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1 Winter

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Stell dir das mal vor!

15. November 1973. Ein Donnerstagabend, Nieselregen, der sacht gegen die Fensterläden fällt, während die Familie sich im Wohnzimmer versammelt hat. Alle außer Colin, der unterwegs zu einem Termin ist und seiner Frau und den Kindern Bescheid gegeben hat, daß sie nicht auf ihn zu warten brauchen. Eine schmiedeeiserne Stehlampe spendet mattes Licht. Im Kohleofen zischt es.

Sheila Trotter liest in der Daily Mail: »Die Treue zu halten, in guten und in bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit – dies ist die Grundlage, die Ehepaare auch in schwierigen Zeiten zusammenstehen läβt.«

Lois liest Sounds: »Er, 18, Katzenfan, sucht Girl aus London, das auch auf Sabbath steht. Nur Freaks bitte.«

Paul, schon damals frühreif, liest in Unten am Fluß: »Der Anblick eines Flugzeugs wird Stammesangehörige in entlegensten Gebieten Afrikas wider Erwarten wohl kaum verwundern; ein solcher Anblick liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft.«

Was Benjamin angeht... Er sitzt wahrscheinlich gerade am Eßtisch und macht seine Hausarbeiten; mit gerunzelter Stirn und konzentriert vorgeschobener Zunge. (Eine Eigenart unserer Familie: Meine Mutter sieht genauso aus, wenn sie vor ihrem Laptop hockt.) Geschichte vielleicht. Jedenfalls etwas, das ihm nicht leicht von der Hand geht. Sein Blick schweift zur Uhr auf dem Kaminsims. Systematiker, der er ist, hat er sich ein Zeitlimit gesetzt. Noch zehn Minuten. Zehn Minuten, um zur Lösung der Aufgabe zu kommen.

Ich tue mein Bestes, Patrick, ganz ehrlich. Aber es ist gar nicht so einfach, die Geschichte meiner Familie zu erzählen. Onkel Benjamins Geschichte, um genau zu sein.

Ich bin nicht mal sicher, ob das wirklich der optimale Anfang ist. Aber wahrscheinlich ist es egal, wo man beginnt, und ich habe mich für diesen Abend entschieden. Einen Novemberabend vor fast dreißig Jahren, der bereits dunkel den Winter ankündigt.

Den 15. November 1973.

Lange Gesprächspausen waren an der Tagesordnung. Sonderlich viel wurde in der Familie nie geredet. Alle waren einander ein Rätsel, und nicht zuletzt wohl auch sich selbst; bis auf Lois natürlich. Ihre Bedürfnisse waren simpel und klar umrissen, und am Ende wurde sie dafür bestraft. Na ja, jedenfalls sehe ich das so.

Ich glaube nicht, daß sie besonders hochtrabende Ansprüche ans Leben hatte. Ich glaube, sie wollte einfach Leute um sich herum haben, ein bißchen Unterhaltung. Bei der Familie hätte durchaus eine Plaudertasche aus ihr werden können; aber sie war keine von denen, die dauernd mit kichernden Freundinnen um die Häuser zog. Sie wußte genau, was sie wollte, da bin ich mir ganz sicher; schon damals, obwohl sie gerade erst sechzehn war. Und sie wußte auch, wo sie danach Ausschau halten mußte. Seit ihr Bruder jeden Donnerstag auf dem Heimweg von der Schule das neue Sounds kaufte, war es zu ihrem verstohlenen wöchentlichen Ritual geworden, so zu tun, als würde sie die Anzeigen für Poster und Klamotten (»Arbeiterhemden aus Baumwolle in Schwarz, Blau, Knallrot, Bordeaux — besonders stark im Partnerlook«) auf den letzten Seiten studieren, obwohl ihre wahre Aufmerksamkeit den Kontaktanzeigen galt. Was sie wollte, war ein Mann.

Sie hatte mittlerweile fast alle Anzeigen durch. Langsam begann sie zu verzweifeln.

»Flippiger Typ (20) sucht verrücktes Girl (16 und drüber) zwecks Partnerschaft. Stehe auf Quo und Zep.«

Nee, das war’s auch nicht. Wollte sie überhaupt einen flippigen Typ? Und ging sie tatsächlich als verrückt durch? Wer waren eigentlich Quo und Zep?

