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Donnerstag, der 7. März 1974, war ein wichtiger Tag, ein denkwürdiger Tag. Es war der Tag, an dem Philip seinen ersten Vorstoß als Journalist wagte, und es war der Tag, an dem Benjamin zu Gott fand. Beide Geschehnisse sollten weitreichende Folgen haben.

Außerdem war es der Tag, an dem Benjamins schlimmster Alptraum Wirklichkeit zu werden schien.

Seit Wochen hatte Philip an einem Artikel gearbeitet, von dem er hoffte, ihn schließlich in der Schülerzeitung veröffentlichen zu können. Er war einer der eifrigsten Leser des Bill Board, das jeden Donnertag neu erschien. Der Titel des Blattes verdankte sich jenen bescheidenen Ursprüngen, als die Schülerzeitung noch eine Loseblattsammlung maschinegeschriebener Essays und Aushänge am Schwarzen Brett in einer der oberen Etagen gewesen war; eine in vielfacher Hinsicht unzweckmäßige Form der Veröffentlichung, für deren Drucklegung sich im letzten Jahr ein engagierter junger Lehrer namens Mr. Serkis eingesetzt hatte. Das Schülerorgan bestand nun aus acht DIN-A-4-Seiten, die jeden Dienstag von einer Gruppe aus der Zwölften in der Abgeschiedenheit eines Dachraums über dem Carlton Club zusammengestellt wurden. Es war selten, äußerst selten, daß es einem von den Jüngeren gelang, etwas zu verfassen, das Gnade vor den Augen der Redaktion fand; doch jetzt hatte Philip plötzlich den Durchbruch geschafft.

Zehn Minuten vor der Morgenversammlung saß er in der Schulbibliothek und las seinen Artikel zum zwölften Mal; vor Stolz und Aufregung sah er bereits alles leicht verschwommen. Auf der Titelseite des Bill Board prangte ein langer Leitartikel von Burrell aus der Zwölften, der sich mit dem lahmen Ausgang der Wahlen und Harold Wilsons Wiederernennung zum Premierminister beschäftigte. Philip hätte nicht im Traum geglaubt, je auf die vorderen Seiten vordringen zu können. Doch zumindest kam seine Besprechung noch vor den Ergebnissen im Schulsport und Gilligans Cartoons auf der Witzeseite. Und sie sah einfach bombastisch aus, seine Kritik, flankiert von Hilary Turners Beckmesserei über die Inszenierung des Kaukasischen Kreidekreises am Stadttheater und einer von Mr. Fletcher höchstpersönlich verfaßten Würdigung des Lyrikers Francis Piper, dessen mit Spannung erwarteter Besuch am King William’s in dieser Woche bevorstand (und zwar an exakt diesem Morgen, wie Philip sich in seiner Trance vage erinnerte). Seinen ersten Gehversuch als Kritiker zwischen den Abhandlungen dieser Koryphäen zu sehen übertraf seine kühnsten Erwartungen.

Trotzdem, dachte Philip, während er seine Besprechung zum dreizehnten Mal und so objektiv wie eben möglich las, trotzdem bestand kein Zweifel, daß er das spitzenmäßig hinbekommen hatte.

»Tales from Topographic Oceans« ist das mittlerweile fünfte Album von Yes, der unumstritten ideenreichsten und besten Band Englands, wenn nicht sogar der ganzen Welt. Und es steht außer Frage, daß wir es hier mit ihrem Meisterwerk zu tun haben.

