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1. Livius

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In den für die Jahre 218 bis 167 v. Chr. erhaltenen Büchern 21 bis 45 des livianischen Geschichtswerkes finden sich zahlreiche Notizen zu Kooptationen und Todesfällen römischer Priester. Sie lassen sich, bei geringen Variationen und Fehlern, recht scharf umreißen. Zum Gegenstand haben sie folgende Kollegien und Ämter: Rex sacrorum, Flamines maiores, Pontifex maximus, die Pontifices, Auguren und Decemviri sacris faciundis. Für die Epulonen, die 196 gegründet wurden, werden die Namen der ersten Amtsinhaber genannt und – was wichtiger ist – eine Nachfolgenotiz gemacht.4 Diese Notiz steht mitten unter weiteren Todes- und Nachfolgenachrichten anderer Priesterschaften, so dass mit der Aufnahme der Epulonen in die Überlieferung der großen Kollegien – was auch immer das im Moment noch heißen mag – zu rechnen ist. Dasselbe gilt für das Wahlamt des Curio maximus, das im betrachteten Zeitraum nur zweimal neu besetzt wurde. Während die Wahl des ersten plebeischen – das ist der Kern des Interesses – Amtsträgers im Jahre 2095 auch auf einen anderen Überlieferungszusammenhang zurückgehen könnte, steht die Nachricht über seinen Tod und seinen Nachfolger wieder im Kontext ähnlicher Priesternotizen.6 Im Gegensatz zu diesen Ämtern existieren Nachrichten über Vestalinnen ausschließlich im Zusammenhang mit Prozessen, gegebenenfalls Hinrichtungen oder Selbstmorden. Die Flamines minores fallen gänzlich aus der Überlieferung heraus. Die ganz vereinzelten Nachrichten über Salii, Luperci und Fetiales gehören allesamt nicht dem Typ der Sukzessionsnachricht an.7

Am Text des Livius können noch weitere Beobachtungen gemacht werden. Die Sukzessionsnachrichten für die Kollegien waren nach Dekurien geordnet: Bei Todesfällen wurde das Kollegium nicht einfach bis zur Sollstärke aufgefüllt, sondern es wurden Nachfolger für jedes einzelne verstorbene Mitglied gesondert gewählt. Überprüfen lässt sich diese Aussage anhand von Jahren mit zwei oder mehr Toten in einem Kollegium. Hier kann Livius nicht nur die Namen der Nachfolger angeben, sondern er sagt auch, wer wem nachfolgte.8

Schon aus der Tatsache, dass Livius die Nachrichten einzelnen Jahren zuordnet, ergibt sich, dass die Amtswechsel absolut datiert waren. Diese Überlegung lässt sich noch verfeinern. Im Unterschied zu den magistratischen Wahlen ist Livius nicht in der Lage, die Kooptationen präzise in der Chronologie eines Jahres zu verorten. Eo anno ist die typische Einleitung, und sie sucht ihren Anknüpfungspunkt an andere Ereignisse des Jahres, seien es rituelle Daten oder letzte Akte verstorbener Personen, üblicherweise nicht die Wahlnotizen für Konsuln, Praetoren oder Aedile. In Ausnahmefällen kann ein Todesfall auf Jahresanfang oder Jahresende datiert sein, dann auch mit dem Vermerk, dass die Kooptation nicht mehr im laufenden Jahr stattfinden konnte: Auch das sind Angaben, die über eine einfache Sukzessionsliste – dem X folgte Y, dem Y folgte Z – hinausgehen.

Die Einbindung der Sukzessionsnotizen erfolgt nicht nur äußerlich. In einigen Fällen ergibt sie sich nämlich von innen heraus: Nachfolgeregelungen oder Todesnotizen sind selbst Anlass umfangreicherer Berichterstattung.9 Solche Passagen werden organisch aus den sonst nur geringfügig verbalisierten „Namenslisten“ heraus entwickelt; sprachliche Brüche, die zwischen Grundnachricht und Erweiterung unterscheiden ließen, können nicht festgestellt werden. Dies entspricht im wesentlichen der Behandlung der magistratischen Ämter im gleichen Zeitraum. Setzt man eine Quelle des Typs der Fasti Capitolini voraus, müsste man sagen, dass Livius sie in der Form von Wahlnachrichten verbalisiert, gelegentlich erweitert. Dem sprachlichen Befund wird diese Beschreibung insofern nicht gerecht, als die „Erweiterungen“ nicht als nachträgliche Einfügungen in eine viel dürrere Quelle erkennbar sind. „Variatio“ wird im Satzbau oder in der Wortwahl verwirklicht, nicht in „Episoden“.

Für welchen Zeitraum standen Livius’ Quellen über Priesterämter überhaupt zur Verfügung? Die erste erhaltene Nachricht steht im dreiundzwanzigsten Buch zum Jahr 216 v. Chr.10 Nichts deutet daraufhin, dass es sich bei ihr um die erste von Livius überlieferte handelt. Zwei Jahre ohne Kooptation sind nichts Ungewöhnliches. Man muss daher davon ausgehen, dass Livius auch schon vor 218 v. Chr. derartige Nachrichten zu Papier brachte. Wie steht es mit den erhaltenen früheren Büchern? Fest verbunden mit dem Bericht über die Vergrößerung der Priesterkollegien von Auguren und Pontifices durch das Ogulnische Gesetz ist die Nennung der Namen der Neugewählten.11 Sieht man einmal von Nachrichten über die Pontifices maximi und zwei Notizen für das fünfte Jahrhundert ab – auf die gleich zurückzukommen ist –, fehlen weitere Passagen mit ähnlichen Informationen ebenso vorher wie nachher. Leider bricht die Überlieferung bereits mit dem Jahr 293 ab. Könnte die lex Ogulnia (300 v. Chr.) mit ihrer Vergrößerung der Kollegien der gesuchte Ausgangspunkt einer detaillierteren Tradition sein? Bei einer so hohen Zahl von Neugewählten wären sieben Jahre ohne Nachfolgeregelungen durchaus denkbar. Dagegen spricht bereits der Tod des Pontifex P. Decius Mus im Jahr 295 (durch devotio), den Livius zwar als Tod eines Konsuls, nicht aber als Tod eines Priesters thematisiert. Livius selbst spricht zudem gegen die These dieses Einsatzdatums und zwingt dazu, die Grenze noch nach dem Jahr 265 anzusetzen: In der Nachricht vom Tod des Q. Fabius Maximus Verrucosus im Jahr 203 schreibt er, dass einige Autoren (quidam) behaupteten, dieser sei zweiundsechzig Jahre lang Augur gewesen. Er sieht sich aber nicht in der Lage, diese Angabe zu überprüfen.12 Danach können ihm Listen oder Darstellungen, die Kooptationsnachrichten bereits für das Jahr 265 geboten hätten, nicht vorgelegen haben.

Der kurze Nachruf auf den Cunctator ist noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Eine Diskussion über die genaue Dauer eines lebenslangen Amtes ist nur anlässlich des Todes seines Trägers vorstellbar. Der Nachruf bildet eine Einheit: Am Anfang steht die Feststellung des Todes und des hohen, allein aus dem langjährigen Augurat zu erschließenden Alters, am Ende stehen die Namen der Nachfolger im Augurat wie im zweiten Priesteramt. So wenig der Plural – quidam auctores – von Bedeutung ist, so sicher erweist der „Beleg“, dass Livius auch die Kooptationsnachrichten aus einer literarischen, nicht dokumentarischen Quelle übernommen hat und sie bereits in einem literarisch gestalteten Kontext vorfand.

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