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Die kindheit sei eine chimäre, habe der Vitus gesagt (und die Blaaser Kreszenz habe gesagt: „Was auch immer das ist!“), und die erinnerung obendrauf. „Dann hören wir auf“, sagt F. – und zahlt. – Aber noch in derselben nacht sagte er schon Zenzi zu ihr.

10„PARADIES, n., ahd. paradîsi, paradîs, mhd. paradîse, paradîs, pardîs, [..] im älteren nhd. paradeise, paradeis (ei = mhd. î), [..] mit hebr. pardês aus dem zend. pairidaêza (umhegung, eingehegter garten) [..]“ (Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971, Bd. 13, Sp. 1453)

11Durs Grünbein, Die Jahre im Zoo, Berlin 2015, S. 38

12W. G. Sebald, Echos aus der Vergangenheit. Gespräch mit Piet de Moor (1992), in: „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001, Frankfurt am Main 2011, S. 72

13Daß der Vitus Sültzrather häufig mit sich selbst geredet habe, sei in Aibeln nicht der rede wert gewesen, habe man ihm gesagt, sagt F.; und doch habe manch eine, habe die eine oder der andere – etwas leiser werdend vielleicht und wie unauffällig um sich schauend, ob da keiner sei, der –, sich länger als notwendig im friedhof aufgehalten: an die einfriedungsmauer zum kalberschen obstgarten hin gelehnt –: „bloß um zu hören, was der so daherredet zu sich selbst“. Und hin und wieder habe man dann halt, wenn das wetter erschöpft gewesen sei und man die verstorbenen ausgeredet gehabt habe, über „dieses selbstgerede“ des Kalber Vitus geredet.

14Auch wenn in diesem an den friedhof grenzenden oder, wie die Rut einmal so schön gesagt habe, „sich anlehnenden“ garten die längste zeit auch ein zwetschken-, ein birnen-, ein marillen- und zwei kirschbäume gewesen seien und dazu an den rändern, wie die nachbarn es ihm erzählt hätten, sagt F., noch himbeersträucher, rote und weiße johannisbeersträucher, grüne und blaue stachelbeersträucher, so sei dieser garten, auch wenn die Kreszenz Jaist, die aufgrund des hofna-mens von allen selbstverständlich Blaaser Kreszenz genannt worden sei, weshalb auch er sie so nennen werde im folgenden – ein nachname nämlich, sagt F., sei ja in wahrheit nichts als eine „behördliche krücke“, ein wenigstens auf dem land ein leben lang als fremd empfundener „überwurf“ –, auch wenn also die Blaaser Kreszenz im „vögelegespräch“ immer vom kalberschen obstgarten geredet habe, so sei der, sagt F., aufgrund der offensichtlichen überzahl an apfelbäumen doch mehr ein apfel- als ein obstgarten gewesen. – „Nicht?“ (Vgl. dazu das Notizbuch Nº 5, Aibeln 1971, wo Vitus Sültzrather auf S. 26 schreibt: „Jonathan, Weißer Klarapfel, Gravensteiner, Berner Rosenapfel, James Grieve und Goldparmäne heißen meine ersten Berge, wie ich jetzt weiß. Dieses Apfelbaumgebirge als mein erstes Klettergebiet. Und die Kirschbäume darin, prahlend und prunkend: Große Schwarze Knorpelkirsche?, Kassins Frühe Herzkirsche? Dort am Rande der Zwetschkenbaum, immer noch namenlos, und der unbestiegene Marillenbaum am Haus.“)

15Und wie die Blaaser Kreszenz „quasi beiseitesprechend“ oder „wie in einer fußnote“ ergänzt habe, ergänzt F. später bzw. bei anderer gelegenheit seinen bericht über den bericht der Blaaser Kreszenz über das ihr von Vitus Sültzrather über seine kindheit berichtete, habe es andere beerenarten in den meisten aibelner gärten ja nicht gegeben. Denn stachelbeeren etwa habe damals kaum einer gekannt; und himbeeren oder erdbeeren seien bloß „in der freien natur“, also am rande von wegen, von wäldern, auf waldlichtungen oder auch bei steinmauern vorgekommen.

