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8 Winter

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Seit anderthalb Stunden lief das Band nicht mehr. Niemand schien zu wissen, weshalb. Bill Anderton stand im Hof bei der Laderampe, von Monteuren und Lackierern aus dem Werk umringt, auch wenn er sich weder an ihren maulfaulen Witzen noch an dem improvisierten Fußballspiel beteiligte, mit dem etwa ein Dutzend von ihnen begonnen hatte. Er rauchte seine fünfte oder sechste Zigarette und schnippte die Asche in den Rest kalten Tees in seinem Plastikbecher; wenn er den Rauch ausstieß, vermischten sich die grauen Schwaden in der kalten Luft mit den Atemfetzen seiner Kollegen. An diesem rauhen Novembernachmittag schien ausnahmslos jeder zu rauchen.

Eine hagere Gestalt in einem dunkelgrauen Anzug geriet in seinen Blick; auch dieser Mann zog nervös an einer Zigarette. Es war Victor Gibbs, der noch blasser als sonst aussah. Er nickte Bill zu, der seinen Gruß erwiderte, froh darüber, daß Gibbs anscheinend nicht auf Konversation aus war. Lange konnte er sich allerdings nicht freuen. Gibbs ging zwar an ihm vorbei, hielt dann aber inne. Ein maliziöses Lächeln spielte um seine Lippen, als er sich zu Bill wandte.

»Ich hab noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen, Genosse Anderton«, sagte er. »Wegen dem Brief, den ich dir vor zwei Monaten geschickt habe. Erinnerst du dich?«

Bill erinnerte sich haargenau, antwortete aber: »Ich kriege ’ne Menge Briefe.«

»Es ging um Miss Newman. Aber wir können sie gern auch Miriam nennen.«

Bill wollte nicht darüber reden. Nicht hier. Nur ein paar Schritte von ihnen entfernt lagen die Waschräume, wo er und Miriam sich am Tag zuvor geliebt hatten; die übliche fiebrige, unbequeme Angelegenheit. Je intensiver ihre Affäre wurde, desto freudloser und hektischer kamen ihm die schnellen Nummern vor. Er wollte nicht mit jemand anderem über sie reden. Nicht hier. Nirgends, und schon gar nicht mit Gibbs.

»Ich habe deine Beschwerde nach oben weitergeleitet«, sagte er. »Sie ist auch eingehend geprüft worden. Aber anscheinend war an der Sache nichts dran.«

»Ich habe bis heute keine Antwort auf meinen Brief erhalten.«

»Dafür kann ich nichts. Das muß an anderer Stelle versäumt worden sein.«

Gibbs blickte zur Seite. Alles sah ganz nach einem Patt aus.

»Hübsches Mädchen, diese Miriam«, sagte er schließlich. »Ziemlich... apart. Jede Menge Burschen, die ein Auge auf sie geworfen haben. Tja, aber das können sie sich wohl abschminken.« Er runzelte die Stirn, als sei ihm gerade ein Gedanke gekommen, obwohl Bill genau wußte, daß er sich das alles längst zurechtgelegt hatte. »Soll ich dir mal sagen, was die Puppen echt anmacht? Kannst du dir doch bestimmt denken.«

»Puppen?« sagte Bill angewidert.

»Macht, Genosse Anderton. Das ist es, worauf sie stehen. Das macht sie erst richtig scharf.«

Bill zwang sich, seinem Blick zu begegnen, obwohl ihm selbst das zutiefst zuwider war. »Können wir das Thema dann abhaken, Gibbs? Deine Ansichten interessieren mich ehrlich gesagt nicht besonders.«

»Von mir aus.« Er hob abwiegelnd die Hände. »Ich dachte bloß, das wär ganz nach deinem Geschmack. Ich meine, wenn jemand Macht hat, dann doch wohl du. Die ganzen Malocher hier« – er wies auf die Männer, die immer noch mit ihrem Gekicke beschäftigt waren – »die springen doch schon, wenn du bloß mit dem Finger schnippst. Was ist überhaupt los? Hast du schon wieder den nächsten Streik angezettelt?«

Es gab mehrere Möglichkeiten, wie Bill auf diese Sticheleien reagieren konnte. Er hätte Gibbs einfach den Rücken zukehren und gehen können; außerdem blieb ihm immer noch seine Trumpfkarte, die Unterschlagungen beim Stiftungsfonds aus dem Ärmel zu zaubern, die er bislang wohlweislich für sich behalten hatte. Er beschloß, sich erst mal nicht aus der Reserve locken zu lassen.

