Читать книгу Religiöse Erinnerungskulturen - Jorg Rupke - Страница 27
4. Commentarii pontificum
ОглавлениеMit dem Jahr 249 v. Chr., das als Beginn der commentarii wahrscheinlich gemacht werden konnte, verbinden sich zwei wichtige Daten. Das erste betrifft die Säkularspiele dieses Jahres. So wenig wir über ältere Vorstellungen vom Saeculum wissen,59 so sicher ist, dass hier mit dem Gelübde einer Wiederholung nach einhundert Jahren eine Frist in die kultische Praxis eingeführt worden war, die eine sorgfältige zeitliche „Buchführung“ verlangte und einer Institutionalisierung bedurfte, da sie jedes denkbare individuelle Erleben überstieg. Damit soll nicht behauptet werden, dass den commentarii gerade diese Aufgabe zufiel, doch bezeichnen die Säkularspiele ein Umfeld, das den Beginn solcher Aufzeichnungen verständlich macht.
Das zweite Datum bezieht sich auf den im Jahr 249 amtierenden Pontifex maximus, die Person, der zuallererst die Initiative zu solchen Aufzeichnungen zuzuschreiben wäre. Seit etwa 254 bekleidete der aus Tusculum stammende Ti. Coruncanius als erster Plebeier das Sakralamt, vielleicht wurde er als erster in modifizierten comitia tributa gewählt.60 Schon A. ENMANN war die überproportionale Rolle, die die Stadt Tusculum und tuskulanische Geschlechter (die Mamilii) in der annalistischen Darstellung der römischen Frühzeit spielten, aufgefallen, daneben auch die sicher fiktive Figur eines Volkstribuns Tiberius Pontificius zu Beginn des fünften Jahrhunderts.61 Seine Analyse führte ihn zu dem Schluss, dass es Coruncanius war, der zum erstenmal eine Redaktion der nach dem Gallischen Brand in der Regia noch vorhandenen Holztafeln mit den jährlichen Aufzeichnungen unternahm. Diese „Redaktion“ wäre weit über eine bloße Zusammenfassung hinausgegangen und hätte den zeitgenössischen Erzählschatz über die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts niedergelegt.62 Zahlreiche Erzählungen, die Vorfahren der jetzt bedeutenden Geschlechter in die römische Frühzeit projizierten, wären so in die historische Koine, an die sich Fabius Pictor anschließt, eingedrungen. Findet dieser Verdacht in unserer Analyse Bestätigung?
Zwei völlig unabhängige Punkte in der Biographie des Tiberius Coruncanius, die weniger mit etwaigen historischen Interessen als vielmehr mit seiner handfesten Tätigkeit als Pontifex und Jurist zusammenhängen, verdienen weitere Beachtung. Pomponius berichtet über ihn, er sei es gewesen, der als erster öffentliche Rechtsauskünfte gegeben habe.63 Für das praktische Verfahren gibt BAUMAN eine bemerkenswert einfache Vorstellung: „Er stellte einfach ein Schild „Beratung möglich“ (licet consulere) auf.64 Die angesprochenen verlorenen responsa zeigen Coruncanius auch literarisch aktiv; ihm werden – und das ist der zweite Punkt – einige sakralrechtliche Innovationen (oder zumindest Kontroversen) zugeschrieben. So bestand er auf der Verpflichtung der Erben zur Aufrechterhaltung der familiären sacra und gestattete, gedeckt durch ein Dekret des Kollegiums, die Abhaltung von feriae praecidaneae an dies atri.65
Das Umfeld der Aktivitäten des Coruncanius als Pontifex und Schriftsteller verdient Beachtung. Das dritte Jahrhundert spielte, wie im ersten Kapitel ausgeführt, für den Literalisierungsprozess der römischen Gesellschaft (oder wenigstens ihrer Oberschicht) eine zentrale Rolle: Das betrifft die Verschriftlichung von Reden, Schreibreformen, die ersten lateinischen Dramen und die Gründung von Schulen. Die ersten römischen Geschichtswerke mussten noch bis zum Ende des Jahrhunderts auf ihre Abfassung warten – und wurden dann in griechischer Sprache und griechischen Traditionen geschrieben. Das erste systematische pontifikalrechtliche Werk, ebenfalls von einem Fabius Pictor verfasst, erschien erst in der Mitte des zweiten Jahrhunderts.
