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6. Annales maximi
ОглавлениеWenn schon von den annales maximi gesprochen wird: Welche Rolle spielte dann P. Mucius Scaevola? Sicher ist, dass er die Praxis der Tafelaufstellung beendete. Stoppte er auch die Aufzeichnung der commentarii? Das ist kaum vorstellbar; bei dem – auch in anderen Kollegien, sicher bei den Auguren – erreichten Entwicklungsniveau dürfte wenigstens eine minimale verschriftlichte Protokollführung als notwendig erachtet worden sein; sakralrechtliche Schriften bildeten auch im ersten vorchristlichen Jahrhundert eine wichtige Gattung und stützten sich nicht nur auf die Aufzeichnung älterer Pontifikalentscheide.87 Setzt man die Fortführung der commentarii, des zumindest intern wichtigeren Elementes, voraus, ergibt sich ein gravierender und erwähnenswerter Einschnitt eigentlich nur, wenn eine Art von Publikation des bis dahin aufgelaufenen Materials vorgenommen wurde: Catos Einschätzung legt nicht nahe, dass die Historikerzunft das bloße Verschwinden irgendwelcher Tafeln für erwähnenswert gehalten hätte. Diese Argumentation bestätigt die MOMMSENsche Verbindung der Annalen-Publikation mit der Person des Scaevola.88
Die Frage, wie Scaevola aus den pontifikalen Aufzeichnungen achtzig Bände zusammenbrachte, gehörte von jeher zu den Hauptproblemen der Forschung; sie wird durch die Feststellung, dass die Aufzeichnungen erst gegen 249 begannen, sich also erst über wenig mehr als ein Jahrhundert erstreckten, noch einmal verschärft. Sicher enthielten die commentarii mehr als den Inhalt von etwa einhundertzwanzig Tafelaufschrieben; auch sind Erweiterungen denkbar, das Problem wird so aber nicht gelöst. Ciceros Kommentierung des maximi schließt aus, dass die entscheidende Erweiterung erst in späterer, etwa augusteischer Zeit erfolgt sein konnte,89 Zitate aus dem Werk offenbaren, dass im vierten Buch noch nicht einmal die Zeit des Romulus erreicht war.90 Obwohl die Möglichkeit besteht, dass schon früh Berichte über einzelne Ereignisse vor 249 v. Chr. eingefügt wurden, erscheint dieser Inhalt und Umfang der annales maximi unbegreiflich, zumal wenn man bedenkt, dass vor Scaevola kein Einfluss der pontifikalen commentarii auf die Historiographie festzustellen war. Was war geschehen?
Zwei Umstände muss jede Deutung im Auge behalten. Zum einen ist dies die zeitgenössische Situation der Geschichtsschreibung. Die Zeit der älteren Annalistik war gerade angebrochen, und mit ihr hatte eine massive Erfindung der Vor- und Frühgeschichte, vor allem aber der „Mittelzeit“ zwischen den sagenhaften Anfängen und der näheren Vergangenheit, das heißt der Geschichte der frühen Republik, eingesetzt. Zum ersten Mal spielte historiographische Literatur im innenpolitischen Machtkampf eine Rolle. Cato hatte die lateinische Geschichtsschreibung eröffnet, Vor- und Frühgeschichte in seine Darstellung aufgenommen. Die bewusste Entscheidung für eine Darstellung, die die Namen der handelnden Personen unterdrückte, zeigt weniger die Rückständigkeit Catos als vielmehr die Tatsache, dass er sich der Konsequenzen für die politische Anwendung (und daraus resultierend für die Glaubwürdigkeit der Darstellung) bewusst war.91 Diese Einsicht wird nun umgesetzt; das wenigstens siebenundneunzigbändige Werk des Gellius markiert die Richtung.92 Scaevola – das ist der zweite Punkt – stand mitten in diesem Geschehen, und er befand sich vor allem seit der Ermordung des Tiberius Gracchus, dessen Reformkurs er unterstützt hatte, in einer extrem exponierten politischen Position.
In dieser Situation kam Scaevola ein dreifaches Verdienst zu: Er erkannte erstens das politisch-historische Potential des pontifikalen commentarii-Materials. Zweitens nutzte er es durch die Produktion „apokrypher Literatur“: Die im Prinzip kollegiumsinternen, wohl vom Oberpontifex selbst geführten commentarii ließen sich beliebig in die Vergangenheit erweitern (alle Vorgänger in diesem Amt waren tot, der unmittelbare Vorgänger war ohnehin der leibliche Bruder), eine rasch produzierte Frühgeschichte lässt sich so als authentisches dokumentarisches Material verkaufen. Und drittens wurde der apokryphe Charakter des Materials noch einmal durch den Verweis auf die tabula chiffriert: Die Dokumente, die publiziert werden, seien schon einmal publiziert gewesen (und damit kontrolliert), sie würden nur neu ediert. Zum Beweis dieses Zusammenhangs brach Scaevola mit dieser Edition die Aufstellung neuer Tafeln ab und stellte stattdessen nur die wichtigste – mit der Gründungsurkunde Roms – auf. Vielleicht wurden die Auguralfasten als Reaktion darauf durch das andere Kollegium aufgestellt.
Welche politischen Interessen Scaevola verfolgte, lässt seine eigene Position, die eher mit gracchischen Tendenzen sympathisiert, erahnen; die Rezeption durch den eher optimatisch gesonnenen Valerius Antias spricht gegen eine allzu einseitige Erfindung. Die „historische“ Grundlegung der römischen „Verfassung“ und des öffentlichen Rechts93 mag in weiten Teilen der führenden Schicht unstrittig gewesen sein. Über die unmittelbare Wirkung ihrer Publikation mag man sich streiten. In der Folge lässt sich beobachten, dass senatorische Geschichtsschreiber keine Annalistik mehr betreiben, sondern diese vielmehr in die Hände gesellschaftlich darunterstehender Personen übergeht.94 Der Bedarf an „gehobener“ Annalistik scheint damit gedeckt, doch spricht die fehlende historiographische Rezeption des Werkes dafür, dass in ihm eher die Grenzen des zuverlässig Wissbaren deutlich wurden, als dass eine autoriative Darstellung der Vergangenheit erreicht werden konnte. Herkunft und Inhalt des wirklich authentischen Materials und die für die Authentizität des hinzugekommenen Stoffes notwendige sprachliche Vernachlässigung zogen der Wirkung enge Grenzen.