»Einer der Jungs hat das Band versehentlich lahmgelegt. Wir warten, bis der Schaden wieder behoben ist.«

»Ist doch komisch, oder?« sagte Gibbs. »Immer, wenn so was passiert – und inzwischen kommt’s doch jede Woche zu so ’nem Vorfall –, passiert es kurz vor der Mittagspause, wenn die Techniker gerade nicht da sind, und schon ist der halbe Tag vorbei, ehe jemand das Band wieder zum Laufen gebracht hat. Und wie viele Wagen werden deshalb wieder nicht produziert? Sechzig? Siebzig?«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, sagte Bill, während es zu nieseln begann. »Aber eines weiß ich ganz sicher – daß du keinen Schimmer von der Arbeit hier hast. Von einem Sesselfurzer wie dir lasse ich meine Leute jedenfalls ganz bestimmt nicht runtermachen.« Er trat seine Zigarette aus, zermalmte sie geradezu unter seinem Fuß. »Geh erst mal selbst zwei Tage ans Band, bevor du hier über irgendwelche Leute herziehst, nur weil sie mal zehn Minuten rumbolzen. Letzte Woche haben sie meinen alten Kumpel Ian Bateman entlassen, mit achtundvierzig und ’ner kaputten Bandscheibe, wegen der er sechs Monate ins Krankenhaus muß. Ja, genau so sieht’s aus, wenn du hier zehn Jahre am Band geschuftet hast.«

Er wollte sich gerade abwenden, als Gibbs sagte: »Na, dein Sohnemann wird ja wohl kaum so enden.«

»Mein Sohn?« Bill hielt mitten in der Bewegung inne.

»Er geht doch auf diese Schule für feine Pinkel, stimmt’s nicht? Diese Scheiß-reiche-Söhnchen-Akademie in Edgbaston. Ne normale Schule ist wohl nicht gut genug für ihn, was?«

Bill trat zwei Schritte auf ihn zu, während seine Schultern auf einmal doppelt so breit zu werden schienen. Es fehlte nur noch der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brächte.

»Was ist los, Gibbs? Sag doch einfach, was du von mir willst.«

»Ich weiß Bescheid über dich und Miriam Newman«, sagte Gibbs seelenruhig.

Plötzlich mußte Bill unwillkürlich lächeln. Ja, er war sogar froh, daß Gibbs endlich die Karten auf den Tisch gelegt hatte. Jetzt mußten sie endlich nicht mehr um den heißen Brei herumreden.

»Das hättest du dir sparen sollen«, sagte er. »Und von den Schecks hättest du besser auch die Finger gelassen.« Er wartete nicht mal ab, bis Gibbs die Gesichtszüge entgleisten. »Ich habe das dumpfe Gefühl«, sagte er über die Schulter, während er ihn einfach stehenließ, »daß einer von uns beiden nächste Woche nicht mehr zur Arbeit zu kommen braucht.«

Wann immer er für den Rest des Tages an diesen Moment zurückdachte, brannte er innerlich geradezu vor Stolz. Aber Hochmut kommt vor dem Fall.

Abends traf er sich mit Miriam im Black Horse in Northfield; anschließend fuhren sie in seinem blauen Marina raus nach Stourbridge. Im dortigen Talbot Hotel trugen sie sich als Mr. und Mrs. Stokes ins Gästebuch ein (womit Bill dem derzeitigen Vorstandsvorsitzenden von British Leyland seine Reverenz erwies). Irene glaubte, daß er auf einer Gewerkschaftstagung in Northampton war. Und dort hätte er eigentlich auch sein sollen, doch hatte er am Nachmittag bei der Zentrale angerufen und sich krank gemeldet. All das hatte er bereits seit einem Monat so geplant. Es war das erste Mal, daß sie eine ganze Nacht miteinander verbrachten.

Sie saßen an einem Tisch in der schummerigen Hotelbar; Bill trank Bier, Miriam einen Dubonnet mit Bitter Lemon. Unter dem Tisch ruhte seine Hand auf ihrem Knie. Es erwies sich als erstaunlich schwierig, eine Unterhaltung in Gang zu bringen.