16„Ja, richtig, stimmt“, bestätigt F. die hier vermutete gewohnheit auf eine nachfrage hin, auch das treffen mit Rut Thinnebach habe ja im Wirtshaus Vögele stattgefunden – „Wie das hirn die gewissheiten verliert!“ –, und so etabliere es sich eigentlich mehr und mehr als der eigentliche ort sültzratherschen erinnerns: „Ja.“ Darüber werde auf der nächsten sültzrathertagung zu reden sein.

17Nicht aus versehen, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz beim bestellen des nachtischs das den speisekartenbröseln fehlende n nicht ausgesprochen, „deutlich nicht ausgesprochen“, so F.: „sodaß der kellner es hätte hören müssen, hätte er ein gehör für sprache gehabt –: Er hat es nicht gehört“. – Aber vielleicht, „mein lieber“, habe die Blaaser Kreszenz, als sie nun, auf den nachtisch wartend, schon auf dem weg in den kalberschen obstgarten und also ins sültzrathersche erzählen gewesen seien, plötzlich gesagt – „und ich bin, muß ich gestehen, doch etwas irritiert und verlegen gewesen ob dieser umarmenden anrede, wie aus dem nichts“, sagt F., sie hätten ja erst am anfang einer noch „vollkommen unsondierten“ bekanntschaft gestanden –, aber vielleicht habe er, „ganz kellneranstand, ganz kellnerhöflichkeit“, auch nur so getan, als höre er das fehlende, das unausgesprochene nicht und denke nun über sie, was sie zuerst, als er sie nicht „höflich korrigiert“ und den bröseln im üblichen, die bestellung bestätigenden wiederholungsritual das fehlende n nicht wie nebenbei und ganz selbstverständlich oder als wäre es schon immer ausgesprochen, schon immer da gewesen, angehängt habe, über ihn gedacht habe – „was wir beide über den kellner gedacht haben!“ –, nämlich, daß das fehlen des n, diese „N-Abwesenheit“, wie sie, so F., in einer innsbrucker vorlesung über den dritten fall vom großen leipziger linguisten Johannes Erben, „wenn ich mich recht erinnere“, einmal genannt worden sei, kein bloßes speisekartenversehen, keine nicht nur „hierzulande übliche speisekartenschluderei“ sei – „ist und gewesen ist“, habe die Blaaser Kreszenz betont –, wie sie von ihnen während des studiums der speisekarte „apostrophiert“ worden sei und wovon sie, „uns zuerst ja nur so aus spaß, bald aber immer wettstreitender uns übertreffend, uns steigernd in einen längst über die ufer der wirklichkeiten geratenen ereiferungs- und ausschließlichkeitsfuror hinein“, als von einem aus schludrigkeit, aus schlampigkeit geborenen, appetithemmenden begrüßungsritual geredet hätten, dem einer – „nicht nur hierzulande, haben Sie gesagt“ – inständig ausgesetzt sei, auch dort, wo man es nicht erwartete, sondern vielmehr ein „krebsartig wucherndes ignorantes unvermögen“ im beherrschen der eigenen sprache. – Und bevor sie dann, endlich, wieder in den kalberschen obstgarten gekommen seien in ihrem gespräch –, als er davor die Blaaser Kreszenz, die ja schulisch nicht weit gekommen sei, wie er zu ihr nicht gesagt habe, noch gefragt habe, wie wohl dieses sprachengespür, diese „stupende sprachempfindlichkeit“ in ihr gewachsen sei, habe sie nur gesagt: „Es ist der Sültzrather gewesen, das war der Kalber Vitus, mein lieber.“

