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Eines Tages kauf ich Mama ein Haus / Aufzeichnungen vom 27. August 2017

Ich sitze zu Hause und höre Ace Hood; seine kurzatmige, leicht heisere Delivery. Er rappt: Same old shit, just a different day / Out here tryna get it, each and every way / Momma need a house, Baby need some shoes / Times are getting hard, guess what I’mma do / Hustle, hustle, hustle, hard / Hustle, hustle, hustle, hard / Hustle, hustle, hustle, hard / Closed mouths don’t get fed on this boulevard.

1. Die Geier

Schon seit Jahren folge ich Maverick Berlin auf Twitter und Youtube. Mich hat immer fasziniert, dass er rappte und mehrere Hunderttausend Tweets verfasste, fast ohne Resonanzraum, und quasi täglich neue Videos online stellte, in denen er aus dem Neuköllner Ghettoalltag berichtet oder Kaufland-Produkte rezensiert oder die Performance des TSV Helgoland (Reserve) rekapituliert. Es ist offensichtlich, dass ein normaler Job für Maverick nie eine Option war. Für ihn heißt es, reich zu werden oder zumindest die Höhen und Tiefen des prekären Unternehmertums voll auszukosten. Was mich daran interessiert, ist, dass er nie damit aufgehört hat, sich öffentlich zu äußern, obwohl seine Klickzahlen lange stagnierten und er hauptsächlich Hasskommentare heraufbeschwor. Eigentlich kann ich sagen, dass er überhaupt nichts heraufbeschwor, aber trotzdem unablässig damit weitermachte, neue Videos zu posten. Maverick war für mich immer eine Aporie. Ich selbst komme auch fast ohne Resonanzraum aus, wenn ich schreibe, was mir selten so präsent ist wie jetzt, und ich denke an Cortázars Satz: »Es geht nicht darum, für die anderen zu schreiben, sondern für sich selbst, doch man selbst muss auch die anderen sein.«

Seit August ändert sich Mavericks Leben komplett, weil er kapiert hat, dass es einen Resonanzraum für Tipico-Sportwetten gibt. Seine Videos drehen sich mittlerweile fast ausschließlich um Bundesligaspieltaganalysen, Vorhersagen, Risiken, Handicaps, Wettscheine und vierstellige Auszahlungen. Seine Followerzahlen steigen täglich, genauso wie die Klicks. Als Neuköllner Wettpate marschiert Maverick durch die Hood, veröffentlicht seine WhatsApp-Nummer und kann sich nicht mehr retten vor Nachrichten und Fans, die mit ihm sprechen wollen. Maverick wirkt oft übermüdet, teilweise kränklich, aber er bleibt konsequent auf seinem Grind. Es braucht nur vier Tweets, um zu sehen, wie echt und existenziell und übersteuert und surreal sein neuer Ruhm ist.

Maverick Berlin @MaverickBerlin2 · 23. Aug. 2017 Ich bin @tipico s Albtraum

Maverick Berlin @MaverickBerlin2 · 24. Aug. 2017 Dieser unfassbare AUFSTIEG von MAVERICK TV macht sehr EINSAM …

Nachts ist am schlimmsten.

Maverick Berlin @MaverickBerlin2 · 25. Aug. 2017 Ich will nur so viel GELD machen damit Ich mir 2 neue Nieren kaufen kann, dann lebe Ich wieder ruhiger & ziehe in WALD ohne INTERNET um !!!!

Maverick Berlin @MaverickBerlin2 · 25. Aug. 2017 Entweder ECHT oder GAR NICHT

Ich habe jahrelang verfolgt, was Maverick treibt, weil er aufrichtig geblieben ist, trotz des anhaltenden und fast monumentalen Desinteresses, mit dem er sich konfrontiert sah; und vielleicht auch, weil mich abseitige Eigensinnigkeit mehr anfixt als zielgruppenorientierte Selbstaufgabe. Es ist nicht wichtig, ob Mavericks Ghettodokumentationen tatsächlich ungefiltert vom Leben in Neukölln berichten; wichtig ist nur, dass sein Hustle echt ist. Hustle ist immer echt, wohingegen Anbiederung und Vorgeblichkeit zwangsweise fake sind.