»Wäre es nicht schön«, sagte Miriam, »wenn wir jeden Abend so miteinander verbringen könnten?«

Bill war sich alles andere als sicher, ob das wirklich so schön sein würde. Langsam begann ihm zu dämmern, daß Miriam und er sich eigentlich kaum kannten. Ja, natürlich kannte er ihren Körper – in- und auswendig sogar, jeden Quadratzentimeter davon –, aber bislang hatten sie kaum miteinander geredet; Zeit dazu war nur in den seltensten Fällen geblieben. Ihre Affäre zog sich jetzt seit elf Monaten hin, doch an diesem Abend kam es Bill plötzlich so vor, als würde er neben einer Fremden sitzen. Er dachte an Irene und spürte, daß er sich nach ihr sehnte; nicht nach bestimmten Gesten oder Worten, einfach nur nach ihrer Gegenwart, ihrer stummen, warmherzigen Art. Er dachte an seinen Sohn, daran, wie Doug wohl zumute sein würde, wenn er wüßte, welche grotesken Versteckspiele sein Vater trieb. Doch als Miriam zur Bar ging, um Nachschub zu holen, elektrisierte ihn einmal mehr der Gedanke, daß sich diese wunderschöne Frau – dieses wunderschöne Mädchen, um genau zu sein – Hals über Kopf in ihn verliebt hatte und ihn heute nacht mit ihrer Leidenschaft verwöhnen würde. In ihn hatte sie sich verliebt, nicht in einen der jungen Ingenieure oder einen der Monteure, die sie immer in der Kantine anquatschten, sondern in ihn, Bill Anderton, einen fast vierzigjährigen Mann, dem bereits die Haare ausgingen. Und doch mußte er etwas an sich haben, das anziehend auf Frauen wirkte, schließlich war sie lange nicht das erste Mädchen, das für ihn schwärmte; er war immer noch stolz darauf, welche Gefühle er bei Frauen entfachte, wie Miriam ihn anhimmelte, selbst nach elf Monaten noch...

Wenn sie ihn bloß nicht die ganze Zeit über so angesehen hätte.

»Cheers«, sagte er und prostete ihr zu.

»Auf uns«, sagte sie, während sie ebenfalls ihr Glas hob.

Sie nippten an ihren Drinks und lächelten einander an, doch nur einen Augenblick später setzte sie ihr Glas ab. Ein schwermütiger Seufzer drang über ihre Lippen, bevor sie sagte: »Ich kann so nicht weitermachen, Bill. Ich kann es einfach nicht.«

Kurz darauf hatte sie sich wieder beruhigt, und sie gingen zum Dinner.

Das Restaurant war groß und leer. Eine Kellnerin führte sie durch das Halbdunkel des Raums nach hinten, eine Kerze in der Hand, die sie schließlich auf dem für sie bestimmten Tisch abstellte – eine Beleuchtung, die sicher auch für romantische Atmosphäre sorgen sollte, aber eigentlich kaum dazu angetan war, das Friedhofsdunkel um sie herum zu erhellen. Aus den Wandlautsprechern tropfte der zähe Schleim von John Denvers »Annie’s Song«. Es war so arktisch kalt, daß Bill die Wachskruste auf dem Kerzenleuchter erst für Eis hielt. Abwechselnd wärmten sie ihre Finger über der Kerzenflamme. Sie sprachen kaum ein Wort, während sie die Speisekarte studierten; das Riesenformat täuschte allerdings nicht darüber hinweg, daß nur drei Gerichte zur Auswahl standen, von denen eines aus war.

Bill entschied sich für den Grillteller. Miriam nahm Hähnchen.

»Möchten Sie Pommes frites als Beilage?« fragte die Kellnerin.

»Was haben Sie denn sonst noch?« wollte Miriam wissen.

»Nur Pommes frites«, sagte die Kellnerin.

»Dann Pommes frites«, sagte Miriam, während sie gegen ihre Tränen ankämpfte.

