«

»Nein.«

»Wieso ist das Benzin so teuer?«

Benjamin zuckte mit den Schultern.

»Wieso bringt die IRA dauernd Leute um?«

»Weil sie Katholiken sind, glaube ich.«

»Wieso gibt es dauernd Stromsperren?«

»Ich glaube, wegen der Gewerkschaften.« Er drehte die Lautstärke auf, weil gleich seine Lieblingsstelle kam. »Hör dir das an – der Sound ist echt unglaublich.«

Philip seufzte und begann, auf und ab zu gehen, offenbar nicht besonders zufrieden mit ihrem Rundumschlag in Sachen aktueller Weltgeschichte. »Von Politik haben wir ja nicht gerade viel Ahnung«, sagte er. »Findest du nicht auch?«

»Na und? Ist doch egal, oder?«

Philip grübelte kurz darüber nach, ohne daß ihm eine Antwort einfallen wollte. Vielleicht hatte Benjamin recht, und es war tatsächlich egal. Vielleicht war die Lateinarbeit am Montag wichtiger. Vielleicht war es wichtiger, seine Ambitionen erst einmal im kleinen Rahmen zu verwirklichen, sich darum zu kümmern, einen Artikel in der Schülerzeitung unterzubringen, irgendwie die Aufmerksamkeit der schönen Cicely Boyd auf sich zu ziehen (und sei es nur für einen winzigen Moment) und endlich die Band zu gründen, die Band, von der sie jetzt schon seit Monaten redeten, auch wenn die Besetzung nach wie vor lediglich aus Benjamin und ihm selbst bestand. Vielleicht war das alles wirklich wichtiger.

»Und? Was meinst du zu Minas Tirith?« fragte er.

»Wie gesagt«, antworte Benjamin, »nicht übel. Aber erst mal sollten wir uns darüber klarwerden, was für Musik wir machen wollen.«

»Und wenn wir so was machen wie Yes? Mum und Dad haben mir Tales from Topographic Oceans zu Weihnachten geschenkt. Sagenhafte Scheibe. Ich bring sie dir Montag mit in die Schule.«

Benjamin antwortete nicht. Vielleicht ahnte er bereits, daß das ganze Unternehmen von vornherein zum Scheitern verurteilt war, auch wenn er sich das niemals eingestanden hätte. Damals war er noch optimistisch.

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