»Supertyp sucht Klassegirl (17-28), das ihm schreibt. Fan von Tull und Pink Floyd.«

»Zwei Freaks suchen anschmiegsame Bräute, 16 und drüber:«

»Kerl (20), Umgebung Kidderminster, sucht attraktive(s) Girl(s).«

Kidderminster lag nur ein paar Meilen entfernt, daher hätte er durchaus etwas sein können, wäre da nicht der in Klammern angegebene Plural gewesen. Den hatte sie durchschaut! Der wollte seinen Spaß und sonst gar nichts. Obwohl das in gewisser Weise sogar vorzuziehen war, verglichen mit der Hoffnungslosigkeit, die in vielen der anderen Anzeigen mitschwang.

»Enttäuschter, einsamer Typ (21), langes dunkles Haar, sucht Kontakt zu rücksichtsvollem, einfühlsamem Girl mit kreativer Ader; progressiv, Folk, Kunst.«

»Einsamer, unattraktiver M (22) sucht weibliche Gefährtin. Aussehen nicht wichtig. Moodies, BJH, Camel etc.«

»Einsamer Who- und Floyd-Fan sucht Freundin für Love & Peace. Kreis Stockport.«

Ihre Mutter legte die Zeitung beiseite und sagte: »Möchte jemand eine Tasse Tee? Limonade?«

Als sie in die Küche gegangen war, legte Paul seine Kaninchensaga weg und griff nach der Daily Mail. Mit müdem, skeptischem Gesichtsausdruck begann er zu lesen.

»Girl für Trip nach Indien gesucht. Start Ende Dez.«

»Girls gesucht, die etwas von der Welt sehen wollen. Bitte schreibt unter...«

Ja, sie wollte etwas von der Welt sehen, jetzt, da sie direkt dran dachte. Der Wunsch war langsam in ihr gewachsen, verstärkt durch Reisesendungen im Fernsehen und Farbfotos in der Beilage der Sunday Times, die ihr zeigten, daß es jenseits der Ortsgrenzen von Longbridge ein ganzes Universum zu entdecken gab, jenseits der Busstation, an der sie immer auf den 62er wartete, jenseits Birminghams und sogar jenseits Englands. Ja, natürlich wollte sie es sehen; und ihre Eindrücke mit jemandem teilen. Sie sehnte sich nach jemandem, der ihre Hand hielt, während der Mond über dem Tadsch Mahal aufging. Sie sehnte sich danach, geküßt zu werden, sanft, aber ganz, ganz lange, vor der atemberaubenden Kulisse der kanadischen Rockies. Sie sehnte sich danach, Ayers Rock im Morgengrauen zu erklimmen. Sie sehnte sich nach jemandem, der um ihre Hand anhielt, während die untergehende Sonne ihre blutroten Finger über den rosa gefärbten Minaretten der Alhambra ausstreckte.

»Motorroller-Boy aus Leeds, okay aussehend, sucht Freundin (17 – 21) für Disco und Konzerte. Bitte mit Foto.«

»Freundin gesucht, Alter egal, aber nicht über 1,50 m. Beantworte alle Zuschriften.«

»Fertig.«

Benjamin schloß sein Aufgabenheft und zog eine Riesenshow ab, während er seine Stifte und Bücher in seiner Schultasche verstaute. Sein Physikbuch fiel langsam auseinander, daher hatte er es mit einem Stück Rauhfaser eingebunden, das von den Tapezierarbeiten im Wohnzimmer vor zwei Jahren übriggeblieben war. Auf sein Englischbuch hatte er einen großen Fuß gekritzelt, der aussah wie der am Schluß des Monty-Python-Vorspanns.

»So, das war’s für heute.« Er stand über seiner Schwester, die sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte. »Komm, gib wieder her.«

Es hatte ihm noch nie in den Kram gepaßt, wenn Lois das Sounds eher als er zu lesen bekam. Offenbar neidete er ihr den privilegierten Zugang zu höchst geheimen Informationen. Tatsächlich aber waren ihr die Artikel vollkommen egal, denen sein verschärftes Augenmerk galt. Meist waren ihr schon die Überschriften ein Rätsel: »Beefheart kommt im Mai«, »Heep mit neuem Album«, »Auflösungsgerüchte um Fanny«.