»Es tut mir leid.« Die Kellnerin sah sie beklommen an. »Mögen Sie keine Pommes frites?«

»Schon gut.« Miriam zog ein Taschentuch hervor. »Es ist alles okay.«

»Natürlich mag sie Pommes frites«, sagte Bill. »Eigentlich ist sie sogar völlig verrückt danach. Wir beide. Es geht um eine Privatsache. Bitte lassen Sie uns allein.« Kurz bevor sie wieder ins Dunkel entschwand, fügte er noch hinzu: »Und bringen Sie uns bitte noch eine Flasche Blue Nun.«

Er zog sein eigenes Taschentuch hervor und tupfte ihre feuchten Wangen ab. Sie stieß ihn weg.

»Tut mir leid«, sagte sie dann. »Es tut mir leid. Ich benehme mich wie eine Idiotin.«

»Macht doch nichts. Die Stimmung hier drückt nicht nur dir aufs Gemüt.«

»Darum geht es nicht.« Miriam zog die Nase hoch. »Es ist wegen Irene. Du mußt sie verlassen. Ich will, daß du sie verläßt und mit mir zusammenziehst.«

»O Gott«, sagte Bill. »Das darf doch wohl nicht wahr sein.«

Seine Worte bezogen sich nicht auf Miriams Forderung – davor hatte ihm schon längst gegraut –, sondern auf eine Gruppe von zwölf Männern und einer massigen, einschüchternd wirkenden Frau im Tweedkostüm, die gerade im Begriff war, an einem nicht weit entfernten Tisch Platz zu nehmen. Die Männer gaben einen kläglichen Haufen ab; die meisten waren mittleren Alters und zu schlecht angezogen, um als Geschäftsleute durchzugehen; als Rugbymannschaft hätten die schlaffen Gestalten wohl auch keine gute Figur gemacht. Sie redeten zwar laut durcheinander, machten aber keinen besonders fröhlichen oder gar ausgelassenen Eindruck; sie schienen sogar Angst zu haben vor der Frau, die sich ein Monokel ins Auge klemmte, nachdem sie Platz genommen hatte. Im Normalfall hätte Bill der abgehalfterten Truppe keinen zweiten Blick geschenkt. Mit dem Unterschied, daß diesmal der Ernstfall eingetreten war: deshalb nämlich, weil sich unter den Männern jemand befand, den er leider nur allzugut kannte; jemand, dem er im Werk jeden Tag über den Weg lief und dessen Kontakt er möglichst zu meiden versuchte. Es handelte sich um den Mann, der nicht nur sein Waffengefährte im Arbeitskampf, sondern auch seine persönliche Nemesis war: Roy Slater.

»Rühr dich nicht vom Fleck«, sagte Bill. »Sag jetzt nichts, und dreh dich bloß nicht um. Wir müssen von hier verschwinden.«

»Was ist denn?« sagte Miriam. »Hast du mir eigentlich überhaupt zugehört?«

»Ja, natürlich«, sagte Bill. »Wir reden darüber, ich verspreche es dir. Aber jetzt« – er warf einen Blick über die Schulter und entdeckte zu seiner Erleichterung gleich hinter ihnen eine mit Samttapete beklebte Tür – »müssen wir hier schleunigst verschwinden. Du kennst doch Roy Slater, oder?«

Miriam nickte verwirrt.

»Er sitzt genau hinter dir. Und er wird uns garantiert bemerken, wenn wir nicht innerhalb der nächsten zehn Sekunden von hier verschwinden.«

Diesmal erwies sich die trübe Beleuchtung als Pluspunkt; es war kinderleicht, unauffällig aufzustehen und durch die angrenzende Tür aus dem Raum zu schlüpfen. Sie fanden sich in einem verlassenen Gang wieder, schlichen an ein paar leeren Konferenzräumen vorbei und gelangten schließlich durch einen Notausgang auf den Hotelparkplatz, wo sie von einem eisigen Windstoß durchgeschüttelt wurden, der so unvermittelt kam, daß Miriam einen spitzen Schrei ausstieß, hauptsächlich wegen der plötzlichen Kälte, aber auch wegen ihrer Enttäuschung, was mit einem Mal aus dem lang ersehnten Abend zu zweit geworden war.

Sie liefen um das Hotel herum zum Eingang, huschten hinein und blieben dann unschlüssig im Foyer stehen.