18Wie ihr leben wohl geworden wäre, hätte sie damals nicht den kalberschen obstgarten durchquert und hätte der Kalber Vitus sich nicht gerade aufgehalten darin in jenen paar augenblicken, habe die Blaaser Kreszenz ihre erzählung der sültzratherschen erzählung immer wieder unterbrochen, dabei ein ums andere mal denselben satz vors ende dieser lebensgeschichtlichen überlegungen stellend: „Daß sogar ein um ein eitzerl verzögerter gang aufs klo ein leben vollkommen umlenken und umleiten kann – oder ein blick aus dem fenster in einem anderen augenblick!“ Manchmal habe sie sich ja nicht mehr von der stelle „derrührt“; denn welche bewegung wohin oder welches stillestehn wie lange noch: veränderte ihr leben doch hinein in ein längeres glück, habe sie sich gefragt, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz gesagt, bevor sie dann wieder weiter sei mit ihrem erzählen und zum Kalber Vitus zurück.

19Vgl. die in kindergartenkreisen „sehr different“ interpretierte stelle in Vitus Sültzrathers neunzehntem notizbuch: „Hätte ich in Urgroßmutterzeiten gelebt; und hätte ich damals von heute aus denken können; oder wäre die Zeit ein Meer: In die oberlinsche Strickschule wär ich mit Freuden hinein, schon wegen Oberlin. – (Was für eine wunderbar verrückte, traumhaft gesätzte Geschichte Georg Büchner aus dem Lenz-Bericht Oberlins in die Welt gestrickt hat!) – In einen fröbelschen Kindergarten hätte mich kein Sarner Ochse erzogen; außer er wäre wegen der angezeigten atheistischen Umtriebe schon verboten gewesen. – Im ungarischen Buda, heißt es, sei anno 1820 von einer gewissen Teréz Gräfin von Brunszvik erstmals eine Art ‚Kindergarten‘ gegründet worden, der kam aber als ‚Engelgarten‘ daher; der Name allein hätte mich hineingezaubert, mein Gott! – Wie gut, daß ich in ein kindergartenloses Nest geboren wurde; wer weiß, was aus mir geworden wär!“ (Vitus Sültzrather, Notizbuch Nº 19, Aibeln 1995, S. 37)

20Es sei, sagt F., selbstverständlich nichts als ein bösartiges gerücht, daß der Jonas „sültzratherschen ursprungs“ sei, wie von manch einem in Aibeln immer noch gemunkelt werde: „Das käme dann doch einem wunder gleich!“ Da sei schon eher eine jungfräuliche geburt – –: „Aber lassen wir das“, er wolle hier nicht ins blasphemische –: „Aus!“

21„Auch Gärten, die aneinander grenzten und ihre Obstbaumzweige einander zureichten und ihre Zwetschen, Kirschen, Pflaumen, Äpfel und Birnen über lebendige Hecken weg nachbarschaftlich austheilten, gab es da noch zu unserer Zeit [..]“ (Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs, Berlin 1896, S. 10)

22Vgl. dazu erstens: „[..] / Hier saß ein Wurzelmann, der Otterhäute frißt; / Dort lag ein Charlatan, hier stund ein Glückstopf offen, / Und reizte manche Faust den reichsten Griff zu hoffen; / [..]“ (Johann Christian Günther, Träumende Gedanken bey Herrn Johann Christian Ernesti Philosophischer Doctorwürde. 1716. den 30. Apr., in: Johann Christian Günthers Gedichte. Sechste, verbesserte und geänderte Auflage, Breslau und Leipzig 1764, S. 559); oder zweitens: „[..] / Wir werffen das gelück in glückstopff immerhin, / Und können doch nicht draus errettung uns erwerben. / [..]“ (Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Roselinde und Sophronille beklagen ihren einsamen Zustand, in: Herrn von Hoffmannswaldau und anderer Teutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte vierdter Theil, Leipzig 1710, S. 3)

