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Am Morgen nach dem Elternabend kam Chase in das Klassenzimmer, warf seine Tasche neben seinen Tisch und ging zu Benjamins Platz am Fenster, um eine dramatische Ankündigung zu machen.

»Demnächst komm ich bei dir zum Abendessen vorbei.«

Benjamin sah von seinem Buch auf (er paukte gerade französische Verben) und sagte: »Was hast du gesagt?«

»Meine Eltern sind bei euch zum Abendessen eingeladen.« Chase freute sich weidlich an Benjamins Überraschung. »Ich komme auch mit.«

»Wann?«

»Nächsten Samstag. Haben sie dir nichts davon gesagt?«

Benjamin war leicht eingeschnappt, weil ihn niemand über diese unvorhergesehenen Pläne informiert, geschweige denn nach seinem Einverständnis gefragt hatte. Als er nach Hause kam und seine Mutter nach der Sache fragte, erfuhr er, daß seine Eltern die Chases gestern abend auf dem Elternabend am King William’s kennengelernt hatten.

Benjamin hatte sich einiges von diesem Elternabend erwartet. Nicht, weil er mit Lobeshymnen auf seine Leistungen rechnete, sondern weil seine Eltern erst spät nach Hause kommen würden und daher gute Chancen bestanden, daß er das Wohnzimmer – und damit den Fernseher – bis zu ihrer Rückkehr für sich alleine hatte. Ein echter Glücksfall, da auf BBC 2 um neun ein französischer Film lief, der in der Programmzeitschrift als »zart-erotische Liebesgeschichte« angekündigt war und mit ziemlicher Sicherheit ein paar Nacktszenen enthalten würde. Benjamin konnte kaum glauben, was er für einen Dusel hatte. Paul würde er spätestens um halb neun ins Bett verfrachten, wenn nötig auch unter Androhung körperlicher Gewalt. Vor zehn Uhr waren seine Eltern garantiert nicht zurück; den drei hübschen Hauptdarstellerinnen der »ebenso provokativen wie aufschlußreichen Studie einer modernen amour fou« (Philip Jenkinson in der Radio Times) blieb also mindestens eine satte Stunde Zeit, sich vor den Kameras zu entblättern. Es war fast zu schön, um wahr zu sein.

Und Lois? Lois würde ebenfalls nicht da sein, wie jeden Dienstag-, Donnerstag- und Samstagabend. Sie war mit dem Freak verabredet.

Sie waren jetzt seit fast drei Monaten fest zusammen. Er hieß Malcolm, und obwohl Lois ihn nur selten mit nach Hause brachte, hatte ihre Mutter genug gesehen, um sich ein Bild von ihm zu machen; sie fand ihn schüchtern, höflich und sehr sympathisch. Seine pechschwarzen Haare waren schulterlang, aber ebenso gepflegt wie sein Bart, und seine ausgeflipptesten Klamotten bestanden aus einem Ensemble aus verschlissenen Jeans, rostfarbener Kordjacke und einem braunen T-Shirt. Er sprach sie mit »Mrs. Trotter« an und schien ihrer Tochter gegenüber nur die lautersten Absichten zu hegen. Ihres Wissens nach liefen Lois’ Verabredungen mit Malcolm auf kaum Verfänglicheres als ein paar gemeinsame Stunden im Gun Barrels oder dem Rose & Crown hinaus, wo sie bei Bier und Shandy die Köpfe zusammensteckten. Sporadisch besuchten sie Konzerte, die Malcolm – zunächst rätselhafterweise – als »Gigs« zu bezeichnen pflegte, bei denen sich in Sheilas banger Vorstellung drogenbenebelte Teenager ekstatisch zum aufpeitschenden Lärm langhaariger Gitarristen und Drummer wanden. Doch kam ihre Tochter von diesen Orgien immer vor Mitternacht zurück, ohne daß irgend etwas Schlimmes passiert zu sein schien.