Das Konzept des Albums verdankt sich Jon Anderson, dem brillanten Leadsinger und Songwriter der Band. Der aus Accrington, Lancastershire, stammende Anderson fühlte sich schon immer zu fernöstlichen Lehren und Philosophien hingezogen. Das vorliegende Doppelalbum, inspiriert von Paramhansa Yogandas »Autobiographie eines Yogis« (hat nichts mit dem gleichnamigen Bär zu tun), besteht aus insgesamt vier Seiten, auf denen sich jeweils nur ein langer Song befindet, also aus insgesamt vier langen Songs. Der kürzeste dieser Songs dauert 18 Minuten und 34 Sekunden, der längste 21 Minuten und 35 Sekunden. Nur auf Mike Oldfields »Tubular Beils« findet man meines Wissens noch längere Stücke. Dafür hat »Tubular Bells« aber auch nur zwei Seiten. Viele Musiker, zum Beispiel Roy Wood oder Mark Bolan, schreiben einfach nur Popmusik-Texte, während man Jon Anderson wohl als echten Dichter bezeichnen muß. Nehmen wir nur einmal diese Zeilen aus »The Memory«: »As the silence of seasons on we relive abridge sails afloat/As to call light the soul shall sing of the velvet sailors course on.«

Der geneigte Hörer wird sich fragen, was das bedeuten mag. Wer sind die samtenen Seefahrer, und was ist das für eine Brücke unter vollen Segeln? Doch Jon Anderson wäre kein wahrer Dichter, hätte er nur platte Antworten und seichte Botschaften parat. Das Geheimnis seiner Texte liegt im Rätsel selbst.

Rein musikalisch sind alle fünf Mitglieder der Band echte Virtuosen. Rick Wakeman muß man nach seinem brillanten Album »Six Wives of Henry VIII« (das auf historischen Ereignissen basiert) ohnehin nicht mehr groß vorstellen. Steve Howe ist wahrscheinlich der größte Rockgitarrist aller Zeiten, einzigartig auf seinem Gebiet, obwohl es ungehörig wäre, hier einzelne Mitglieder der Band hervorzuheben.

Die dritte Seite des Albums erzählt von den alten Riesen unter der Sonne, die sich der Erhabenheit der Musik verschrieben haben. Nicht zuletzt gelten diese Worte auch für die Mitglieder der Band selbst. Auch sie haben sich der Erhabenheit der Musik verschrieben. Wenn mich jetzt also jemand fragen würde, von welcher Band dieses Album ist und ob wir es hier mit einem Meisterwerk zu tun haben, könnte ich in beiden Fällen die gleiche Antwort geben:

YES!

Philip war derart hin und weg von diesen genialen Schlußzeilen, daß er Benjamin erst bemerkte, als dieser ihm auf die Schulter tippte. Und es fiel ihm auch nicht auf, was mit Benjamin los war.

»Hast du schon gesehen?« flüsterte er triumphierend. »Sie haben es gedruckt. Sie haben es echt gedruckt.«

Auf einmal sah er, daß sein Freund leichenblaß war. Benjamins Hände zitterten; Tränen standen in seinen Augen.

»Was ist denn passiert?«

Als Benjamin es ihm sagte, mußte er erst einmal tief Luft holen, um sich von dem Schreck zu erholen. Es war das nackte, unfaßbare Grauen.

Benjamin hatte seine Badehose vergessen.

Das Schwimmbecken des King William’s lag hinter der Schulkapelle, nicht weit von den Rugbyplätzen entfernt. Im Sommerhalbjahr hatte Benjamins Klasse zweimal die Woche Schwimmunterricht, Montag und Donnerstag morgens nach der großen Pause. Benjamin haßte diese Stunden aus tiefstem Herzen. Abgesehen davon, daß er sich ungern den Blicken anderer aussetzte, war er kein guter Schwimmer; auβerdem konnte er seinen Sportlehrer auf den Tod nicht ausstehen. Mr. Warren war ein herrischer Sadist, der aufgrund seiner entfernten Ähnlichkeit mit der lesbischen Killerin in Liebesgrüße aus Moskau hinter vorgehaltener Hand gemeinhin kurz Rosa genannt wurde.

Überdies wurde er nicht nur deshalb so gefürchtet, weil er ein gnadenloser Schinder war, der den Jungen das Äußerste abverlangte. Was den Schwimmunterricht bei Mr. Warren anging, gab es nämlich eine berüchtigte Regel, die über die Jahre bei so manchem Schüler beträchtliche psychologische Schäden verursacht hatte. Die Regel war denkbar einfach, und niemand wurde von ihr verschont: Wenn jemand seine Badehose vergessen hatte, mußte er nackt mit den anderen schwimmen.