23Hier habe er, weswegen er mit seinen gedanken wohl kurz abwesend gewesen und darum vom anderen, dem dritten buben nun nichts mitbekommen habe, sagt F., an den anfang des herrlichen Tristram Shandy denken müssen. „Schauen Sie, da steht’s. Und wenn Sie’s zitieren wollen: Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman. Band I, Zürich 1983, S. 9: ‚Ich wünschte, entweder mein Vater oder meine Mutter, oder fürwahr alle beide, denn von Rechts wegen oblag die Pflicht ihnen beiden zu gleichen Teilen, hätten bedacht, was sie da trieben, als sie mich zeugten ; hätten sie gebührend in Betracht gezogen, wie viel von dem abhing, was sie gerade taten ; –– daß es dabei nicht nur um die Hervorbringung eines vernünftigen Wesens ging, sondern‘, hören Sie zu: ‚daß womöglich die glückliche Bildung und Beschaffenheit seines Körpers‘ – undsoweiter, ja –“; ja, daran habe er gedacht, sagt F., und dabei wohl den anderen buben verpaßt.

24Tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1969, datiert mit „Sonntag, 18. Mai“: „Jahrtag: Es ist noch kein Dichter vom Himmel gefallen – außer mir.“ (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather, Tagebücher 2, Klausen 2016, S. 67)

25„Aperiodisch, Kreszenz, komm aperiodisch!“, habe der Vitus mehr als einmal zu ihr gesagt; und als sie ihn gefragt habe, was das denn bedeuten solle und ob es vielleicht bedeuten solle, daß sie unregelmäßig zu ihm kommen solle, da habe er ihr nur immer geantwortet: „Nein, Kreszenz, das nicht; sondern komm, Kreszenz, wenn du kommen willst. Dann vielleicht oszilliere ich doch einmal vom unbewegten ins bewegte hinein – und verglüh.“ Immer habe er am schluß nach einer pause „und verglüh“ gesagt; und sie vermute nur, was er habe sagen wollen mit diesen sätzen, die sich in ihr hirn, die in ihr gedächtnis sich derart eingegraben hätten, wie es ihm – „im gegenteil“ – nicht gelungen sei, sich hinüberzugraben, „mit den bloßen händen, mein gott!“, unter der friedhofsmauer hinüber, vom kalberschen obstgarten aus, zu den toten nachbarn hinab. Das habe ihr die Rut erzählt, habe die Blaaser Kreszenz gesagt: „Mit der haben Sie ja auch geredet, hab ich gehört. Nicht?“ – Vgl. auch den tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1999, datiert mit „Montag, 23. August“: „Granitstufen und eine Mauer verhindern die Vertreibung aus meinem Paradies; da nützen alle Äpfel nichts, die mir meine schöne Rut manchmal klaubt.“ (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather. Tagebücher 4, Klausen 2018, S. 17)

26Vgl. dazu die passage in Vitus Sültzrathers roman Wie ein Taubenschlag (Heidelberg 1973, S. 126 f.), wo er Isidor Harrer, jenen „Redner für jede Gelegenheit“, wie dieser für sich auf seiner visitenkarte wirbt, in dessen schließlich mit einem eklat endenden totenrede auf den befreundeten antiquar Simon A. Bendroth sprechen läßt: „Und so grub er, als er alt geworden und ‚zu nichts mehr nütze‘ war, wie er gerne und mit der verzweifelten Ironie jener aufs Abstellgleis Gestellten, jener ins Ausgedinge Verschobenen sagte über sich, in seiner Kindheit nach, in jenem vergessensten, unbekanntesten, verwunschensten Ort, in dem einmal niemand, niemand mehr gewesen sein wird, und erzählte davon, wie es einmal gewesen war; wie es einmal gewesen war, als er zu werden begann und seine Zukunft sich dehnte wie ein weites, ein noch unbeschriebenes, wie ein gelobtes Land. Aber da hörte ihm schon niemand mehr zu – keiner von euch!“