»Komm, wir gehen nach oben«, sagte Bill. »Laß uns ins Bett gehen.«

»Ins Bett? Es ist doch erst halb neun.«

»Wir können nicht hier unten bleiben. Das ist zu riskant.«

»Und was ist mit meinem Essen?«

Bill schien sie nicht gehört zu haben. »Was hat er hier zu suchen?« murmelte er zu sich selbst. »Was sind das für Typen?«

Er ging zur Rezeption und erkundigte sich nach der Gruppe, die gerade zum Dinner gekommen war. Ob diese Leute Gäste des Hotels seien? Die Rezeptionistin sah in ihrem Buch nach und sagte ihm, daß es sich bei der Gruppe um Mitglieder eines gewissen »Bundes aller Briten« handelte, die anläßlich eines Seminars gekommen waren und das ganze Wochenende über bleiben würden. Bill hörte ihr mit regungslosem Gesicht zu. Er schwieg ein paar Sekunden, bevor er sich bei der Empfangsdame bedankte. Als er zu Miriam zurückkehrte, hatte die eben gewonnene Erkenntnis sein Gesicht in eine grimmige Maske verwandelt.

»Was ist?« fragte Miriam. »Was ist denn los?«

Bill griff nach ihrem Arm und führte sie zur Treppe. »Dieses Faschistenschwein«, sagte er.

Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, lagen sie eng nebeneinander auf dem Laken, genau in der Mitte des Betts, seine weißen, stacheligen Beine Seite an Seite mit Miriams glatten, frisch wachsbehandelten Schenkeln. Sie lagen nicht deshalb in dieser Position, weil sie den intimen Moment noch länger auskosten wollten, sondern weil die Matratze in der Mitte durchsackte und ihnen keine andere Wahl ließ. Sie hätten es wohl beide bevorzugt, wenn etwas Platz zwischen ihnen gewesen wäre. Sie hatten sich mechanisch, fast teilnahmslos geliebt, da weder ihm noch ihr wirklich danach gewesen war, mehr aus dem Gefühl heraus, daß der ins Wasser gefallene Abend sonst als totales Fiasko geendet wäre. Und auch wenn sie sich körperlich nahe waren, verliefen ihre Gedanken mehr und mehr in getrennten Bahnen.

»Du verstehst einfach nicht, was mit diesen Typen los ist«, sagte Bill. »Einer wie Enoch Powell hat ja wenigstens noch so etwas wie Überzeugungen, so absurd sie auch sein mögen. Selbst die National Front hat irgendwo eine Ideologie. Aber diese Typen lassen sich doch einfach nur von ihrem Haß lenken. Haß und Gewalt, das ist alles, was sie kennen.«

»Glaubst du, er hat uns gesehen?« Dichtes braunes Haar fiel über ihre Schulter, als Miriam sich auf den Ellbogen stützte. Bill konnte nicht anders, er mußte einfach ihre makellose Haut streicheln. »Glaubst du, Mr. Slater hat uns gesehen?«

»Ich weiß es nicht, Liebes. Ich weiß es einfach nicht.« Ein verächtliches Lachen kam über seine Lippen. »Hast du je einen solchen Haufen von Luschen gesehen? Eine derartige Ansammlung von Arschgeigen? Kein Wunder, daß die alleine nichts auf die Reihe kriegen. Und dann noch dazu diese... diese Fettkuh! Wo gibt’s denn so was?«

»Was würdest du dann machen?« Miriam ließ nicht locker. »Ich meine, wenn er uns doch gesehen hätte und es überall rumerzählen würde. Was würdest du machen, wenn Irene es herausbekäme?«

»Er hat uns nicht gesehen«, sagte Bill. »Aber ich ihn – und das ist viel wichtiger. Jetzt weiß ich endlich, wer für diese Pamphlete verantwortlich ist. Diese verdammten Flugblätter.«

»Aber wahrscheinlich ist das sowieso egal«, sagte Miriam gedankenverloren, fast träumerisch, bis ihre Stimme mit einem Mal einen schärferen Ton annahm. »Ich glaube, einer hat sowieso längst alles mitbekommen.«

Bill sah sie an. »Was?«

»Ich weiß es sogar sicher. Mr. Gibbs vom Stiftungskomitee.« Sie blickte ihn forschend an; offenbar hoffte sie auf irgendein Anzeichen von Panik oder Bestürzung. Als sie nichts dergleichen ausmachen konnte, sagte sie: »Kümmert dich das überhaupt nicht?«