Kurz nach sieben kündigte das melodiöse Läuten der Türglocke Malcolm an. Lois war spät dran; sie befand sich noch im Badezimmer, wo sie mit jenen mysteriösen Verrichtungen beschäftigt war, die ihren Verabredungen mit Malcolm unweigerlich vorausgingen und jedesmal mindestens eine Dreiviertelstunde beanspruchten. Auch seine Eltern waren schwer damit beschäftigt, sich für den Abend am King William’s in Schale zu werfen, und so fiel es Benjamin zu, den Freier seiner Schwester ins Wohnzimmer zu führen, wo dieser verlegen von einem Bein aufs andere trat.

Sie nickten einander zu, und Malcolm grinste ihn verschwörerisch an. »Alles klar, Alter?« Im großen und ganzen gar kein so schlechter Anfang. Aber Benjamin wußte immer noch nicht, was er sagen sollte.

»Wem gehört denn die Klampfe?« Malcolm wies auf eine mit Nylonsaiten bespannte Konzertgitarre, die an einem der Wohnzimmerstühle lehnte. Es war Benjamins Instrument. Seine Mutter hatte sie ihm vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt.

»Oh. Da spiele ich manchmal drauf.«

»Klassische Gitarre?«

»Meistens Rock«, sagte Benjamin. Dann fügte er hinzu, in der Hoffnung, es möge sein Gegenüber beeindrucken: »Und Blues.«

Malcolm lachte. »Also, nach B.B. King siehst du mir nicht aus. Bist du Clapton-Fan?«

Benjamin zuckte mit den Schultern. »Clapton ist okay. Am Anfang hat er mich schon ein bißchen beeinflußt.«

»Verstehe. Aber inzwischen hast du ihn hinter dir gelassen.«

Benjamin erinnerte sich an etwas, das er im Sounds gelesen hatte. Ein Zitat von irgendeinem progressiven Musiker. »Mir geht’s darum, die Grenzen des Drei-Griffe-Songs zu überwinden«, sagte er. Er wußte selbst nicht so recht, wieso er Malcolm plötzlich in seine musikalischen Vorlieben einweihte, über die er für gewöhnlich mit niemandem redete. »Ich schreibe gerade eine Art Suite. Eine Rocksymphonie.«

Malcolm lächelte wieder, sagte dann aber ohne jede Herablassung: »Da liegst du voll im Trend. Die Szene ist für alles offen.« Er setzte sich auf das Sofa und verschränkte die Hände über den Knien. »Und du hast recht mit Clapton. Er hat keine eigenen Ideen mehr. Inzwischen spielt er Bob-Marley-Songs nach. Also, wenn du mich fragst, ist das nichts als kulturelle Annexion. Neokolonialismus auf musikalischem Gebiet.«

Benjamin nickte und versuchte, nicht allzu entgeistert aus der Wäsche zu sehen.

»Spielst du in ’ner Band?« fragte Malcolm.

»Bis jetzt noch nicht. Aber ich würde schon gern.«

»Wenn du dich näher damit beschäftigen willst, könnte ich dir mal die eine oder andere Platte leihen«, sagte Malcolm. »Da gibt’s wirklich abgefahrene neue Sachen. Total ausgeflipptes Zeug.«

Benjamin nickte erneut; je weniger er verstand, desto mehr faszinierte ihn, was Malcolm sagte.

»Das wär echt super«, brachte er hervor.

»Da gibt’s diesen Gitarristen, Fred Frith«, fuhr Malcolm fort. »Spielt in ’ner Band namens Henry Cow. Irre, was der aus seiner Fuzzbox rausholt. Hört sich ungefähr so an, als würden die Yardbirds in den Trümmern des geteilten Berlin mit Ligeti ins Bett gehen.«

Das Gesagte hätte Benjamin, der weder über die Yardbirds noch über Ligeti im Bilde war – von den Trümmern des geteilten Berlin ganz zu schweigen –, durchaus die Grenzen seiner Vorstellungskraft aufzeigen können. Im selben Moment aber wurde er von Lois erlöst, die zu den beiden ins Wohnzimmer trat.

»Wahnsinn, Liebes.« Malcolm erhob sich eilfertig vom Sofa. »Du siehst einfach toll aus.« Es schien ihm absolut kein Problem zu bereiten, von einer Sekunde auf die andere die Tonart zu wechseln.