Die literarischen Prozesse, die sich in den hundert Jahren nach der Aufzeichnung der Rede des Claudius abspielten, verliefen langsam. Vor ihrem Hintergrund müssen auch die Aktivitäten des Coruncanius erschlossen und wahrscheinlich gemacht werden. Nimmt man dieses methodische Prinzip ernst, erscheint eine weit ausholende „Redaktion“ vorhandenen Materials ausgeschlossen. Die Interpretation, die ich dagegen setzen möchte, lautet: Das Jahr 249 bezeichnet überhaupt erst den Einsatzpunkt einer umfangreicheren Verschriftlichung sakraler Vorgänge in Protokollform; Coruncanius begann mit der Aufzeichnung fortlaufender commentarii. Das Ziel bestand nicht in Geschichtsschreibung, sondern in der Protokollierung der Historie mit dem Ziel, Daten und Präzedenzfälle für rechtliche und sakralrechtliche Probleme zu sammeln und zu dokumentieren. Anwendungsfälle könnte beispielsweise das Problem der feriae praecidaneae geboten haben; noch für dasselbe Jahrzehnt, wenn auch schon unter dem Nachfolger, wird in einer Auseinandersetzung zwischen Oberpontifex und Flamen Martialis der erste Konflikt überliefert.66 Der Pontifex maximus L. Caecilius L. f. C. n. Metellus hielt den Konsul und Flamen A. Postumius A. f. L. n. Albinus erfolgreich davon ab, in den Krieg aufzubrechen und so die kultischen Pflichten in Rom zu vernachlässigen. Für derartig gelagerte Fälle waren hieb- und stichfeste historische exempla genau das richtige Material. Fasst man diesen – zugegebenermaßen hypothetischen – Teil der coruncanischen Aktivitäten mit den bekannten juristischen und sakralrechtlichen zusammen, kann man den gemeinsamen Nenner als „Rationalisierung der Amtsführung“ formulieren.67
Das bisher gewonnene Bild der commentarii des Coruncanius legt zwei Konsequenzen nahe: Obwohl der Beginn der regulären Aufzeichnungen mit dem Beginn der neuen Aktivitäten gleichzusetzen ist, darf man annehmen, dass die Faktensammlung in gewissem Umfang auch rückwärts gerichtet war. Dieser ereignis-, das heißt sakralrechtlich orientierte Rückgriff dürfte etwa die Vorgänger im Oberpontifikat, das mit Coruncanius selbst eine neue Qualität erreichte, betroffen haben. Wenn Livius beziehungsweise Valerius Antias detailliertere Kenntnisse bis ins Jahr 332 v. Chr. zurück besaßen, so entsprechen – aus der Sicht des Jahres 249 – diese achtzig Jahre Rückgriff dem üblichen Drei-Generationen-Horizont, den oral history zu erschließen vermag. Dieses Verfahren war natürlich – wie spätere Autoren demonstrieren – ausbaufähig, doch darf dieser Teil der Aktivität unter der obigen methodischen Prämisse für die Zeitstufe des Coruncanius keinesfalls überschätzt werden.