Tatsächlich gab es zu jener Zeit (möglicherweise heute noch) Schulen, an denen es als selbstverständlich erachtet wurde, daß der Schwimmunterricht im Adamskostüm stattfand, eine Gepflogenheit, die sich wohl der irrigen Annahme verdankte, daß solche Richtlinien der Festigung des Charakters dienten, vielleicht aber auch einfach nur den geschlechtlichen Neigungen der Sportlehrer entsprach. Aber wir wollen hier nicht übertreiben. Im besten Falle hätte diese Usance die Jungen zusammenschmieden, ihnen das Gefühl vermitteln können, daß sie alle zusammen im selben Boot saßen. Die Regelung am King William’s aber bewirkte das genaue, erbarmungslose Gegenteil. Ein unseliger Tropf, der seine Hose vergessen hatte, war nicht nur den üblichen feixenden Mienen und ausgestreckten Fingern ausgesetzt, sondern mußte oft noch Wochen, manchmal Monate oder gar Jahre danach demütigendes Gestichel über seine kümmerlichen Genitalien über sich ergehen lassen, ob das nun zutraf oder nicht. Die Folgen waren alles andere als dazu angetan, den Charakter zu festigen, und es gab sogar zwei Fälle (den verklemmten Pettigrew aus der Zehnten und den sexbesessenen Walker aus der Achten), bei denen Rosas Regeln bleibende Schäden hervorgerufen hatten.

Keine Frage, ein paar Zeigefreudige – meist Perverse oder Exhibitionisten – standen sogar darauf, sich zur Schau zu stellen; sie schienen das Ganze für eine Art Mutprobe zu halten und suhlten sich geradezu in der Aufmerksamkeit, die ihnen plötzlich geschenkt wurde. Chapman etwa hatte seine Hose so oft vergessen, daß die meisten überzeugt waren, daß er das absichtlich tat. Selbstredend war er stolzer Besitzer eines wahrlich kolossalen Gliedes, das bei seiner wiederholten öffentlichen Zurschaustellung ehrfürchtige Vergleiche mit einer fetten Fleischwurst, einer überfütterten Python, einer Rohrleitung, einem Elefantenrüssel, einem Fesselballon, einer Monster-Toblerone und einer Tapetenrolle gezeitigt hatte. Davon abgesehen, war es auch Chapman gewesen, der sich eines denkwürdigen Morgens gleich zweier Kardinalvergehen schuldig gemacht und damit eine äußerst peinliche Situation heraufbeschworen hatte. Erst war er ohne Hose gekommen, dann hatte er auch noch während des Unterrichts gequatscht, was traditionell damit geahndet wurde, daß der Missetäter sich fünf Minuten lang auf das Dreimeterbrett stellen mußte. Chapman tat also Buße, bis es Mr. Warren nach anderthalb Minuten plötzlich aufging, daß alle Passagiere auf den Oberdecks der Busse 61, 62 und 63 von der Bristol Road aus freie Sicht auf den nackten Sünder hatten. Der unverhoffte Anblick des legendären Apparats hinterließ offenbar einen tiefen Eindruck bei einigen Leuten. Im Laufe des Tages gingen vier Beschwerden beim Direktor ein, nicht zu vergessen, daß sich eine Anruferin nach Chapmans Telefonnummer erkundigte.