Sie küßten sich auf die Wangen, und Malcolm sagte: »Hier, ich hab dir was zum Valentinstag mitgebracht.« Er überreichte ihr eine kleine braune Tüte, in der sich eine Schachtel Pralinen befand. Als sie das Geschenk zutage förderte, leuchteten Lois’ Augen vor Freude. Benjamin, der seine Schwester genauer beobachtete, als ihm bewußt war, bemerkte ihre Reaktion, und für einen Augenblick sprang der Funke ihrer überschwenglichen Gefühle auf ihn selbst über; mit einem Mal verspürte er eine bislang ungekannte Verbundenheit mit diesem Mann, dem es so mühelos gelang, seine Schwester glücklich zu machen. Malcolm sah ihn verschwörerisch aus dem Augenwinkel an.

»Denk dran«, sagte er, während er Lois in ihren Mantel half. »Henry Cow. Ich bring die Scheibe nächstes Mal mit.«

»Ja«, sagte Benjamin. »Ich bin echt gespannt.«

Lois sah die beiden leicht verwirrt an. Sie rief Sheila noch ein »Tschüs« zu, dann waren sie verschwunden.

Benjamin ging nach oben, um seinem Bruder einen Besuch abzustatten und ein paar Grundregeln für den Abend festzulegen. Paul saß an seinem Fenster und sah auf den kleinen Vorgarten und die Straße hinaus. Von hier aus hatten sie auch Lois und Malcolm im Blick, die an der Bushaltestelle standen; sie hielt sich an seinen Mantelaufschlägen fest und sah zu ihm auf, eingehüllt vom bernsteinfarbenen Schein einer Laterne. Aufmerksam beobachteten die beiden Brüder die Szene: Für Benjamin stellte sie vielleicht so etwas wie ein romantisches Ideal dar, nach dem er sich allmählich ebenfalls zu sehnen begann; Pauls Gründe waren von etwas prosaischerer Natur.

»Na, was meinst du?« sagte er.

Benjamin sah ihn an. »Mhm?«

»Hatten sie schon welchen?«

»Was?«

Paul sprach ganz langsam, als wäre sein Gegenüber leicht zurückgeblieben. »Hatten sie schon Geschlechtsverkehr miteinander?«

Benjamin wich erschrocken zurück. »Und wenn?«

»Was?«

»Du bist ein mieser kleiner Perverser, weißt du das? Das gehört sich nicht, so über seine Schwester zu sprechen.«

Paul gab ein hämisches Kichern von sich. »Ich sag, was mir paßt.«

Benjamin ging zur Tür; mit dem kleinen Monster würde er sich nicht auf einen Streit einlassen. »Um halb neun liegst du in der Falle«, sagte er. »Sonst mach ich dir die Eier mit dem Nudelholz platt.«

Aber im Zwielicht von Pauls Nachttischlampe war nur schwer zu erkennen, ob er ihn damit eingeschüchtert hatte.

Anläßlich des Elternabends waren die Bänke aus der Aula entfernt und durch mehrere Reihen von regelmäßig im Raum verteilten Tischen ersetzt worden. Hinter den Tischen saßen die Lehrer, um sich den Fragen besorgter Eltern zu widmen, die, je nach Temperament, mit verzagten, mild amüsierten oder wutschäumenden Mienen ihnen gegenüber hockten. An einigen Tischen hatten sich lange Schlangen gebildet, was zum Teil daran lag, daß manche Fächer als wichtiger erachtet wurden als andere, aber auch an der Unfähigkeit einiger Lehrer – Mr. Fairchild (Deutsch und Französisch) etwa war so ein Fall –, sich in den Beurteilungen ihrer Schüler kurz zu fassen. Andere wiederum – wie zum Beispiel Mr. Grimshaw (Religion) – wurden so gut wie überhaupt nicht in Beschlag genommen. Die Aula hallte von lauten Stimmen wider; insgesamt ging es leicht chaotisch zu.