Auf eine weitere Konsequenz sei bereits im Vorgriff auf folgendes hingewiesen: Die Aufstellung einer tabula dealbata – was auch immer auf ihr gestanden haben mag – erzeugt eine gewisse Publizität der neuen Aktivitäten. Der Charakter dieser Publizität entspricht ganz dem publice profiteri des Coruncanius, sie hat offiziösen, nicht offiziellen Charakter: Gegen alle Behauptungen der Sekundärliteratur bezeugen die Quellen unzweideutig, dass die Tafeln vor dem Haus des Pontifex maximus, nicht vor der Regia aufgestellt wurden.68 Die private Initiative des Tib. Coruncanius reiht sich damit in eine Linie politischen Handelns ein, die von der Aufstellung der Fastentafel durch Cn. Flavius und Ap. Claudius Caecus bis hin zu Caesars „Wandzeitungen“ der acta diurna reicht.69
Nach der zuletzt vorgelegten Deutung der Aktivitäten des Pontifex maximus von 249 kommt man um die Frage der Identität dieser und anderer commentarii pontificum nicht mehr herum. Im allgemeinen bezeichnet commentarius „diejenige Gattung, in der ein (Ex-)Magistrat seine Erfahrungen mit Blick auf Kollegen und Amtsnachfolger (…) niederlegt“; in dieser Konstellation kommen lehrhafte Elemente ebenso zum Tragen wie historisch-autobiographische. Damit wären die commentarii pontificum, wie sie Coruncanius verfasst hatte, eine Art priesterlicher Amtsliteratur.70 Einen zusammenhängenden Eindruck vom Aussehen solcher Aufzeichnungen vermitteln, bei aller Gebrochenheit durch die Transposition in das Medium der Inschrift, die Arvalakten. Sie bieten Nachrichten über einzelne kultische Handlungen ebenso wie Formulare und detaillierte Ritualbeschreibungen. Der Komplex der Inschriften aus La Magliana, dem Arvalenhain vor den Toren Roms, umfasst keine Sukzessionslisten der Fratres Arvales, aber die sorgfältige Angabe der an den einzelnen Ritualen und Festen Beteiligten sowie chronologisch eingeordnete Kooptationsnotizen demonstrieren, für wie wichtig die Dokumentation der Mitglieder angesehen wurde.71
Wenn diese Charakterisierung zutrifft, dann muss auch das Material, das von Antiquaren aus commentarii oder libri pontificum zitiert wird, den von Coruncanius begonnenen commentarii zugerechnet werden. Die commentarii fratrum Arvalium – auf diesen Titel, nicht auf Acta weist der im Hilfspersonal der Arvalen vorhandene publicus a commentariis – zeigen, wie unterschiedliches Material in diesem Literaturtypus zusammengetragen werden konnte.72 Dieser Vielfalt entspricht die Unverbindlichkeit in der Terminologie der Titel, die sich in der langen und noch immer anhaltenden Kontroverse, ob commentarii und libri pontificum dasselbe bezeichnen, niedergeschlagen hat. Diese Frage muss trotz des erneuten Versuchs FRANCESCO SINIS, die schwankende Terminologie der Titel mit inhaltlichen Differenzen zu verbinden,73 als entschieden betrachtet werden.74
Die Verbindung der historiographischen Überlieferung mit den antiquarisch tradierten Fragmenten der commentarii pontificum erweitert das Bild der pontifikalen Aktivität in der historiographischen Tradition beträchtlich. Es zeigt auch, in welch geringem Umfang die Aufzeichnungen der Pontifices direkt für historische Narrative verwendbar gewesen sein müssen. Es bedurfte eines Valerius Antias, um Priestersukzessionen und Routineprodigien als solche historiographiefähig zu machen. Allerdings lässt sich kaum abschätzen, in welchem Umfang „antiquarische“ Informationen den Weg in die Geschichtsschreibung dadurch fanden, dass sie aitiologisch umformuliert wurden.75 Selbst die annales maximi, verstanden als eine Edition pontifikaler Aufzeichnungen, wurden vor allem bei Antiquaren und nicht bei Historikern rezipiert.76 Damit gelangen wir zu den letzten Punkten der Untersuchung, den pontifikalen Holztafeln und ihrer angeblichen Edition in eben diesen annales maximi.