Doch Benjamin war nicht Chapman. All die Jahre hatte er befürchtet, daß er dieser Schmach eines Tages selbst ausgesetzt sein würde. An jenem Morgen hatte ihn sein Vater zur Schule mitgenommen, da er einen auswärtigen Termin in Castle Bromwich wahrnehmen mußte, wo es Probleme mit zwei Vorarbeitern gab. So fiel die leidige Fahrt mit dem Bus flach, und Benjamin konnte sogar zehn Minuten länger schlafen. Doch die Gunst der Stunde war ihm zum Verhängnis geworden. Die Katastrophe war vorprogrammiert, nachdem er versehentlich seine Sporttasche auf dem Rücksitz vergessen hatte. Er konnte es regelrecht vor sich sehen, wie sie dort auf den Polstern lag, unbemerkt von seinem Vater, der den Wagen längst auf irgendeinem Parkplatz abgestellt hatte. Alles weg: sein Handtuch, das frisch gewaschene Rugby-Shirt, die Turnschuhe und die lebenswichtige Badehose; jene paar Quadratzentimeter Synthetik, die seine einzige Rettung gewesen wären. Es gab nichts mehr, was ihn irgendwie vor der Schande bewahren konnte.

Philip versuchte ihn zu trösten, so gut es ging, auch wenn er ihm beim besten Willen nicht weiterhelfen konnte. Sie gingen zwar miteinander durch dick und dünn, doch bei einem derartigen Opfer (Benjamin war voll und ganz klar, daß er sich in dieser Hinsicht keinen Illusionen hinzugeben brauchte) hörte die Freundschaft auf: Philip war selbst auf seine Badehose angewiesen. Er konnte sie ihm nicht leihen. Ob vielleicht jemand eine zweite Hose dabeihatte? Doch Benjamin hatte bereits nachgefragt und dadurch alles nur noch verschlimmert. Niemand wollte oder konnte ihm aus der Patsche helfen; er hatte lediglich erreicht, daß sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, niemand mehr über etwas anderes redete und sich die gesamte Klasse in freudiger Erwartung die Hände rieb. Als er ein paar Minuten zuvor mit totenbleichem Gesicht und hängenden Schultern das Klassenzimmer betreten hatte, war er auf Harding gestoßen, der die übliche Schar seiner Bewunderer vorab mit einer Kostprobe des Spektakels erheiterte, das sich ihren Augen in knapp zwei Stunden bieten würde.

»Da kommt er auch schon aus dem Umkleideraum«, sagte er in einem sonoren Tonfall, der dem Sprecher einer Tiersendung alle Ehre gemacht hätte, »ein wahres Prachtexemplar der menschlichen Spezies. Nackt wie Gott ihn schuf, kommt der puterrote Trotter aus seinem Nest gekrochen, während er ins Sonnenlicht blinzelt und eine Hand schützend über jene Genitalien hält, die keines Menschen Auge je erblicken durfte – oder vielmehr nicht erblicken konnte, zumindest nicht ohne Zuhilfenahme eines hochmodernen Elektronenmikroskops. Unsichtbar für das menschliche Auge, tatsächlich so mikroskopisch klein, daß unsere Biologen rund um die Uhr damit beschäftigt sind, seine Existenz zu beweisen, hat sich der Trottersche Penis bislang allen Meßversuchen...«

Harding brach mitten im Satz ab, als er Benjamins waidwunden, tief enttäuschten Blick auf sich gerichtet sah. Seine Zuhörer verstreuten sich im Raum; der einzige, der etwas sagte, war Anderton, der die Szene von ganz hinten beobachtet hatte. »An deiner Stelle würde ich einfach blaumachen«, sagte er. »Ein schöner Tag in der Stadt ist doch auch was. Zeig den Arschlöchern einfach, was ’ne Harke ist.« Die anderen kicherten weiter und verfolgten Benjamin mit anzüglichen Blicken, während er hilflos seinen Blick durch den Raum schweifen ließ und sich dann auf die Suche nach Philip machte. Er brauchte einen Freund, der ihm in dieser schweren Stunde zur Seite stand.

Eigentlich hatte er ihm nur sein Herz ausschütten wollen. Er hatte keine Sekunde erwartet, daß Philip auf einmal die Lösung seines Problems aus dem Hut zaubern würde. Doch dann, während er neben seinem Freund in der Bibliothek saß, den Kopf in die Hände stützte und bereits alles den Bach heruntergehen sah, schien Philip plötzlich genau dieses Kunststück zu gelingen.

