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Ich in REWE

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Was mich bestürzt und verwirrt hat, war, als die REWE-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter plötzlich sehr auffällige schwarze Plastikheadsets trugen und ganz beschämt hinter den Kassen vorlugten. Das war im Sommer 2018, in der Nürnberger Brückenstraße. Ich fühlte mich die ersten Male richtig unwohl beim Einkaufen, genauso wie meine damalige Freundin, weil uns war, als würden wir ungewollt ein Sozialexperiment unterstützen, das erforschen sollte, ob wir alle uns immer wieder neu an Zustände gewöhnen können, die eigentlich nicht hinnehmbar sind. Dieses Unwohlsein schloss sich mit der Zeit in mir ein, oder flaute ab, aber es existiert nach wie vor, und eigentlich wird mir meine Abscheu vor dem Spätkapitalismus nirgends deutlicher gewahr als im Supermarkt. Ich mochte es früher immer, über Lautsprecher mithören zu können, wo gerade eine Notwendigkeit entsteht: eine weitere Kasse öffnen, Pfandflaschenbehälter leeren, Obst nachfüllen etc. Das war cool und swaggy, weil die permanenten Verschiebungen, die durch Verbrauch, Nachschub, Frischeversprechen und Künstlichkeit entstehen, nachvollziehbar wurden, als Teil der Welt, der sie ja sind und den sie einnehmen sollten. Mittlerweile gibt es REWE-Radio, quasi einen Propagandasender, der mir jede Experience vereitelt, weil ich immerzu das Gefühl habe, durch einen zähflüssigen Traum von J. G. Ballard zu waten. Manchmal treffe ich in den Gängen auf Mitarbeiter, die gerade Koala Schoko oder Büffelmozzarella oder eingelegte Artischocken nachfüllen, und sie kommen mir vor wie Cyborgs. Ich empfinde Mitleid mit uns allen, oder Entsetzen. Und dann beginnt der Teil des Trips, in dem ich immer wieder das Creamspeak-Meme Ich in REWE reenacte; es wurde am 13. November 2018 auf Twitter gepostet und ist für mich ein großes, entlarvendes Kunstwerk: Es zeigt, übersteuert und drastisch, welche Zumutung es bedeutet, bei REWE einkaufen zu gehen. Genutzt wird das Cover einer Ausgabe des Man’s-Life-Magazin von 1956, gemalt von Wil Hulsey; eine Horde brutaler Marder umzingelt einen schreienden, nackten, blutenden jungen Mann, der bis zur Hüfte im Wasser steht. Verzweifelt und schmerzerfüllt versucht er sich zu wehren, was vollkommen aussichtslos ist. In diesem Sinne ist REWE auch eine Aporie; die Angebote des Supermarkts dringen auf mich ein, und ich lasse mich fast freiwillig foltern, als würde sich dadurch auf irgendeinem Layer Heldenhaftigkeit ausdrücken lassen: »Haben sie Ein Payback Karte«, »Nimm Sticker bitte«, »Kein Plastiktüte du Hund«, »Kauf doch Noch ein Wurst evtl«, »5kg Putenbrust 3€«, »Kein Kostenlose Probierkäse mehr da«. REWE ist eine Anormalität, die offenbar nicht wahrgenommen wird und die sich um uns herum materialisiert, auf eine Weise, die unanzweifelbar zu sein scheint; wie Baudrillard schreibt: »Die positive Kristallisation, diese Aufhebung des Zweifels bezüglich der realen, zwangsläufig realen Welt bleibt völlig rätselhaft. Das wirft die ganze Frage nach der Intelligenz des Bösen auf.« Das Meme macht diese Anormalität in ihrer ganzen Rätselhaftigkeit begreifbar. Manchmal löst nichts schneller eine bestimmte, umfassende, existenzielle Angst oder Überforderung oder Trostlosigkeit in mir aus, als wenn ich durch die Gänge des REWE gehe. In dem Meme von Creamspeak erahne ich zumindest eine Empfindsamkeit für die Gewalt, die im Spätkapitalismus steckt. Und es gibt natürlich auch dieses glückliche Gefühl, das die Farbe von Softdrinks hat – was allerdings das Stocken meines Atems nur verschlimmert, wenn ich währenddessen die Leere und Aufdringlichkeit und Penetranz erahne, die hier zusammenfinden und innerhalb derer ich mir immer wieder von Neuem klarmachen muss, dass ich an all dem nicht unbeteiligt bin. Ich bin schon wieder nackt ins Wasser gestiegen und kam zurück mit dem mittlerweile fünften Monopoly-Kartenspiel (kostenlos ab 30€-Einkaufswert), um sagen zu können: »WEASELS RIPPED MY FLESH«. Aber weil in diesen Momenten alles den Geschmack von rohem Fleisch hat, bin ich definitiv auch die Weasels.

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