27Auf seine spätere nachfrage per e-mail, ob Vitus Sültzrather in diesem zusammenhang auch den begriff des „kindheitsreisenden“ verwendet habe, habe ihm, F., die Blaaser Kreszenz u. a. geantwortet: „[..] und es ist sowieso fraglich, ob der Vitus all das, was ich Ihnen damals im Wirtshaus Vögele als von ihm Gesagtes gesagt habe, genau so gesagt hat. (Meine Wörter purzeln manchmal etwas durcheinander, verzeihen Sie.) Denn mit unserem Körper verändert sich ja sicher auch alles, was in unserem Kopfe ist, in unserem Hirn. Und so altern halt auch unsere Erinnerungen und bekommen Runzeln und Altersflecken. Wie einem dann die Welt, wenn das Augenlicht schwächer wird, mehr und mehr verschwimmt, so wird einem dann wohl die Welt auch verschwimmen im Kopf. ‚Mit der Erinnerung ist es so eine Sache‘, hat zum Beispiel mein Großvater immer gesagt, bevor er wieder für eine Weile still gewesen ist, wenn die Großmutter ihn korrigiert hat im Erzählen. Sie hat ihn oft korrigiert, wahrscheinlich zu oft! Denn in den letzten Jahren hat er kaum mehr etwas erzählt; sogar dann nicht, wenn die Großmutter nicht dabei gewesen ist. Verlassen Sie sich nicht auf meinen Bericht – auch wenn ich immer versucht habe, Ihnen die Wahrheit zu sagen [..]“ (15.05.2018, 17:33)

28Vgl. folgende notiz Peter Handkes vom „28. Oktober 1982“: „Totschlag findet statt vor dem Tarockspiel, auf einem Umweg (L. ist zu früh dran)“ (Peter Handke, Phantasien der Wiederholung; Losers Geschichte; Die Schwellen, Notizbuch, 160 Seiten, 18.08.1982 bis 16.12.1982, S. 96; zit. nach: https://handkeonline.onb.ac.at/node/384)

29Er erinnere sich, sagt F., und er erwähne es hier, auch wenn es, wie er glaube, ja im grunde nicht von belang sei – aber wer wisse schon im rechten augenblick, was von belang; drum –, wie plötzlich ein satz in ihm aufgetaucht sei aus dem in all den jahren in ihm längst ins uferlose sich geweiteten wörtermeer: „Bei der ersten Kartenrunde, wo man mich endlich mittun ließ, ging unten auf der Straße ein Leichenzug vorüber.“ (Peter Handke, Der Chinese des Schmerzes, Frankfurt am Main 1983, S. 83; er habe nachgeforscht, sagt F.)

30Letzthin, so F., habe jemand auf ebay „Lora, die mumifizierte Katze des Dichters Vitus Sültzrather“ angeboten. Ob aber dies nun – er erinnere an den großen Francesco Petrarca, in dessen letztem wohnhaus in Arquà, das sich seit 1870 Arquà Petrarca nenne, man seit langem „die eingetrocknete Mumie der Katze des Sonettenschreibers in einer gläsernen Schachtel über dem Kamin“ bestaunen könne in der sogenannten „stanza della gatta“: „Da ricordare, inoltre, la nicchia in cui è custodita la mummia della gatta che si dice fosse appartenuta al Poeta“, so wirbt der ort, der auf den Euganeischen Hügeln liegt –, ob aber dies nun „endlich“ ein zeichen eines einsetzenden kults um Sültzrather sei? „Was sonst“, sagt F. – und er probiert, ob’s möglich wär: „Aibeln Sültzrather?“ Obwohl, sagt F., dies sei doch noch dazu gesagt, ja sowohl Petrarcas lieblingstier – wie aus älteren porträts „ganz klar“ ersichtlich sei – als auch jenes Sültzrathers wohl nicht eine katze, sondern, „vielmehr“, ein hund gewesen sei: namenlos bei dem einen, Cato bei dem anderen –: „Ob aber die weißfellige Lora auf Laura verweist? .. ‚La testa òr fino, et calda neve il volto‘ / ‚Das Haupt rein Gold und warmer Schnee die Wangen‘ –“