»Oh, über Gibbs weiß ich Bescheid. Wir hatten heute nachmittag eine kleine Aussprache.«

»Aussprache? Worüber?«

Bill schüttelte den Kopf und wich der Frage aus. »Der miese kleine Dreckskerl. Versucht mir das Schwein doch glatt an den Karren zu fahren. Als ob ihn das irgendwas anginge. Wieso kümmert der sich nicht einfach um seine eigenen Angelegenheiten?«

»Weil er’s auf mich abgesehen hat«, sagte Miriam. Sie lehnte sich zurück auf das Kissen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf – eine träge, aufreizende Pose. Fast schien es, als würde sie das Thema auf eine geradezu sinnliche Art und Weise genießen. »Er haßt mich, verstehst du. Er haßt mich, weil ich nicht mit ihm ins Bett gehen wollte.«

»Was?« Entgeistert sah Bill sie an. »Wann ist das passiert?«

»Ach, das ist schon Monate her. Es war nach einer der Stiftungssitzungen, als ihr alle schon weg wart. Er kam noch mal rein und fragte, ob er mich auf einen Drink einladen könnte. Als ich ablehnte – ganz höflich, verstehst du, ich war echt nett zu ihm –, da meinte er, wir könnten das Vorgeplänkel ja genausogut weglassen und gleich ’ne Nummer bei ihm zu Hause schieben.« Sie musterte Bill, um ganz sicherzugehen, daß sie ihn am Nerv getroffen hatte. »Ich war natürlich echt erschrocken und hab gesagt, er sollte mich in Ruhe lassen, aber er meinte, ich bräuchte gar nicht so unschuldig zu tun, er wüßte genau, was ich für eine wäre, er wüßte genau Bescheid, was zwischen dir und mir laufen würde, das könnte er während jeder Sitzung sehen, und dann fing er plötzlich an, mich als Schlampe und Nutte zu beschimpfen. Aber ich hab ihm gesagt, daß ich, selbst wenn ich ’ne Nutte wäre, nicht mal für eine Million Pfund mit einem Perversen wie ihm in die Kiste steigen würde, und als ich das gesagt hatte, starrte er mich einfach bloß ’ne Ewigkeit lang an, ich glaube, ich hab noch nie jemanden gesehen, der so wütend war, und zuerst dachte ich, er würde mir als nächstes eine knallen...«

»Das hätte er zurückgekriegt von mir, verlaß dich drauf.«

»... aber statt dessen ging er dann einfach, ohne noch irgendein Wort zu sagen, und das machte mir fast am meisten Angst, diese Stille, daß er kein Wort mehr sagte, und seitdem haßt er mich, ich kann das ganz genau sehen, an seinem Gesicht, daran, wie er mich immer anschaut. Er haßt mich bis aufs Blut.«

Bill stützte sich auf und beugte sich über sie. Sein Gesicht war jetzt ganz nah an ihrem, doch noch während er sein Beschützerlächeln aufsetzte, begann ein weiterer düsterer Gedanke in seinem Hinterkopf Form anzunehmen. Was für ein Zufall, was für ein seltsamer Zufall, daß ihm Gibbs und Slater am selben Tag über den Weg gelaufen waren. Es erinnerte ihn an jenen Tag vor so vielen Monaten, an dem ihn Miriam zu Hause angerufen hatte ... Ja, das war an dem Nachmittag gewesen, als er Gibbs’ Brief gelesen und kurz darauf Slater in den Nachrichten gesehen hatte; und dieses ekelhafte Flugblatt war ja allem Anschein nach auch von Slater verbreitet worden. Wo der eine auftauchte, war offenbar auch der andere nicht weit; wenn nicht alles täuschte, mußte zwischen den beiden irgendeine Verbindung bestehen. Und da war noch etwas Merkwürdiges, nämlich das, was Gibbs vor nur wenigen Stunden während ihres Gesprächs gesagt hatte. Es war ihm nur nicht sofort aufgefallen. ›Diese Scheiß-reiche-Söhnchen-Akademie in Edgbaston‹, so hatte er das King William’s bezeichnet. Genau so wie Slater vor fast einem Jahr, als sie sich das Taxi auf dem Nachhauseweg geteilt hatten. Wieso hatten beide genau dieselben Worte benutzt? Und da er gerade daran dachte, woher wußte Gibbs überhaupt, auf welche Schule Duggie ging? Sie mußten über ihn geredet haben; es gab keine andere Erklärung. Also kannten sie sich. Offensichtlich waren sie sogar miteinander befreundet.

