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3. Pontifikale Quellen

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Der Negativbefund ist eindeutig: Eine breitere dokumentarische Überlieferung über die Inhaber von sakralen Ämtern hat es vor der Mitte des dritten Jahrhunderts v. Chr. nicht gegeben. Was aber kann man positiv über die von diesem Zeitpunkt an zur Verfügung stehenden „Dokumente“ sagen? Unter Berücksichtigung des gleichen Einsatzpunktes und ihrer häufigen Nähe im Livianischen Kontext scheinen Prodigienberichte, Nachrichten über Spiele und die Mitglieder der wichtigsten Priesterschaften diesem „Dokument“ anzugehören, das damit ein relativ breites Interesse an sakralen Dingen verrät. Schon KLOTZ hatte in seiner Quellenanalyse die annales maximi zur Identifizierung vorgeschlagen.47 Wir können es im Moment noch beim üblichen Vorverständnis dieses Begriffes belassen: Gemeint sind amtliche Aufzeichnungen des Pontifex maximus, die möglicherweise jährlich auf Holztafeln publiziert wurden. Auch das genaue Verhältnis unseres „Dokumentes“ zu solchen Aufzeichnungen soll noch offen bleiben; es reicht, eine gewisse inhaltliche Konvergenz festzustellen. Betrachtet man den Geschäftsbereich der einzelnen Magistrate, Priesterschaften und Priester, kommt am ehesten dem Pontifex maximus ein Interesse an den dokumentierten Fakten zu, das sich mit dem intern gewonnenen Befund der Valerischen Quelle deckt.

Ein Blick auf die Liste der berücksichtigten Priester zeigt, dass diese nicht mit dem erweiterten Pontifikalkollegium übereinstimmen, das neben den Pontifices den Rex sacrorum, die Vestalinnen und die Flamines maiores umfasst.48 Auffällig ist der völlige Ausfall der Frauen unter den Mitgliedschaftsnotizen. Nicht nur die virgines Vestales wären zu nennen gewesen. Ein Interesse an vollständiger Dokumentation der kultischen Funktionsträger hätte auch die Flaminicae, die Gattinnen der Flamines maiores, oder die Regina sacrorum, die Frau des Rex sacrorum, erfassen müssen. Außerhalb des Pontifikalkollegiums lagen die selbständig beziehungsweise nur in Abhängigkeit vom Senat arbeitenden Auguren und Decemvirn, die ebenso sorgfältig wie die Pontifices dokumentiert wurden. Von den bekannteren Kollegien fehlen durchweg die Salier, Luperci, Fetialen, die Fratres Arvales und die Sodales Titii. Das ist vom kaiserzeitlichen Standpunkt her verständlich – sie gehörten nicht zu den quattuor amplissima collegia –, doch darf dieses augusteische Prestigekriterium nicht mit sakralrechtlichen Normen der Republik verwechselt werden. Denkbar ist daher nur, dass die Verfasser der Aufzeichnungen diese Kollegien ebenso wie die Flamines minores als Spezialpriesterschaften betrachteten, die für das die Abfassung leitende Interesse zu sehr am Rande lagen. Was aber ist dieses Interesse? Die Kooptation kommt als regierendes Prinzip nicht in Frage: Sie galt weder für den Rex sacrorum noch für die Flamines. Auch das Sakralrecht scheint es nicht geboten zu haben: Wie aus späteren Aufzeichnungen über Antrittsbankette im Pontifikalkollegium bekannt ist, haben daran auch Frauen, Vestalinnen wie Flaminicae, teilgenommen.49 Ein gemeinsamer Nenner lässt sich nur unter dem Stichwort „Prestige“, also politisches Gewicht und soziales Ansehen, erkennen: Es erklärt die Auswahl der aufgelisteten Kollegien ebenso wie die Beschränkung auf Männer.

Über die erste allgemeine Bewertung hinaus erlauben es einige Beobachtungen am Livianischen Text, Hypothesen zum Aussehen der Vorlage zu formulieren. Zunächst waren die Priesternachrichten nicht in die „annalistischen Jahresberichte“ integriert, also in kurze Zusammenfassungen der Ereignisse eines Jahres, die nach der Konsulardatierung die wichtigsten Magistrate, Kriege und inneren Entwicklungen nannten. Im Livianischen Text stehen die Priesternachrichten in einem schwankenden „räumlichen“ Verhältnis zu derartigen Nachrichten über Magistrate und Kriege, aber zumeist in weitem Abstand dazu. Es gibt keine Anzeichen für die Existenz von Fasten, die nach Priesterschaften getrennt abgefasst wären. Eine Umgestaltung von verschiedenen Dokumenten des Typs der Auguralfasten, in denen dekurienweise Eintrittsdaten vermerkt waren, wäre sehr aufwendig gewesen. Dem Befund wird die Annahme einzelner Sukzessionsnachrichten gerechter. Diese waren vermutlich schon in Einzelfällen etwa um Todesumstände (Seuchen) oder Mitteilungen aufwendiger Bestattungen erweitert. Schließlich: Sicher standen in derselben Quelle, wie bereits vermerkt, auch Nachrichten über Spiele und wohl auch Prodigien.