31Sommers wie winters habe seine mutter am holzverschlaggeschützten trog, „wo das wasser wie selbstverständlich nie zu rinnen aufgehört hat“, die wäsche gewaschen, wenn sie „ersichtlich dreckig“ gewesen sei, habe sie übers waschbrett gerieben und saubergebürstet und dann ausgewrungen, habe die wäsche im ummauerten waschofen in der tiefe des südseits offenen holzverschlags gekocht: Die mutterhände seien dann immer fleischrot gewesen, frostrot wie das vom vater auf dem stubentisch zerteilte fleisch des immer wintervormittags gestochenen schweins, dessen blut er mit einer pfanne habe auffangen dürfen: seit er denken könne, habe der Vitus gesagt, von anfang an und schon in der vorschulischen zeit.

32Isidor Sültzrather, Mein wunderbarer Großonkel. Erinnerungen an den Dichter Vitus Sültzrather, Klausen 2012, S. 37: „Und dann fand ich in Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, dem letzten Buch Roland Barthes’, ein Schwarzweißfoto des vielleicht zwei- oder dreijährigen Großonkels an der Hand seines Vaters, mit seiner Mutter daneben und zwei kleinen Hunden mittendrin; und am Rand der linken Seite und sicherlich als Reaktion auf den dortigen Satz ‚Ich betrachtete das kleine Mädchen und fand endlich meine Mutter wieder‘ (rechts, ganzseitig: ein Frauenfoto mit dem Titel ‚Nadar – Mutter oder Frau des Künstlers – 1853‘) fand ich nun die bleistiftliche Anmerkung: ‚Wer ist das, der man einmal war? Ich betrachtete den kleinen Buben und fand mich nicht.‘“

33Diese formulierung habe die Blaaser Kreszenz „mit ziemlicher sicherheit“ bei Sültzrather aufgeschnappt, sagt F.; „nicht zufällig“ stehe in seinen tagebüchern der satz: „Die Kindheit ist die Zeit der ewigen Gegenwart: Nichts als Jetztzeit all die Zeit, all die ungeteilte Zeit!“ (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather. Tagebücher 4, Klausen 2018, S. 23)

34Kaum hätten sie kriechen können, habe die alte Mühleggerin einmal auf dem friedhof zu ihm gesagt, als er dem Vitus einen wiesenblumenstrauß aufs grab gelegt habe, sagt F.: „Kaum haben sie kriechen können, sind die beiden schon aufeinanderzu am speltenzaun!“ Und jetzt lägen sie wieder nebeneinander – „und nur durch ein paar schaufeln erde getrennt“.

35„Und da erfanden wir uns dann Spiele, der Klaus und ich, die wir dann einmal oder auch nie wieder ausprobiert haben – oder die wir dann aber auch spielten Tag für Tag; oder die wir so veränderten, wie uns zumute war. Und die Nachbarskinder, wenn wir sie denn beherbergten in unserm kleinen Paradies, oder meine Schwestern auch: Alle, alle haben sich an unsere Regeln zu halten gehabt.“ (Vitus Sültzrather, Notizbuch N° 19, Aibeln 1995, S. 93)

36Nachzulesen etwa in den Kinder- & Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder Grimm. Ganz Große Ausgabe in 3 Bänden, Bd. 3, Leipzig 2012, S. 23–24.

37„VND als sie kamen an die stet / die jm Gott saget / bawet Abraham daselbs einen Altar / vnd legt das holtz drauff / Vnd band seinen son Jsaac / legt jn auff den Altar oben auff das holtz / Vnd recket seine Hand aus / vnd fasset das Messer / das er seinen Son schlachtet.“ (1. Mose 22, 9–10; Luther 1545: Letzte Hand)

38„Ich befand mich in einem von den anmuthigen, mit unzähligen schönen Bäumen besetzten Lustgärten, die man in dem Persischen Asien Paradiese zu nennen pflegt.“ (Christoph Martin Wieland, Aristipp und einige seiner Zeitgenossen. Dritter Band, in: C. M. Wielands Sämmtliche Werke. Fünf und Dreyssigster Band, Leipzig 1801, S. 303)