»Was ist ein Freak?« fragte sie, als sie ihm das Magazin zurückgab.

Benjamin lachte hämisch und zeigte auf ihren neunjährigen Bruder, der mit amüsiert-herablassendem Gesichtsausdruck die Daily Mail studierte. »Da drüben sitzt einer.«

»Weiß ich. Aber ein echter Freak – ich meine, das bedeutet doch irgendwas.«

Benjamin erwiderte nichts; womit es ihm gelang, den Eindruck zu erwecken, daß er die Antwort nur zu gut kannte, wenngleich er es aus irgendwelchen Gründen vorzog, sie nicht öffentlich zu machen. Die meisten Leute betrachteten ihn als klugen Kopf, auch wenn er ganz offensichtlich das genaue Gegenteil davon war. Er schien eine bestimmte Ausstrahlung zu haben, eine nur so vor Selbstbewußtsein strotzende Aura, die ihm irrtümlich als jugendliche Reife ausgelegt wurde.

»Mutter«, sagte Paul, als sie mit seiner Limonade zurückkam, »wieso kaufen wir eigentlich diese Zeitung?«

Sheila starrte ihn seltsam verstimmt an. Sie hatte ihn x-mal gebeten, sie »Mum« und nicht »Mutter« zu nennen.

»Einfach so«, sagte sie. »Warum nicht?«

Paul blätterte durch die Seiten. »Da stehen doch nichts als Platitüden und Kauderwelsch drin.«

Benjamin und Lois prusteten los. »Ich dachte, Kauderwelsch war ein australisches Tier«, sagte sie.

»Der fast nie gesichtete Kauderwelsch«, sagte Benjamin und gab ein paar Trötgeräusche von sich, die dem sagenhaften Tier alle Ehre gemacht hätten.

»Nehmen wir nur mal diesen Leitartikel«, fuhr Paul unbeeindruckt fort. »Es ist immer noch ein unvergleichliches historisches Schauspiel, das die Herzen aller Briten bewegt. Nichts auf der Welt rührt uns mehr als eine königliche Hochzeit.«

»Und?« Sheila gab einen Löffel Zucker in ihren Tee. »Ich bin auch nicht mit allem einverstanden, was ich da drin lese.«

»Als Prinzessin Anne und Mark Philips durch das Portal von Westminster Abbey schritten, breitete sich jenes erhabene Lächeln auf ihren Gesichtern aus, wie es nur wahrhaft seligen Menschen eigen ist. Ich brauch ’ne Kotztüte, aber schnell! Das Gebetbuch mag dreihundert Jahre alt sein, doch seine Gelübde strahlen so hell wie das gestrige Sonnenlicht. Ich muß mich übergeben! Die Treue zu halten, in guten und in bösen Tagen...«

»Schluß jetzt, Herr Neunmalklug!« Das Beben in Sheilas Stimme reichte aus, einen Augenblick lang die Unruhe hörbar zu machen, die ihr jüngster Sohn in ihr auslöste. »Trink das jetzt aus, und dann ab ins Bett!«

Jetzt ging es erst richtig los, als Benjamin lautstark ins Geschehen eingriff, aber Lois hörte gar nicht mehr zu. Das war bestimmt nicht die Art von Verständigung, nach der sie sich sehnte. Sie kehrte ihnen den Rücken und zog sich in ihr Zimmer zurück, in ihre Welt der romantischen Tagträume, ein Königreich unendlicher Schönheit und unbegrenzter Möglichkeiten. Was das neue Sounds anging, war sie doch noch fündig geworden. Sie brauchte auch kein weiteres Mal mehr nachzusehen, da die Chiffre-Nummer ganz einfach zu behalten (247, die Wellenlänge, auf der man Radio One empfangen konnte) und die Anzeige ihrer Wahl von geradezu makelloser, magischer Schlichtheit war. Vielleicht war das der Grund, warum sie wußte, daß sie für sie bestimmt war, nur für sie allein.

»Langhaariger Freak sucht Girl. Birmingham und Umgebung.«

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