Als schwieriger erweist sich die Frage nach dem chronologischen Aufbau. Sicherlich waren alle Ereignisse einem bestimmten Jahr zugeordnet oder entsprechend gekennzeichnet. Entsprechendes berichten auch die wenigen Quellen, die Aussagen über die Gestaltung der pontifikalen Dokumente machen.50 Mit einer weiteren Präzisierung – Servius sagt: gesta per singulos dies51 – wird es allerdings problematischer. Einerseits gibt es Anzeichen für eine fortlaufende chronologische Eintragung, die Aussagen über eine Plazierung innerhalb des Jahres – Jahresanfang, Jahresende – erlaubt.52 Andererseits gibt es nie Tagesdaten für den Tod oder die Kooptation eines Priesters, die jahrweise Zusammenfassung scheint üblich. Letzteres könnte allerdings zumindest teilweise das Werk des Valerius Antias gewesen sein: Wenn für das Jahr 184 v. Chr. von comitia auguris creandi gesprochen wird, so handelt es sich um einen Anachronismus, der erst seit der lex Domitia, die ein volkswahlähnliches Element in das Kooptationsverfahren hineinbrachte, also erst seit etwa 104 v. Chr. denkbar ist.53 Ziel dieser Verschiebung, in deren Folge ein Ereignis des Jahres 184 erst für 183 berichtet wird, könnte die Zusammenfassung solcher Priesternachrichten sein; für das Jahr 184 wird nichts dergleichen berichtet.

Ein scheinbares Gegenbeispiel aus den Jahren 196/5 erweist sich als aufschlussreich. Im Jahr 196 vermerkt Livius den Tod des Augurs Q. Fabius Maximus, versieht diesen Eintrag aber mit dem Zusatz, dass in diesem Jahr noch keine Nachfolgeregelung getroffen wurde.54 Die Sukzessionsnachricht folgt dann – und zwar ohne dass ein weiterer Priesterwechsel hätte berichtet werden müssen – im Jahr darauf, versehen mit einem Rückverweis.55 Da weder Livius noch Valerius Antias bemüht gewesen zu sein scheinen, jedes Detail zusammengehöriger Ereignisse im jeweiligen Jahr zu berichten, darf man auf den chronologischen Aufbau des Originals schließen, das aus sukzessiven Eintragungen bestanden zu haben scheint; die Darlegung eines längeren Prozesses konnte also durchaus in zwei getrennten Einträgen erfolgen.56 Warum kam es aber hier nicht zu der oben postulierten Zusammenfassung? Die Erklärung hierfür ergibt sich aus dem in der Anmerkung zitierten Kontext der zweiten Passage. Zwischen den beiden Einträgen, die sich auf den Personenwechsel bezogen, stand weiteres „pontifikales“ Material, der Bericht über das ver sacrum.57 Die Nachfolgenotiz wird daran mit per eosdem dies angeschlossen. Das spricht für eine differenzierte chronologische Angabe in der Quelle, für welche die Angabe eines Tagesdatums nicht notwendig wäre.58 Vergleicht man nun die Behandlung der beiden Fälle, bietet sich die Interpretation an, dass eine Zusammenfassung vor allem dann vorgenommen wurde, wenn das „Dokument“ zwischen zwei Einträgen nicht viel Material oder nicht viel, was den Historiker interessierte, bot.

Werden die intern aus Livius gewonnenen Beobachtungen zusammengefasst, lässt sich aus ihnen für die Vorlage des Valerius Antias ein Dokument erschließen, das aus einer chronologischen Aufzeichnung sakraler Ereignisse bestand. Als Gattungsbezeichnung kommt für ein derartiges Schriftstück nur die Bezeichnung commentarii in Frage. Commentarii pontificum kennen wir durch eine Reihe von Nachrichten oder Zitate; die Klärung, ob jene mit den soeben erschlossenen identisch sind, soll wiederum zurückgestellt werden. Zunächst ist noch ein letzteres internes Datum, der Aufzeichnungsbeginn, auszuwerten.

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