»Warte mal«, sagte er leise und griff nach der Schülerzeitung. »Schwimmen fällt heute aus.«

Die Wolken verzogen sich. Ein schwacher, kaum wahrnehmbarer Lichtstreif am Horizont. »Was?«

»Nach der Pause ist Schluß für heute. Alle Stunden danach fallen aus.«

»Wieso?«

»Weil dieser Typ aus seinen Büchern liest. Dieser alte Schriftsteller.«

Philip hielt Benjamin die Seite hin, auf der seine Rezension mit den wohlgesetzten Kadenzen des Direktors konkurrierte. Er zeigte auf die letzten Sätze von Mr. Fletchers Artikel. »Da steht’s.«

Benjamin war übel vor Aufregung. Mr. Pipers Lesung findet gegen 11:45 Uhr in der Aula statt, las er. Der Lehrplan wird entsprechend geändert.

»Da hast du’s«, sagte Philip triumphierend. »Schwimmen fällt flach. Du bist aus dem Schneider.«

Benjamin war immer noch skeptisch. Das war einfach zu schön, um wahr zu sein. »Das steht da doch gar nicht«, sagte er. »Da steht bloß, daß die Lesung gegen 11:45 Uhr stattfindet.«

»Na und?«

»Schwimmen ist um zehn vor zwölf aus. Wegen den fünf Minuten lassen die doch nie im Leben die ganze Stunde ausfallen.«

»Werden sie aber. Jede Wette. Einfach abwarten und Tee trinken.«

Das war leichter gesagt als getan. Die nächsten sechzig Minuten litt Benjamin Höllenqualen. Da donnerstags keine Morgenversammlung stattfand, war bislang keine verbindliche Information durchgesickert. Benjamins Klassenlehrer, Mr. Swallow, gab sich vage, was den geänderten Stundenplan anging. Entweder fielen die letzten drei Stunden aus oder aber auch nur die letzten beiden; er wußte es nicht genau und schien sich auch nicht großartig dafür zu interessieren. Die wachsende Ungewißheit nahm Benjamin die Luft; seine Eingeweide krampften sich vor Angst zusammen, und ihm war so flau, daß es ihm nicht gelang, sich auch nur eine Sekunde lang auf Mr. Butterworths Auslassungen über die Restaurationszeit und Charles II. zu konzentrieren. Diesen ersten vierzig Minuten folgte die Englischstunde (in der es anläßlich des hohen Besuchs um die Werke Francis Pipers ging), zu deren Auftakt Mr. Fletcher verkündete, daß die Dichterlesung nun um Punkt zwölf beginnen und die dritte Stunde wie üblich stattfinden würde. Als er das hörte, erstarrte Benjamin auf seinem Stuhl, bevor er sich jäh den Magen hielt, weil er dachte, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Er spähte zu Philip hinüber, der eine Reihe weiter saß und ihn besorgt ansah; doch dann wandte er den Blick ab, als ihn das Gefühl überkam, niemandem mehr in die Augen schauen zu können.

Es war also wirklich wahr. Es würde tatsächlich passieren. Es gab kein Entrinnen. Die letzte Hintertür war genau vor seiner Nase zugeschlagen. Aber er hatte ohnehin nie wirklich an einen Ausweg geglaubt.

Nacktes Grauen ergriff Besitz von Benjamin. Um zehn vor elf konnte er sich an nichts erinnern, was in Mr. Fletchers Stunde geschehen war.

Wie das Leben so spielt, hatte er damit einiges verpaßt; zumindest einen kleinen Schlagabtausch zwischen Mr. Fletcher und Harding, bei dem sich beide in Höchstform zeigten.

»Kann ich Sie mal was fragen, Sir?« sagte Harding.

Mr. Fletcher, der sich gerade lang und breit über Francis Pipers lose Verbindung zur Bloomsbury-Gruppe geäußert und eine Stegreifanalyse seines berühmtesten Gedichtzyklus zum besten gegeben hatte, sah argwöhnisch auf. Er roch zehn Meilen gegen den Wind, daß irgend etwas faul war.

