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4. Konsequenzen: Das historische Epos

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Das frühe römische Epos ist nicht vom Himmel gefallen, nicht einfach aus dem griechischen Kulturraum transponiert worden. Die Orientierung an griechischen Texten ist nicht zu übersehen, erübrigt aber nicht, dass in einer mündlich dominierten Kultur zunächst ein Ort für den neuen Texttyp gefunden werden muss. Schon die ersten Versuche stabilisieren die Gattung aber soweit, dass in der nächsten Generation das Ennianische Großepos entstehen kann, das wiederholte Rezitationen epischer Bücher in halbwegs stabilen Zirkeln voraussetzt.

Gleichwohl ist die republikanische Geschichte des Epos keine reine Erfolgsgeschichte. Während in hellenistischer Zeit epische Dichtung wohl vor allem an Höfen blühte,63 bleibt der Befund in Rom für das zweite Jahrhundert überraschend dürftig. L. Accius’ Annales bilden eine Ausnahme; da fr. 4 Blänsdorf eindeutig eine Kampfszene bietet, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein historisches Epos gehandelt habe. Das oft unterstellte Sachgedicht, das nicht die Folge der Jahre, also Geschichte, behandelt, sondern den Jahreslauf als einen Zyklus von Festen (jeweils mit ihren Aitien), fände dagegen meines Erachtens keinen literatursoziologisch plausiblen Ort. Möglicherweise war es dennoch die Vereinzelung epischer Produktionen im zweiten Jahrhundert, die zu einer Literarisierung, zur schriftlichen Tradierung und einer „Kanonisierung“ der frühen lateinischen Epen führte, die zu Schultexten wurden und über die spätrepublikanisch-augusteischen Epen panegyrisch-historischen Zuschnitts Anknüpfungspunkte für die mit Vergil einsetzende Textreihe boten.

Erst seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts lässt sich eine dichtere Reihe historisch-panegyrischer Epen nachweisen: das Bellum Histricum des Hostius, vermutlich die Zeit um 129 v. Chr. behandelnd; die Darstellung des Konsulats des Q. Lutatius Catulus von Furius Antias. Für das erste Jahrhundert kennen wir mehr Namen: Ein Sueius schrieb ein historisches Epos in fünf Büchern, ein Volusius schrieb Annales, ebenso Q. Hortensius. M. Tullius Cicero steuerte drei Epen zu dieser Textreihe bei: den Marius, vielleicht ein Jugendwerk; drei Bücher „Über sein Konsulat“ und – nach der Rückkehr aus dem Exil – De temporibus suis.64 Die Gattung erreichte einen ersten Höhepunkt in Augusteischer Zeit und blieb bis in die Spätantike, als historische Epen erneut die erhaltenen Epen zu dominieren begannen, präsent. Die zahlreichen recusationes augusteischer Dichter dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass historisch-panegyrische Epen auch tatsächlich produziert wurden: Das Carmen de bello Aegyptiaco, vielleicht Teil der Res Romanae des augusteischen Dichters Cornelius Severus, erinnert daran.

Bei allen Fragezeichen, die mögliche Textverluste an jede Hypothese stellen, sind einige Gründe für die republikanische Entwicklung herauszuheben, die miteinander zusammenhängen:

(1) Das für umfangreiche epische Hofdichtung nötige Reservoir an Berufsdichtern stand in Rom bis in Augusteische Zeit nicht zur Verfügung. Noch Cicero greift zunächst auf den griechischen Dichter Archias zurück, wenn er ein Epos über sein Konsulat haben will.

(2) Die römischen Familien (und damit ihre Bankette) nahmen erst im ersten Jahrhundert v. Chr. Elemente von Höfen an, die langfristig stabile Patronagebeziehungen und zugleich ein stabiles Publikum boten, wie es der (Groß-)Epiker benötigt.65

(3) Die zunächst vom Epos erbrachte Integrations- und Systematisierungsleistung wurde von der sowohl leistungsfähigeren als auch handwerklich unkomplizierteren Geschichtsschreibung übernommen. Als zunächst griechische Lesetexte entworfen, fand Geschichtsschreibung im zweiten Jahrhundert rasche Verbreitung unter den Mitgliedern der Oberschicht und wurde dann lateinisch.

