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3. Erinnern und Verorten
ОглавлениеWas ist neu an diesen Texten, warum werden – um einmal die binnenrömische anstelle der griechischen Perspektive der Übersetzung zu wählen – Tischlieder nun verschriftlicht? Die Schriftlichkeit, das ist zunächst festzuhalten, ist eine Produktionsschriftlichkeit, erst sekundär dient sie auch der Textverbreitung. Die Leistung ist dabei eine doppelte. Der Medienwechsel – ich übernehme hier die Metaphorik, die HAIKO WANDHOFF für seine Analyse mittelalterlicher Epik verwendet hat39 – leistet zunächst den „Netzanschluss“. Was den noblen römischen Trinkern (und Essern) fehlt, ist eine Verortung ihrer eigenen Gesellschaft und Geschichte in den internationalen Traditionen der Mittelmeerwelt, insbesondere der griechischen Mythologie und Geschichte.
Genau diesen Anschluss leisten die Epen, die eine Brücke von griechischer Mythologie zu römischer Geschichte schlagen. Livius wählt die Gestalt des Odysseus, der in seinen Fahrten große Teile des mediterranenen Welthorizontes der Römer „koordiniert“; Naevius schließt das wichtigste außenpolitische Ereignis der jüngeren Vergangenheit, den römisch-karthagischen Konflikt, über die Dido-Episode und Aeneas an die trojanische Vorgeschichte der Griechen und Karthager an. Solche Verknüpfungen kommen nicht aus dem Nichts. Griechische Mythen sind archäologisch schon viel früher präsent, ein Timaios deutet das römische Ritual des Oktoberpferdes schon Anfang des dritten Jahrhunderts als römisches Racheritual an der Eroberung Trojas.40 Aber das sind Aussagen von Griechen,41 die ihrerseits Einordnungen vornehmen, aber in ihrer Perspektive doch bloße Detailverortungen in einer größeren und dichteren Welt als der zeitgenössischen der Römer.
Um eine „Anschaltung ans skriptographische Netz“42 handelt es sich für die römische Kultur insofern, als sie den griechischen Wissensvorrat nicht in der durch Vasenbilder, Statuetten oder einzelne Dramenaufführungen43 vermittelten Form rezipiert, sondern auf schriftliche Texte zurückgreifen kann, die übersetzt, modifiziert und rekombiniert werden. Das erklärt auch, wieso die frühe römische Epik so stark auf die ältere griechische Epik zurückgreift. Zwar knüpfen die Dichter beim Sitz im Leben der hellenistischen Epik an, aber sie transponieren nicht einfach die zeitgenössische Panegyrik auf römische Verhältnisse. Der mythologisch-historisch-geographische „Apparat“ ist nicht nur Schmuck, sondern wesentlicher Zweck des neuen Texttyps, aber nicht Selbstzweck, sondern immer auf den Fluchtpunkt der eigenen Gegenwart und ihrer Ansprüche ausgerichtet.
Betrachten wir das vorangehende römische Erzählgut unter der Perspektive der Oral-Poetry-Forschung, die einen tradierten (und durch zahlreiche Wiederholungen auch durchaus in der Form stabilisierten) und den Bedürfnissen der je aktuellen Gesellschaft angepassten Text ins Zentrum rückt, wird deutlich, dass gerade für das Neue die notwendigen Voraussetzungen einer problemlosen Integration in die mündliche Tradition fehlten: ein reicher Schatz an flexibel verwendungsfähigen Formeln auch für neue Sachverhalte, ein System geläufiger Figuren, Beziehungsmuster, Orte und Qualifikationen (Beiwörter). Schriftliche Produktion anstelle von composition in performance (beziehungsweise unter den römischen Verhältnissen fehlender Berufssänger: anstelle der Modifikation oder Rekombination geprägter Lieder) wird notwendig.
Die damit verbundene, aber analytisch abzuhebende zweite Leistung besteht in einer durch die schriftliche Fixierung ermöglichten Systematisierung und Detaildokumentation. Der Anschluss an die ausgebaute griechische Mythologie, Chronologie und Geographie erforderte eine systematische Rekonstruktion der eigenen entsprechenden Wissensbereiche und ermöglichte deren Erweiterung: Wenn wir die Willkür der überlieferten Fragmentauswahl ausblenden, zeigt Livius neben seiner odysseischen Geographie besondere Leistungen im theologischen Bereich, indem er die handelnden Götter durch ein dichtes Netz von Abstammungsangaben miteinander in genealogische Beziehung setzt.44 So wird die für die griechische Muse eintretende Camena als diva Monetas filia bezeichnet,45 Zeus ist nicht einfach Iuppiter, sondern Saturni filie, die „Herrin Hera“ sancta puer Saturni regina.46 Das ist nicht einfach nur die Einführung von römischem „Lokalkolorit“ in eine griechische Geschichte. Vielmehr spiegelt der endgültige Text einen zweistufigen Prozess wider, in dem (logisch, nicht zeitlich) zunächst die internen Kategorien der römischen Kultur soweit fortentwickelt – man kann ruhig sagen: hellenisiert, aber das lenkt vom Entscheidenden ab – wurden, um dann, im zweiten Schritt, die ins Lateinische übersetzten griechischen Erzählungen als Extension des eigenen, des römischen Welt- und Erzählhorizontes akkommodieren zu können.