39Tagebucheintrag Vitus Sültzrathers aus dem jahr 1987, datiert mit „Sonntag, 26. Juli“: „Klaus ist tot, mein Kindheitsfreund ein ganzes Leben lang. – Wie komm ich nur die Stufen hinauf an sein Grab? – Am Ende, Klaus, aber werde ich wieder neben dir liegen, wenn sie mich die Granitstufen hinaufgetragen, wenn sie mich ins Grab versenkt haben neben deinem Grab. Daß wir Kalberschen auch im Friedhof noch Nachbarn der Kohlhausschen sind, wie gut! – Was werden wir uns zu erzählen haben, Klaus?“ (Isidor Sültzrather (Hg.), Vitus Sültzrather. Tagebücher 3, Klausen 2017, S. 1)

40„[..] // Now shall I make my soul, / Compelling it to study / In a learned school / Till the wreck of body, / Slow decay of blood, / Testy delirium / Or dull decrepitude, / Or what worse evil come – / The death of friends, or death / Of every brilliant eye / That made a catch in the breath – / Seem but the clouds of the sky / When the horizon fades, / Or a bird’s sleepy cry / Among the deepening shades.“ (William Butler Yeats, The Tower, in: The Collected Poems of W. B. Yeats, Hertfordshire 1994, S. 169)

41„[..] und erinnerte er es nicht, warf Joachim Krambühler ein, so erfände es gewiß die Erinnerung.“ (Vitus Sültzrather, Knödelfleisch, Heidelberg 1971, S. 38)

42„Im übrigen, daß der Bach nie aufhörte zu rinnen, daß da immer das Rauschen des Thinne Bachs war, das war mir selbstverständliche Tatsache einerseits; andererseits aber und vor allem ist es mir immer wie ein Wunder gewesen, das nicht zu begreifen war. Wie wäre ich erschrocken, wenn dieses längst nicht mehr gehörte Rauschen einmal nicht mehr gewesen wär!“ (Vitus Sültzrather, Notizbuch Nº 22, Aibeln 1999, S. 119) – Und dann, „vor allem“, sagt F., sei in diesem zusammenhang noch einmal auf eine passage in Sültzrathers nachgelassenen „arche-notizen“ verwiesen (sieben lose, unlinierte und unkarierte din-a4-blätter, die ihm von Rut Thinnebach, die diese letzten aufzeichnungen „laut eigenen angaben“ am 26. mai 2001, also vier tage nach Sültzrathers tod, per post erhalten habe, einige wochen nach ihrem vögele-, dem sogenannten „totenbildchengespräch“ zugeschickt worden seien): „[..]: Die Gewohnheit, die das Leben trägt; der Fluß, der immer neu fließt und ein Ende des Fließens ist nicht abzusehn (wie V. als Kind stundenlang am Ufer saß und dem Fließen zuschaute und glücklich war – und sich fürchtete davor, daß am nächsten Tag, immer wieder an diesem verfluchten nächsten Tag, der Fluß ausbliebe, alles Wasser ins Meer wäre, von dem er nur wußte, daß es war: Mit seinen Fingern fuhr er im Atlas darüber und versuchte ihm die Gefräßigkeit auszureden); die Tröstungen des Vergessens: [..]“

43Zum beispiel Moritz Oberhollenzer, sagt F.: Als siebenjähriger habe der mit blauer tinte „schön druckbuchstabig“ in eines der schwarzen notizbücher seines vaters geschrieben: „Das Herz geht auch einmal aus. Wie die Tinte.“ – Ob wohl allen die zeit sich so früh ins leben dränge? Manchmal, sagt F., vorm einschlafen manchmal wäre er gern irgend ein tier.

44„Später werde ich über das alles Genaueres schreiben“, so beende Peter Handke seine erzählung Wunschloses Unglück, sagt F.; und auch Vitus Sültzrather habe „über das alles“ nichts genaueres gesagt.

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