Sheila bahnte sich ihren Weg zwischen den Tischen hindurch, eine Liste mit den Namen jener Lehrer in der Hand, die sie sprechen wollte; Colin, der ihr folgte, wirkte etwas weniger entschlossen. Er hielt Ausschau nach Bill Anderton. Wegen des blödsinnigen Streiks war immer noch mehr als das halbe Werk lahmgelegt, und er hatte nicht übel Lust, Bill mal ordentlich die Meinung zu geigen. Er hatte sich sogar schon ein paar geharnischte Sätze zurechtgelegt, auch wenn er im Grunde seines Herzens nur allzugut wußte, daß er nie den Mut aufbringen würde, sie Bill ins Gesicht zu sagen. Davon abgesehen, hatte er sich den falschen Tag ausgesucht. Bill war weit und breit nicht zu sehen.

Sheila ging zuerst zu Mr. Earle, dem Musiklehrer, dem es sichtlich Kopfzerbrechen bereitete, als sie sich nach den Fortschritten ihres Sohnes erkundigte. Der Name »Trotter« kam ihm irgendwie bekannt vor, auch wenn er kein Gesicht damit in Verbindung bringen konnte.

»Aber Sie müssen ihn kennen«, beharrte sie. »Er ist doch so musikalisch. Er spielt Gitarre.«

»Äh, ja.« Nun hatte er eine Ausrede. »Wissen Sie, hier bei uns am King William’s gilt die Gitarre nicht als richtiges Instrument. Jedenfalls nicht als klassisches Instrument, um genau zu sein.«

»Das ist ja lächerlich!« sagte Sheila. Sie kehrte ihm den Rücken zu und zog Colin hinter sich her; sie stellten sich hinter fünf oder sechs Paaren an, die mit Mr. Plumb, dem Kunstlehrer, sprechen wollten. »Kein richtiges Instrument? Was soll das denn heißen? Das mißfällt mir immer wieder an dieser Schule. Dieses ganze blasierte Getue.«

»Da haben Sie völlig recht.« Die Frau vor ihr hatte sich umgewandt. »Wissen Sie, was mich ärgert? Daß die Jungs hier keinen Fußball spielen dürfen. Nur Rugby. Als wären wir hier in Eton oder so.«

»Dabei war unser Philip eine echte Kanone als rechter Innenverteidiger«, fügte ihr Mann hinzu. »Und jetzt ist es ein für allemal Essig damit.«

»Sie sind doch Sheila, nicht wahr?« Die Frau streckte die Hand aus. »Barbara Chase. Ihr Ben hat doch auch letztes Jahr in dem Stück mitgespielt. Dieser gräßlichen Shakespeare-Aufführung.«

Sie sprach von Mr. Fletchers gnadenlos öder Inszenierung von Ben Jonsons Alchemist, die kurz vor Weihnachten erwartungsvolle Eltern in einen Zustand glotzäugiger Katatonie versetzt hatte. Sheila hatte das Programmheft trotzdem aufbewahrt und liebevoll zu den Zeugnissen ihres Sohnes gelegt. Die Namen Chase und Trotter standen ganz unten auf der Besetzungsliste; die beiden hatten zwei Taubstumme gespielt.

Nachdem sie sich einander vorgestellt hatten, teilten sich die vier nach Geschlechtern auf. Sam Chase sah, daß der Sportlehrer gerade nicht belagert wurde, worauf er und Colin zu ihm hinübergingen, um ihn auf das leidige Thema Fußball anzusprechen, und im Nu eine ebenso lebhafte wie hitzige Auseinandersetzung ihren Lauf nahm. Unterdessen warteten Barbara und Sheila auf eine Audienz bei Mr. Plumb. Die Schlange vor seinem Tisch bewegte sich nur langsam vorwärts. Sheila fiel sofort seine Körpersprache auf. Er wandte sich ausschließlich an die Mütter der jeweiligen Jungen und vermied jeglichen Blickkontakt mit deren Vätern, die er im Grunde gar nicht wahrzunehmen schien. Er trug eine flaschengrüne Kordjacke mit Lederflicken an den Ellbogen, dazu ein blaukariertes Hemd und eine leuchtendrote Krawatte mit grünlichen Punkten. Ein dünnes Bärtchen hing schlaff über seine schmalen Lippen, die so dunkel waren, als hätte er gerade Rotwein getrunken. Während er mit den Frauen sprach, starrte er ihnen so direkt in die Augen, daß es schon an Belästigung grenzte. Wie sie kurz darauf herausfinden sollten, hatte er eine hohe, schrille Stimme, die seinem Tonfall etwas Weibisches verlieh.