»Ja, was denn, Harding?«

»Na ja, eins an diesen Gedichten verstehe ich nicht so richtig, Sir.«

»Und das wäre?«

»Es ist bloß, daß... Ich meine, die Gedichte sind wegen der ganzen Anspielungen und Metaphern ja nicht so leicht zu kapieren, aber es handelt sich doch um Liebesgedichte, nicht wahr, Sir?«

»Selbstverständlich. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Tja, ich hab mich bloß ein bißchen gewundert, Sir, warum der Autor, äh... ausschließlich männliche Personalpronomen verwendet.«

Mr. Fletcher nahm seine Brille ab.

»Nun, Harding, das haben Sie wirklich messerscharf beobachtet. Und was schließen Sie daraus?«

»Also, ich kann mir ehrlich gesagt nur eines vorstellen, Sir, und zwar, daß dieser Piper ein alter Hinterlader ist.«

Mr. Fletcher rieb sich müde die Augen. War es das wirklich wert, nach diesem Köder zu schnappen?

»Ich glaube nicht, daß die emotionale Kraft dieser Gedichte in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit den von Ihnen angesprochenen sexuellen Präferenzen steht, Harding.«

»Aber ich habe doch recht, nicht wahr, Sir?«

»Womit?«

»Mit meiner Vermutung, daß er... nun, daß er gern mal die Nutellastraße nimmt, Sir.«

»Nutellastraße?«

»Ja, Sir. Die Schoko-Gasse, wie manche auch zu sagen pflegen.«

Der Rest der Klasse konnte sich kaum halten. Mr. Fletcher verzog wie üblich keine Miene, während er nachdenklich aus dem Fenster starrte. Als er schließlich antwortete, klang er noch überdrüssiger und gelangweilter als sonst.

»Ihr Grundproblem besteht darin, daß Ihre Phantasien ebenso kleinkariert wie zutiefst banal sind, Harding. Sie dürfen sich – nein, lassen Sie uns gar nicht lange um den heiβen Brei herumreden –, Sie werden sich um fünf vor zwölf hier einfinden und ein Essay verfassen, während die anderen an Mr. Pipers Lesung teilnehmen, Thema: ›Warum die Natur des Künstlers keine Geschlechtsgrenzen kennt‹, und zwar nicht unter zwölf Seiten. Und da dies ja mindestens Ihre fünfzigste Strafarbeit in diesem Jahr ist, empfehle ich Ihnen, Ihre gesammelten Werke mit einem Begleitschreiben und einem selbstadressierten Briefumschlag an den nächsten Verlag zu schicken! Wir jedenfalls« – für einen Moment hatte sich tatsächlich so etwas wie leichte Erregung, wenn nicht sogar Wut in seine Stimme geschlichen, doch jetzt klang er so monoton wie immer – »schlagen jetzt gemeinsam die Seite 75 unserer Anthologie auf, während uns Gidney eine von Mr. Pipers schönsten Villanellen vorliest: ›Der Schweiß des jungen Knechts bestärkt meinen Entschluß‹.«

Die große Pause begann um zehn vor elf. Die meisten Jungen liefen los und deckten sich mit Fleischpasteten und Hot Dogs ein, jenen Leckereien eben, die bei dieser anspruchslosen Klientel als Delikatessen galten. Normalerweise hätte sich Benjamin ihnen angeschlossen, aber allein beim Gedanken an Essen drehte sich ihm schon der Magen um. Dem Delinquenten stand nicht der Sinn nach einer herzhaften Henkersmahlzeit; und die feixenden Gesichter seiner sogenannten Freunde, deren unverhohlene Vorfreude sich von Minute zu Minute steigerte, konnte er erst recht nicht ertragen. Ihm fiel nichts anderes mehr ein, als sich in die hinterste Ecke des Umkleideraums zu verkriechen, wo er erschöpft zu Boden sank, sich in Fötuslage zusammenkrümmte und die Knie in nackter Verzweiflung bis ans Kinn zog.

