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Kapitel 2 Der soziale Ort der frühen römischen Epik und seine Konsequenzen für die historische Erinnerung 1. Chronologie

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Vor jeder weiteren Überlegung ist noch einmal die geringe Materialbasis zu betonen, die wir für die Frage nach dem Entstehen der römischen Epik besitzen. Schon die biographische Überlieferung ist problematisch: Bereits Accius, der Dichter und Literaturhistoriker vom Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. – also in relativ geringem Abstand zu den in Frage kommenden Dichtern – ist von einer anderen Reihenfolge ausgegangen.1 Für ihn war Naevius der erste römische Epiker und Livius Andronicus wohl jemand, der erst in den Anfang des zweiten Jahrhunderts v. Chr. zu datieren ist.2 Varro scheint im ersten Jahrhundert v. Chr. mit seinen Forschungen diese Annahme des Accius als falsch erwiesen zu haben; die Varronische Position jedenfalls ist die in der Antike verbreitete. Auch heute tut man aufgrund der problematischen Argumente des Accius gut daran, der Sequenzierung des Varro zu folgen: Livius Andronicus also früh zu datieren, schon in die zweite Hälfte des dritten Jahrhunderts.

Naevius und Livius Andronicus sind damit Altersgenossen, beide dürften um 280/270 v. Chr. geboren sein. Naevius war Kampaner, war Soldat im Ersten Punischen Krieg, der 264 v. Chr. begann und 241 v. Chr. endete.3 Daraus kann man auf einen Geburtszeitraum um 280/270 v. Chr. zurückschließen. Livius Andronicus stammt ebenfalls aus dem südlichen Italien, wohl – das ist nicht ganz sicher – aus Tarent, der einzigen spartanischen Kolonie in diesem Teil der Magna Graecia. Nach Ausweis seines Names dürfte er römisches Bürgerrecht durch einen Lucius Livius, wohl L. Livius Salinator, erhalten haben.4 Das einzige, was wir bei diesen beiden früheren Dichtern chronologisch sicher einordnen können, ist, dass Livius seine erste Dramenaufführung in Rom im Jahr 240 v. Chr. veranstaltete und auch Naevius kurz darauf (wohl im Jahr 235 v. Chr.)5 mit einem ersten Drama hervorgetreten ist. Bekannter und chronologisch einzuordnen sind also beide Autoren nicht aufgrund ihrer Epen, sondern aufgrund ihrer Dramenproduktion. Beide dürften wohl kurz vor 200 v. Chr. gestorben sein.6

Der „Punische Krieg“ des Naevius ist nach antikem Zeugnis erst im Alter geschrieben worden,7 vielleicht sogar erst während des Zweiten Punischen Krieges, 218 bis 202/201, möglicherweise aber doch schon kurz davor, also etwa in den 220er Jahren v. Chr. Für die Odussia besitzen wir keinerlei interne oder externe Datierungsindizien. Auch die Varronische Frühdatierung des Livius sichert nicht, dass Livius das Epos früher verfasst hat: Der geringe Vorsprung des bezeugten Beginns seiner Dramenproduktion von fünf Jahren hat dafür keinen argumentativen Wert.

Ennius ist mehr als eine Generation jünger als die Archegeten. Er ist im Jahr 239 v. Chr. geboren, also ein Jahr, nachdem Livius sein erstes Drama aufgeführt hatte.8 Geburtsort war das süditalische Rudiae. Demnach ist auch Ennius nicht aus Rom oder Latium gebürtig, sondern stammt aus dem kulturell griechisch dominierten Süditalien. Erst im Jahr 204 v. Chr. gelangte er nach Rom, und zwar in Begleitung des älteren Cato – hier wird erneut die Problematik deutlich, den ambivalenten Umgang mit griechischer Kultur in der römischen Oberschicht richtig zu deuten. Auch mit dem Ennianischen Epos gelangen wir chronologisch auf sicheren Boden: Die Annales entstanden erst im zweiten Jahrhundert v. Chr., Ennius begann vielleicht in den späten neunziger Jahren oder sogar noch etwas später daran zu schreiben. Bis zu seinem Tod im Jahr 169 v. Chr. arbeitet er noch an diesem Epos beziehungsweise an immer neuen Büchern: Nach einem ursprünglichen Buchschluss nach fünfzehn Büchern hängt er noch weitere Bücher an; bis zum achtzehnten Buch ist er gekommen.

Betrachtet man die chronologischen Verhältnisse in all ihrer Unsicherheit, so bleibt dennoch festzuhalten, dass sich die Anfangsphase römischer Epik über wenigstens zwei, eher drei Generationen erstreckte: ein Zeitraum, der von massiven außen- wie innenpolitischen Umbrüchen gekennzeichnet war. So kann man sicher sein, dass sich bei aller Variabilität, die auf das Konto der Individualität der Dichter und der unterschiedlichen Themen gehen mag, auch die Gattung selbst, das heißt der kommunikative Rahmen, die Erwartungen und Vorkenntnisse der Adressaten geändert haben. Der Wechsel des Ennius vom italischen Saturnier der Vorgänger zum griechischen Versmaß des Hexameters ist dafür nur ein Indiz.

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