»Nicht zu fassen«, stieß er hervor, als sie vor ihm standen. Er fixierte sie so durchdringend wie ein unter Strom stehendes Frettchen. »Mit wem habe ich denn die Ehre?«

Die beiden Frauen wechselten einen kurzen Blick und kicherten. »Ich bin Barbara, und das ist meine Freundin Sheila.«

»Ich verstehe.« Er sah Barbara an. »Kennen Sie Morales?«

»Ich glaube nicht«, sagte sie unbeeindruckt.

»Sie kennen die Madonna mit Kind nicht?«

»Nicht persönlich«, sagte Sheila.

»Sie mißverstehen mich. Ich spreche von einem Gemälde. Es hängt im Prado.« Er wandte sich wieder Barbara zu, um sie genau in Augenschein zu nehmen. »Die Ähnlichkeit ist wirklich frappierend. Sie sehen fast genauso aus. Ja, die Übereinstimmung ist nahezu unheimlich. Nachgerade... thaumaturgisch.«

Barbara warf Sheila einen weiteren nervösen Blick zu, als wollte sie sich vergewissern, ob das auch alles wirklich passierte, bevor sie sagte: »Ich bin wegen meinem Sohn hier. Meinem Sohn Philip. Ich wollte mich erkundigen, wie er so vorwärtskommt.«

»Dann sind Sie also ...« Mr. Plumb machte eine Pause, wie um die Worte genüßlich auszukosten. »... Mrs. Chase. Der Name zergeht einem ja geradezu auf der Zunge.« Sein euphorischer Tonfall brach ab; mit ernster Stimme fuhr er fort. »Ihr Sohn, Madam, ist ein außerordentlich begabter Junge. Seinen Umgang mit dem Pinsel kann man nur als wahre Kunstfertigkeit bezeichnen, von seiner Kreativität und überbordenden Phantasie ganz zu schweigen. Besonders hervorzuheben ist meiner Ansicht nach sein hoch entwickeltes ästhetisches Sensorium, sein Streben nach Harmonie und Formvollendung. Bis jetzt war es mir immer ein Rätsel, woher diese phänomenale Sensibilität rührt. Doch dieses Mysterium ist mir ja nun entschlüsselt worden.« Seine Stimme bebte derart dramatisch, daß er nur noch komisch wirkte, und doch war es Barbara unmöglich, ihren Blick von ihm zu wenden, während sie tief und tiefer in seine Augen starrte. »Nun, jetzt ist mir alles klar. Wie soll er denn nicht nach Formvollendung streben, wo er sie doch jeden Tag seines wunderbaren Daseins aufs neue in Gestalt seiner Mutter erlebt?«

Ein kurzes, unbehagliches Schweigen schloß sich an, bevor Sheila sagte: »Und was ist mit Benjamin? Benjamin Trotter?«

»Ein passabler Schüler.« Langsam kehrte Mr. Plumb auf den Boden der Tatsachen zurück. »Ein annehmbares Talent mit Licht und Schatten. Er bemüht sich. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen.«

Plötzlich wurde Barbara bewußt, daß hinter ihnen noch andere Leute anstanden.

»Wir haben Sie lange genug aufgehalten«, stammelte sie. »Schön, daß Philip sich so gut macht. Vielleicht können wir uns ein andermal länger unterhalten.«

»Bestimmt«, sagte Mr. Plumb, während er sie mit noch brennenderem Blick durchbohrte. »Ja, bestimmt. Da bin ich mir ganz sicher.«

Einen schwindelerregenden Augenblick lang dachte Barbara, daß er gleich ihre Hand küssen würde. Doch dann war der Moment vorbei, und als sie im Gehen noch einmal unwillkürlich einen Blick zurückwarf, sah sie, daß er sich bereits der nächsten besorgten Mutter zugewandt hatte.