Er befand sich im entlegensten Winkel des Umkleideraums; die drei Reihen leerer Spinde dort wurden so gut wie nie benutzt (vorn befanden sich die anderen Schließfächer), und es war totenstill. Vor Benjamin lagen 15 Minuten endloser Seelenqual.

Er dachte über den Tip nach, den Anderton ihm gegeben hatte. Sollte er vielleicht wirklich einfach blaumachen? Das Ausmaß seiner Verzweiflung zeigte sich schon allein daran, daß er diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung zog, da er schon von Natur aus ein fast pathologischer Konformist war und noch nie gegen die Schulregeln verstoßen hatte. Der rebellische Geist, der die meisten Jungen seines Alters beflügelte, beschränkte sich in seinem Fall darauf, Harding und seine anarchischen Teufeleien zu bewundern; er war ein Mitläufer, der selbst nie die Initiative ergriff. Außerdem war eine Flucht gar nicht so leicht zu verwirklichen: Wenn er um diese Uhrzeit das Schulgelände verließ, würde ihn garantiert irgendein Lehrer dabei sehen. Die einzige realistische Alternative bestand darin, sich irgendwo im Schulgebäude zu verstecken – in einem der Musikräume etwa – und dort auszuharren, bis der Schwimmunterricht vorbei war; oder sich in die Bibliothek zurückzuziehen und so zu tun, als hätte er gerade eine Freistunde – dort konnte er dann Zeitung lesen und das Ganze aussitzen. Harding hätte es unter Garantie so gemacht. Anderton wahrscheinlich auch.

Die schlichte Wahrheit war, daß er einfach nicht den Mut dazu aufbrachte. Was er dann aber – zu seiner eigenen Verwunderung – statt dessen unternahm, war in gewisser Weise sogar noch gewagter. Und um einiges ausgefallener.

Hinterher konnte er sich nicht daran erinnern, wie er sich hingekniet und laut gegen die Stille angeredet hatte; man hätte glauben können, daß er verrückt geworden war. Er erinnerte sich nicht an den Jammer, der unwillkürlich über seine Lippen drang, daran, wie er mechanisch immer wieder die Worte »O Gott, o Gott, o Gott« vor sich hin sprach, bis sie den Charakter eines Gebets angenommen hatten. Er hatte nie zuvor zu Gott gebetet, nie seine Hilfe benötigt, nie zu ihm aufgesehen, nie an ihn geglaubt. Binnen dieser ekstatischen paar Sekunden fand er nicht nur zu Gott, sondern versuchte obendrein, den Herrn zu einem Kuhhandel zu überreden.

»O Gott, o Gott, ich will nur eine Badehose von dir. Ich beschwöre dich in deiner unendlichen Weisheit, mir eine Badehose vom Himmel zu schicken. Ich tue alles dafür, alles, was du von mir verlangst, ich will nur eine Badehose dafür. Nur eine Badehose, jetzt. Ich tue alles, was du willst. Alles. Ich glaube an dich. Ich schwöre, ich werde immer an dich glauben. Du bist meine Zuversicht, ich werde dir auf allen Wegen folgen. Ich werde alles für dich tun, alles, was je in meiner Macht steht, egal, was du von mir verlangst. Nur bitte, bitte, bitte, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, bitte, Gott, erfülle mir nur diesen einen Wunsch. Bitte schick mir eine Badehose vom Himmel. Ich flehe dich an. Bitte.

Amen.«

Benjamin hielt die Augen fest geschlossen, als er das Wort noch einmal wiederholte.

»Amen.«

Um ihn herum herrschte Stille.

Und dann hörte er ein Geräusch.

Es war das Geräusch einer Spindtür, die in der Zugluft auf- und zuklappte, obwohl Benjamin bislang nicht aufgefallen war, daß es irgendwo zog. Tatsächlich war es ein absolut windstiller Tag, wie ihm während der Schwimmstunde klar wurde; daher konnte es kein irdischer Hauch gewesen sein. Es war der Atem Gottes. Das Geräusch drang von den Spinden direkt an sein Ohr, und als Benjamin sich auf die Beine kämpfte und mit zögernden Schritten zu den Metallkästen ging, wußte er bereits, was er vorfinden würde. Die Tür schlug ein weiteres Mal auf und zu, und als Benjamin sich dem Spind näherte, schien alles um ihn herum zu verschwimmen, als würde er durch ein Fischauge sehen. Gott hatte ihm ein Zeichen gegeben.