Naevius interessiert sich stark für Geographie und ebenfalls mythische Genealogie.47 Daneben spielen aber auch sakralrechtliche Sachverhalte eine Rolle;48 Naevius scheut auch nicht vor Fachterminologie zurück, wie in fr. 2 Strzelecki = 35 Blänsdorf besonders deutlich wird, wenn er von den Instrumenten der Fetialen spricht. Für Ennius, mit dem sich ohnehin das Gattungsspektrum weit über hexametrische Epik hinaus öffnet, fällt eine ähnliche Charakterisierung schwerer. Erkennbar bemüht er sich um eine präzisere Chronologie und dürfte damit im Wettbewerb mit zeitgenössischen Prosahistoriographen (Fabius Pictor, Cincius Alimentus) stehen.49 Wer sich selbst als Teil oder – eher – Zentrum50 der mittelmeerischen Geschichte versteht, muss auch angeben können, in welchem zeitlichen Verhältnis die Gründung Roms zu Troja und Karthago steht und elementare Synchronismen wenigstens für wichtige Ereignisse liefern. Es ist Ennius, bei dem uns zum erstenmal die doppelte Konsulardatierung in einem literarischen Text begegnet;51 insofern verdient er sich eher den Namen „älterer Annalist“ als Pictor und Cincius.52
Daneben steht bei Ennius aber auch die systematische oder systematisierende Dokumentation etwa religiöser Sachverhalte, deren pointierte sprachliche Verdichtung sie im Einzelfall sogar stark herausheben kann. So die Zwölfgötterliste:
Iuno, Vesta, Minerva, Ceres, Diana, Venus, Mars, Mercurius, Iovis, Neptunus, Vulcanus, Apollo. 53
Ähnlich die Zusammenstellung von wenigstens sechs der zwölf Flamines minores:
Volturnalem Palatualem Furinalem Floralemque Falacrem et Pomonalem fecit. 54
Systematisierung heißt aber auch – kulturintern – die Systematisierung der vor allem durch die Leistungen der Vorfahren erworbenen Ansprüche der konkurrierenden gentes. Der schiere Umfang epischer Gedichte (von Naevius noch in einen Abend gepresst, von Ennius didaktisch klüger als wohlproportioniertes Großepos gestaltet) ermöglicht hier die Berücksichtigung vielfältiger Interessen und ihre narrative Austarierung. Von unserer Kenntnis der Werke her vermittelt davon am ehesten die immer wieder auf einzelne Personen konzentrierte Erzähltechnik des Ennius einen Eindruck. Die Schwierigkeiten, die sich – angesichts des gerade seit dem Zweiten Punischen Krieg verschärften Wettbewerbs um Ämter und Ehre – dabei auftürmten, lassen sich erahnen, wenn man auf die fließende Geschichte der Konsularfasten mit ihren mannigfaltigen Erfindungen, Verfälschungen und Umdatierungen schaut: Die Homöostase der sich durch Tradition legitimierenden Gesellschaft verlangt die der jeweiligen Gegenwart angemessene Vergangenheit – ein Umgang mit Vergangenheit, der mit der Zunahme schriftlicher Dokumentation Probleme bereitet.55 Insofern stellen Verschriftlichungsprozesse in solchen Bereichen einen wirklichen „Kulturbruch“ dar.56
Dass diese Leistungen selbst Anforderungen implizieren, ist unabweislich. Metrische Texte dieses Umfangs zu produzieren ist Sache von Berufsdichtern.57 Solche Personen sind typischerweise nicht Mitglied der bankettierenden Zirkel, sie kommen von außen herein, ihre Position ist prekär. Cato der Zensor berichtet von solchen in symposiastischem Rahmen auftretenden Leuten und überliefert dafür die Bezeichnung grassatores:
Poeticae artis honos non erat: si quis in ea re studebat aut sese ad convivia adplicabat, crassator vocabatur. 58
Ehre besaß die Dichtkunst nicht. Wenn sie jemand ernsthaft betrieb oder sich zu Gelagen begab, wurde er crassator genannt.
Auch wenn wir im Vertrauen auf eine Festusglosse das für diese Zeit nicht als „Wegelagerer“ sondern als „Schmeichler“ interpretieren können,59 bleibt das negative Urteil erhalten. Wir sehen hier die Epiker in einem durchaus umstrittenen Prozess der Einbeziehung gruppenexterner „Unterhalter – gut denkbar, dass auch ein Ennius, der in seinem Epos darlegt, dass „alle Sterblichen gelobt werden wollen“ (ann. 560 V) und entsprechend selbst verfährt,60 von manchen Tischgästen diese Bezeichnung erdulden musste. Ein noch in Augusteischer Zeit bekannter Unterhalter beim Bankett ist der scurra, der Clown: Erzähler, aber nicht angesehener Dichter.61 Gegen dergleichen war die Rolle des poeta und vates abzuheben und positiv zu profilieren – eine Aufgabe, nicht der schon bereite Rettungsanker.62 Entsprechend fällt es gerade vor dem Hintergrund der griechischen Muster auf, wie intensiv gerade Ennius um eine Bestimmung seiner eigenen Rolle im Kontext der Adelsgesellschaft (Ebenbürtigkeit scheidet aus) ringt und dies auch im historischen Epos formuliert.