»Mach dir keine Sorgen, Bill«, sagte Miriam, während sie ihm zärtlich über die stoppelige Wange strich. »Es ist mir völlig egal, was der von mir will.«

Aber das war noch nicht alles, dachte er. Ihn schauderte, während die beiden erneut vor seinem inneren Auge erschienen; er wurde das Gefühl nicht los, daß auch Miriam eine Rolle in den Plänen der beiden spielte.

Er gab sich alle Mühe, die dunklen Ahnungen abzuschütteln und sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es war seine Schuld, daß Miriam in Schwierigkeiten geraten war, und seine Aufgabe, sie zu schützen.

»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte er und brachte dabei fast ein Lächeln zustande. »Jedenfalls bestimmt nicht, was Gibbs angeht. Der Bursche ist Geschichte.«

»Was meinst du?«

»Ich werde dafür sorgen, daß sie ihn feuern.«

Miriam machte große Augen, und dann lächelte sie auch; nicht nur erleichtert, sondern auch ein wenig amüsiert, als würde es sie belustigen, welcher Hahnenkampf hier ausgetragen wurde.

»Du kannst doch nicht einfach so jemanden feuern lassen«, sagte sie. »Oder?«

»Er ist ein Betrüger. Er unterschlägt schon seit Monaten Stiftungsgelder.«

»Hast du Beweise dafür?«

»Ja. Ich habe die Schecks von der Bank. Die Unterschriften sind allesamt gefälscht.«

»Welche?«

»Die von Tony Castle. Meine.« Er legte eine Kunstpause ein, bevor er weitersprach. »Und deine.«

»Wieso hast du bis jetzt nichts unternommen?« fragte Miriam.

»Ich habe nur den richtigen Zeitpunkt abgewartet«, sagte Bill. »Und der ist jetzt gekommen.« Sanft küßte er sie, und plötzlich konnte er seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Die Worte strömten nur so über seine Lippen, und er hörte sich Dinge sagen, von denen er genau wußte, daß er sie nicht hätte sagen sollen, daß sie alles nur noch schlimmer machten. »Ich liebe dich, Miriam. Ich würde alles für dich tun, verstehst du, alles. Ich will, daß du glücklich mit mir bist.«

Er wartete darauf, daß sie ihn ebenfalls umarmte und küßte. Doch statt dessen sagte sie:

»Es gibt da noch jemand anderen, Bill. Du bist nicht mein einziger Liebhaber.«

Er erstarrte.

»Was sagst du da?«

»Vielleicht hat Mr. Gibbs ja recht«, sagte Miriam tonlos. »Vielleicht bin ich wirklich eine Schlampe. Eine Nutte. Für meinen Vater wäre ich das jedenfalls ganz bestimmt.« Sie lachte resigniert. »Er würde mir unsere Familienbibel ins Gesicht schlagen, wenn er das hier sehen könnte!«

»Wer ist es?« wollte Bill wissen. »Wie heißt er?«

»Du kennst ihn sowieso nicht«, sagte Miriam. »Es ist niemand aus dem Werk. Er ist nicht mal von hier.« Sie sah ihn triumphierend an. »Du bist ja wohl nicht eifersüchtig! Schließlich hast du doch noch Irene.«

Erst antwortete Bill nichts. Er war rasend eifersüchtig, an der Tatsache gab es nichts zu rütteln, doch gleichzeitig fühlte er sich, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen, ohne die in ihm widerstreitenden Gefühle miteinander in Einklang bringen zu können.

»Das hast du dir doch gerade ausgedacht, oder?« sagte er schließlich. »Du willst mich doch bloß...«

»Er ist viel jünger«, sagte Miriam. »Knapp halb so alt wie du. Er sieht nicht so gut wie du aus, aber er... er weiß wenigstens, was er will, wenn du verstehst, was ich damit sagen will. Und er ist nicht verheiratet.«

Bill rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke.