(4) Im Symposion boten die Berufsdichter selbst Alternativen zum anspruchsvollen Epos; von den zahlreichen experimentellen Texten des Ennius selbst können wir uns etwa das vielleicht erste hexametrische Gedicht in lateinischer Sprache, die Hedyphagetica, die „Delikatessen“, in einem solchen Rahmen vorstellen.66

Die Geschichte der republikanischen lateinischen Epik gehört in den Kontext der Auseinandersetzung der römischen mit der beziehungsweise den griechisch-hellenistischen Kulturen, die im Laufe des dritten vorchristlichen Jahrhunderts zu einem wichtigen kulturgeschichtlichen Datum Roms geworden ist. Die kolonialistische Perspektive – griechische Literatur verschafft sich mit der Übersetzung ins Lateinische neue „Absatzmärkte“ – scheitert an den politischen Gegebenheiten: Die politische Dominante ist Rom geworden. Was sich an der lateinischen Epik beobachten lässt, ist der Teil des Hellenisierungsprozesses, in dem die in schriftlicher Form (und in griechischer Sprache) vorliegenden Wissensvorräte in Rom übernommen werden. Das geschieht, indem griechische Epen und das Modell der Großdichtung in die Form des Bankettvortrags „umkodiert“ werden. Diese Rekodierung trägt experimentellen Charakter: Wenigstens an drei Texten können wir – erfolgreiche – individuelle Versuche ablesen, Versuche von Individuen freilich, die jeweils als Dramendichter bereits über eine solche Reputation verfügen, dass für sie das Risiko des Experimentes tragbar ist67 und – wenigstens im Fortdichten des Ennius erkennbar – es zum Erfolg kommt. Das Ergebnis ist etwas Neues, und je mehr es sich dem Homerischen Muster annähert – Hexameter, hohe Buchzahlen –, desto mehr unterliegt es einem Wandel des sozialen Ortes und der Funktion.

Der Wandel des sozialen Ortes lässt sich am einfachsten anhand des Begriffs der Hofdichtung deutlich machen. Ich hatte plausibel zu machen versucht, dass die Epen im Rahmen adliger Bankette, in Symposien der Nobilität aufgeführt worden sind. Diese Zusammenkünfte von Angehörigen der Oberschicht sind keine Veranstaltungen eines „Hofes“, sondern sind Treffen von Angehörigen der Oberschicht in wechselnder Zusammensetzung.68 Innerhalb dieser Schicht herrscht ein intensiver Wettbewerb, doch gleichzeitig – und das ist für den Zusammenhalt der Gruppe von entscheidender Bedeutung – bemüht man sich intensiv um Regeln, die Egalität zwischen ihren Mitgliedern sicherstellen. Insofern können die Epen als Texte, die in dieser Gruppe vorgetragen werden, nicht beliebig eine einzelne Person unbeschränkt in den Himmel loben: grassator, Schmeichler, zu sein, war offensichtlich bei aller Notwendigkeit, loben zu müssen, der Vorwurf, der als Dichter zu vermeiden war. Die Rezitatoren waren darauf angewiesen, dass ihre Texte von einem in der Oberschicht sehr gemischt zusammengesetzten Publikum positiv rezipiert werden.

Die hellenistischen Traditionen ermöglichten neue Differenzierungen, sie konnten aber auch dazu dienen, römischen Leitvorstellungen, Tugenden und Werten, eine aktuellere Fassung zu geben. Dass die auf griechische Form und Inhalte zurückgreifenden lateinischen Epen das unter den spezifisch römischen Verhältnissen zu leisten vermochten, dürfte der Grund dafür gewesen sein, warum die frühen Epen sehr schnell – und gerade deswegen werden sie ja dann tradiert – eine Funktion bekamen, die häufig mit dem Begriff „Nationalepos“ beschrieben wird. Natürlich stellt das terminologisch einen krassen Anachronismus dar – es gab weder eine Nation noch einen Staat im Sinne des neunzehnten Jahrhundert. Richtig aber ist, dass diese Texte einen breiten Konsens in der Oberschicht widerspiegeln, sie für die Wertvorstellungen dieser Oberschicht – aber auch: gerade und nur dieser Oberschicht – repräsentativ sein mussten und insofern Funktionen wahrnehmen konnten, die Hofdichtung – wie sie sich wiederum aus der Feder unbekannter Poeten im verkleinerten Rahmen der Feldherren der ausgehenden Republik durchaus entwickelte – nie hätte wahrnehmen können. So wurden sie schließlich auch zentrale Medien römischer „Geschichte“, die trotz ihres weiten Rückgriffs in die griechische Mythologie nichts Fremdes, sondern gerade das Eigenste des normativen von der Aristokratie entworfenen Bildes römischer Kultur vermitteln sollten.

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