Sheila stieß ein abschätziges Lachen aus. »Was für ein Schaumschläger! Hält der sich für Sacha Distel, oder was?«

Sie sah Barbara an, doch diese reagierte nicht. Ein verträumter Ausdruck lag in ihren Augen.

Dann fiel Sheila plötzlich etwas anderes ein. »Hättet ihr nicht Lust, Samstag zum Dinner zu uns zu kommen?«

»Zum Dinner?«

»Ja, natürlich. Kommt doch vorbei. Ben würde sich bestimmt auch freuen. Er erzählt oft von Philip. Hat er eigentlich noch Geschwister?«

»Nein. Philip ist unser einziges Kind.« Barbara räusperte sich; ihre zwischendurch brüchig gewordene Stimme klang jetzt fast wieder wie vorher. »Danke für die Einladung. Aber ich muß noch Sam fragen.«

Sam und Colin standen immer noch bei Mr. Warren, obwohl es bei ihrer Diskussion mittlerweile nicht mehr um Sport ging. Irgendwie waren sie auf Politik gekommen und ereiferten sich über die Unfähigkeit der Heath-Regierung. Kopfschüttelnd empörten sie sich darüber, daß sich der Staat von ein paar renitenten Bergarbeitern erpressen ließ; Stromsperren, Benzinrationierungen und Dreitagewochen ließen das Land allmählich auf ein Niveau herabsinken, wie man es sonst mit Osteuropa oder der Dritten Welt in Verbindung gebracht hätte. Am 28. Februar waren jedoch Wahlen, und Sam Chase und Mr. Warren hatten sich bereits entschieden: Heath mußte endlich seinen Hut nehmen. Der Mann hatte zur Genüge bewiesen, daß er restlos untauglich war, die Staatsgeschäfte zu lenken.

Colin standen die Haare zu Berge. »Ihr wollt für Wilson stimmen und die Sozialisten wieder an die Macht lassen? Genausogut könnt ihr den Bergarbeitern gleich den Schlüssel zu den Kronjuwelen geben.«

Mr. Warren erklärte, der einzige wählbare Tory sei Enoch Powell – dem Rest der Bande würde er kein Wort mehr glauben. Powell jedoch hatte sich öffentlich von seiner Partei distanziert, um gegen Englands Beitritt zur EG zu protestieren, und stand nicht als Kandidat zur Verfügung.

»Der Mann sagt die Wahrheit«, betonte Mr. Warren. »Powell ist einer von der alten Schule, und obendrein ein Visionär.«

Sam nickte. »Und ein echter Birminghamer.«

Als sie eine halbe Stunde später unterwegs nach Hause waren, schäumte Colin immer noch vor Wut über die Ignoranz der britischen Wähler. »Wilson!« murmelte er alle paar Sekunden, halb zu sich selbst, halb an seine Frau gewandt, die ihm aber kaum Beachtung schenkte. Sie fragte sich, weshalb ein intelligenter Junge wie Benjamin so wenig Eindruck bei seinen Lehrern hinterließ. Die Sache beschäftigte sie so sehr, daß sie bereits fast wieder in Longbridge waren, bevor sie sich an Colin wandte: »Oh, ich habe übrigens die Chases für Samstag zum Dinner eingeladen.«

»Schön«, sagte er geistesabwesend.

Als sie durch die letzten paar Straßen fuhren, bemerkte er, daß die Fenster der grauen, stillen Häuser ausnahmslos dunkel waren.

»Schon wieder Stromsperre«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich fasse es nicht. Verdammt noch mal, ich faß es einfach nicht.«

Genauso ging es Benjamin, der bei Kerzenlicht in seinem Zimmer alte Sounds-Ausgaben nach Artikeln über Henry Cow durchkämmte. Um 20:45 Uhr, kurz nachdem er seinen Bruder ins Bett verfrachtet hatte, war der Strom ausgefallen – eine Viertelstunde bevor sein Film angefangen hätte.

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