»Meinst du das wirklich ernst?« sagte er. Und dann: »Wo hast du ihn kennengelernt?«

Miriam setzte sich auf, stieg über ihn und langte zwischen seine Beine. Sie machte ihn hart und nahm ihn langsam in sich auf, Zentimeter um Zentimeter, mit unendlicher Vorsicht und Zärtlichkeit, bis er ganz in ihr war und mit verzückt geschlossenen Augen ohnmächtig unter ihr lag.

»Ich will nur dich, Bill«, sagte sie. »Nur dich.« Und das waren die letzten Worte, die an diesem Abend fielen.

Am nächsten Morgen war Miriams Verhalten noch seltsamer, während er sich nach Irene und der Sicherheit ihrer Ehe sehnte wie nur selten zuvor.

Um sich nicht weiteren Risiken auszusetzen, checkten sie vor dem Frühstück aus dem Hotel aus und fuhren hinauf in die Clent Hills. In einer Teestube verköstigten sie sich mit Obsttörtchen und Milchkaffee. Dann wanderten sie eine Stunde über die dünn bewaldeten Hügel; die von braunem Farn gesäumten Reitwege führten sie an ausgebleichten Weiden und versprengten Baumgruppen vorbei, deren Wipfel sich in das helle Morgenlicht reckten. Nachdem es am Vortag geregnet hatte, kündigte sich nun ein goldener Herbsttag an, und sie hatten die Landschaft fast ganz für sich allein. Sie begegneten ein paar vereinzelten Reitern, die grüßend an ihre Hüte tippten, und einem japsenden Hund, der seinem Besitzer vorauslief, doch davon abgesehen, blieben sie völlig ungestört. Links und rechts erstreckten sich brachliegende Äcker. Aus der Ferne waren die Motorengeräusche von der Schnellstraße zu vernehmen.

Bill versuchte mehr über Miriams anderen Liebhaber herauszubekommen, doch sie wich seinen Fragen ein ums andere Mal aus, machte sich lustig darüber oder entzog sich ihm, indem sie einfach über etwas anderes redete. Mal hielt sie seine Hand und schmiegte sich im Gehen fest an ihn, dann wieder blieb sie unvermittelt stehen und ließ ihren Blick über die weiten Felder schweifen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Er wurde einfach nicht schlau aus ihr.

Als sie wieder im Wagen saßen, fragte er sie als erstes: »Hast du dich schon für einen von uns beiden entschieden?«

»Und du?« gab sie zurück. »Wie lange soll ich noch auf deine Entscheidung warten?«

Doch Bill hatte seine Entscheidung bereits getroffen. Sein ominöser Rivale hatte alles nur einfacher gemacht. Er würde sich nicht einfach von Miriam trennen, sondern freiwillig auf sie verzichten, sie einem anderen, jüngeren Mann überlassen, der besser auf ihre Wünsche eingehen konnte. Etwas beinahe Nobles lag in dieser Geste. Allein die Vorstellung, sein Leben ohne sie verbringen zu müssen, war ihm schier unerträglich, der Gedanke, nie wieder diesen Körper zu berühren, der ihm inzwischen vertrauter war als der seiner Frau. Trotzdem war er fest davon überzeugt, daß er sich richtig entschieden hatte. Er glaubte sogar, daß Miriam im Grunde ihres Herzens dasselbe wollte.

Als sie zurück nach Northfield fuhren und nur noch fünf Minuten von ihrem Zuhause entfernt waren, verlor Miriam die Nerven. Sie fing an zu weinen und schrie ihn mit tränenerstickter Stimme an, daß sie nicht ohne ihn leben könne, daß sie reinen Tisch machen und alles Irene erzählen würde, daß sie sich umbringen würde, wenn er nicht endlich seine Frau verließe. Bill fuhr an den Seitenstreifen und versuchte verzweifelt, sie zu beruhigen. Er fing an, ihr alles mögliche zu versprechen, obwohl er genau wußte, daß er ohnehin nichts davon halten konnte. Sie hörte überhaupt nicht mehr auf zu weinen und zu schreien, bis er schließlich nur noch weißes Rauschen vernahm. Er konnte ihr nur immer und immer wieder versichern, daß er sie liebte, über alles liebte. Sie hatten beide die Kontrolle verloren, und nun waren ihnen auch die Worte entglitten.

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