Читать книгу Erste Riten - Jonathan Coe - Страница 5
ОглавлениеAn einem blauschwarzen, sternklaren Abend im Jahr 2003 gingen zwei junge Leute in Berlin zum Abendessen. Sie hieβen Sophie und Patrick.
Die beiden waren sich nie zuvor begegnet. Sophie war mit ihrer Mutter nach Berlin gereist, Patrick mit seinem Vater. Sophies Mutter und Patricks Vater waren früher einmal flüchtig befreundet gewesen, aber das war schon ewig her. Vorübergehend war Patricks Vater in Sophies Mutter verknallt gewesen, als sie noch zur Schule gingen. Zuletzt hatten sie vor 29 Jahren miteinander gesprochen.
– Wo sind sie wohl hingegangen? fragte Sophie.
– In irgendeinen Club. Ne Techno-Disco wahrscheinlich.
– Meinst du das ernst?
– Natürlich nicht. Mein Vater war noch nie in seinem Leben in einem Club. Seine neueste Platte ist von Barclay James Harvest.
– Von wem?
– Genau.
Sophie und Patrick starrten aus dem Fenster, als der riesige, hellerleuchtete Glas-Beton-Kasten des neuen Reichstags in den Blick rückte. Das Restaurant im Fernsehturm über dem Alexanderplatz drehte sich schneller als erwartet. Offenbar war die Geschwindigkeit seit der Wiedervereinigung verdoppelt worden.
– Was ist mit deiner Mutter? fragte Patrick. Geht’s ihr wieder besser?
– Ach, das war nichts. Sie hat sich im Hotel ein bißchen hingelegt. Danach war alles wieder okay. Wir sind dann noch einkaufen gegangen. Hier, den Rock hab ich gekriegt.
– Sieht echt toll aus.
– Na ja, wenn das mit Mum nicht passiert wär, hätte dein Dad sie bestimmt nicht erkannt.
– Nein, wahrscheinlich nicht.
– Und wir würden jetzt nicht hier sitzen. Muß wohl so was wie Schicksal sein.
Es war schon eine merkwürdige Situation. Ihre Eltern waren einander spontan um den Hals gefallen, obwohl es so lange her war, daß sie befreundet gewesen waren. Mit einer Art freudiger Erleichterung hatten sie ihr Wiedersehen gefeiert, als würde diese zufällige Begegnung in einem Berliner Kaffeehaus eine Brücke über die vergangenen Jahrzehnte schlagen, die Jahre vergessen machen, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Dies wiederum führte dazu, daß sich eine leichte Befangenheit in Sophies und Patricks Zusammentreffen mischte. Sie hatten nichts gemein, von der Vergangenheit ihrer Eltern abgesehen.
– Spricht dein Vater oft über seine Schulzeit? fragte Sophie.
– Wo du’s grad sagst. Hat er eigentlich nie getan. Aber jetzt sind ein paar Leute von damals wieder aufgetaucht. Zum Beispiel war da einer, der hieß...
– Harding?
– Ja. Du hast von ihm gehört?
– Ein bißchen. Ich wüßte gern mehr.
– Erzähl ich dir. Außerdem erwähnt Dad manchmal deinen
Onkel. Deinen Onkel Benjamin.
– Ja, klar. Sie waren ziemlich gute Freunde, nicht wahr?
– Und wie.
– Wußtest du, daß sie mal zusammen in einer Band gespielt haben?
– Davon hat er nichts gesagt.
– Und von der Schülerzeitung, für die sie geschrieben haben?
– Davon auch nichts.
– Ich weiß das alles von meiner Mutter. Sie kann sich haargenau an damals erinnern.
Und dann begann Sophie zu erzählen. Es war schwierig, einen Anfang zu finden. Die Ära, über die sie sprachen, schien zu den dunkelsten Kapiteln der Weltgeschichte zu gehören. Sie sah ihn an und sagte:
– Hast du dir schon mal vorzustellen versucht, wie es war, bevor du geboren wurdest?
– Was meinst du? Als ich noch in der Gebärmutter war?
– Nein. Wie die Welt aussah, bevor du kamst.
– Nicht so richtig. Ich hab keine Phantasie für so was.
– Aber an bestimmte Dinge von früher erinnerst du dich schon. Sagen wir mal, an John Major.
– Schwammig.
– Na ja, so war er ja auch. Und Margaret Thatcher?
– Nein. Ich war... fünf oder sechs, als sie zurücktrat. Wieso fragst du mich das?
– Weil wir noch weiter in der Zeit zurückgehen müssen. Viel weiter.
Sophie hielt inne. Ein Stirnrunzeln überschattete ihr Gesicht.
– Ich kann dir das alles erzählen, aber vielleicht findest du es auch bloß öde. Es ist eine Geschichte ohne Ende. Sie hört mittendrin auf. Ich hab keine Ahnung, wie sie ausgeht.
– Vielleicht kann ich ja das eine oder andere ergänzen.
– Ja? Würdest du?
– Na klar.
Zum ersten Mal lächelten sie einander an. Während die von Baukränen beherrschte Skyline Berlins hinter ihr in Sicht kam, betrachtete Patrick Sophies Züge, die anmutige Kurve ihres Kinns, die langen schwarzen Wimpern, während ein unklares Gefühl in ihm aufstieg, ein Gefühl der Dankbarkeit, daß er sie getroffen hatte, vermischt mit einem Funken Neugier, was die Zukunft für ihn bereithalten mochte.
Sophie goß sich Mineralwasser aus einer marineblauen Flasche ein und sagte:
– Dann laß uns anfangen, Patrick. Laß uns die Zeit zurückdrehen, dahin, wo alles anfing. In einem Land, das wir beide wahrscheinlich gar nicht erkennen würden. England im Jahr 1973.
– Meinst du wirklich, daß das damals so anders war?
– Total anders. Denk doch mal nach! Eine Welt ohne Handys und Videos und Playstations. Es gab nicht mal Faxgeräte. Eine Welt ohne Prinzessin Diana oder Tony Blair, eine Welt, in der niemand je an einen Krieg im Kosovo oder Irak gedacht hätte. Damals gab es nur drei Fernsehprogramme, Patrick. Drei! Und die Gewerkschaften waren so mächtig, daß sie einen Sender einfach mal so eben für einen Abend abschalten konnten. Manchmal mußten die Leute sogar ohne Strom auskommen. Stell dir das mal vor!