Er öffnete die Spindtür und fand das vor, was er bereits erwartet hatte. Eine marineblaue Badehose. Sie war feucht, anscheinend erst kürzlich benutzt worden und einige Nummern zu groß, doch da sie einen Elastikbund hatte, war das nicht der Rede wert. Es gab nichts, was noch der Rede wert gewesen wäre, und nichts sollte jemals wieder groß der Rede wert sein, solange Benjamin lebte.

Beim Schwimmtraining versagte Benjamin auf ganzer Linie. Als Mitglied eines von Culpepper angeführten Staffelteams war er ganz klar der entscheidende Schwachpunkt in der Kette. Als er sich seine zwei Längen im Butterfly-Stil abgequält hatte und mit knallrotem Gesicht nach Luft schnappte, war der Vorsprung seines Teams dahin; schließlich mußten sie sich der an Nummer zwei gestarteten Staffel geschlagen geben, einer ausgeglichener besetzten Mannschaft, an deren Spitze der von Ehrgeiz zerfressene Fit Eddy stand. Benjamin bekam den ganzen Zorn seines Teams zu spüren. Häme und Verachtung prasselten nur so auf ihn herab.

»Bent, du Arschloch!« zischte Culpepper, als sie wieder ihre Schuluniformen anzogen. »Du beschissene, nutzlose, arme Sau! Du Lusche! Du schwule Tunte hast uns total hängenlassen, jeden einzelnen von uns! Ohne dich hätten wir gewonnen, du Penner! Du mieser Waschlappen! Was bist du bloß für eine verdammte Null!«

Doch Benjamin lächelte ihn einfach nur an, was Culpepper völlig auf die Palme brachte. Dabei wollte er ihn gar nicht reizen. Er lächelte einfach, weil er ein tiefes Gefühl unerschütterlicher Menschenliebe in sich verspürte, das Culpepper genauso wie allen anderen galt; nichts auf der Welt hätte sein Vertrauen in den gerechten Lauf der Dinge je wieder ins Wanken bringen können. Dasselbe glückselige, versonnene Lächeln war auch seine einzige Antwort, als Philip ihn auf dem Weg zur Aula am Arm ergriff und wissen wollte, was passiert war und woher er plötzlich die Badehose hatte. Später erzählte er ihm, daß sie ein Geschenk war, doch mehr sollte er über das Mysterium der knielangen und viel zu groβen Badehose nie preisgeben. Eine Zeitlang wurde die ominöse Badehose Teil der dunklen Mythologie des King William’s, bevor sie in Vergessenheit geriet. Andere ungelöste Rätsel nahmen ihre Stelle ein.

Andächtig lauschte Benjamin der Lesung Francis Pipers, wenn auch eigentlich nicht seinen Worten, sondern dem wohltönenden Singsang des 70jährigen Dichters, dem Tremolo seiner Stimme, in der er ferne Echos von Psalmen und Hymnen anklingen hörte. Wie gebannt betrachtete er den alten Mann, sein friedliches, von tiefen Lachfalten zerfurchtes Gesicht, und mit einem Mal kam es ihm vor, als hätte er nicht eine Figur des literarischen Lebens vor sich, sondern eine Vision von geradezu perfekter Klarheit, die sich in der Aura des Greises zu spiegeln schien; so ähnlich mußte das Gesicht Gottes aussehen.

Staub wirbelte in den Sonnenstrahlen, die Francis Pipers schlohweißes Engelshaar in goldenes Licht tauchten, und Benjamin mußte sich zwingen, vor Freude nicht lauthals loszulachen. Sie war überall. Göttliche Gnade war überall.

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