Ich habe nie an der Echtheit von Maverick gezweifelt, auch wenn ihm der Fame gerade offensichtlich zu Kopf steigt. Philippe Gerlach schrieb mir vorgestern aus Vilnius, nachdem ich ihm ein Video geschickt hatte: »Er hat voll die Spieleraugen.« Da wurde mir bewusst, dass Maverick, seit er zum Neuköllner Wettpaten geworden ist, wie der Nachfolger des Monarchen wirkt. Es gibt einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1979, der Monarch heißt und aus dem Leben von Diethard Wendtland erzählt; Wendtland fährt in einem bahamabeigen Mercedes durch Deutschland, steigt in billigen Hotels ab, trägt teure Anzüge und hängt hauptsächlich in Spelunken rum, in denen Geldspielautomaten des Modells Mint oder Mint Super zu finden sind. Er hat eine Technik entwickelt, die es ihm ermöglicht, die rotierenden Walzen per Knopfdruck so anzuhalten, dass sehr häufig drei gleiche Symbole erscheinen. Jackpot um Jackpot räumt der Monarch die Automaten leer, Fünf-Mark-Münzen füllen seine verstärkten Taschen, er wird reich und einsam und reflektiert. Weil dieser Hustle meistens den Unmut der Barbesitzer provoziert, lebt der Monarch ein hartes Luxusleben on the road und on the run – begleitet von seinen Geiern, jungen Hippies, die für ihn Stadtteile nach Mint-Automaten absuchen, bevor er sich dann an die Arbeit macht. In Interviews, die immer wieder in den Film eingeschoben sind, philosophiert der Monarch weltmännisch über das Spielen, über die Liebe, über den Neid, über die Sucht. Beispielsweise sagt er: »Überall bin ich fremd, und jetzt geht es mir auch nur ums Geld, und ich kann mich nicht groß belasten mit irgendwelchen Bekanntschaften.« Er sagt auch: »Ich spiele aufgrund meines Könnens. […] Das Glück steht dem Tüchtigen zur Seite, das ist von Dostojewski, und das war ich ja zehn Jahre, und ich habe immer wieder investiert.« Das Gleiche könnte Maverick sagen, über seinen Youtube-Grind, über seine andauernden Bemühungen, über seine Beharrlichkeit. Nachdem er sich bei Tipico am 22. August 2017 immerhin 2650 Euro hat auszahlen lassen, bei einem Einsatz von 50 Euro, sagt er in die Kamera, nachts in Neukölln: »Wir nehmen jetzt jedes Wettbüro auseinander. Mit diesem Fachwissen, was wir besitzen: ist gefährlich für jedes Wettbüro, weil … das ist nicht unheimlich, das ist Können.« Aber der Monarch ist länger im Spiel, er kennt die Kehrseiten; er weiß vom kalten Gefühl, das den Erfolgsrausch ablöst und untergräbt. Das macht seinen verruchten Charme aus. Auch er freut sich noch über seine Gewinne, über den flirrenden Cashflow, den Adrenalinkick, aber er weiß auch, dass seine Mint-Zeit bald vorbei sein wird: »Dann kommt noch dazu, dass ich keine Ziele habe, und nicht weiß, wofür ich das alles mache, und im Grunde für gar nichts, nur auf Konto, Ende. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin gar nicht mehr heiß auf Kasse, weil man müde wird … spielmüde.« Diese Spielmüdigkeit ist auch Maverick anzumerken, schon nach wenigen Wochen, vielleicht ist es aber auch nur die dringende Notwendigkeit zwei neuer Nieren.

2. Geschlossene Münder werden nicht gefüttert

Ich sitze vor meinem Resonanzraum, der fast nichts ist, nur mein Laptop, kurz davor, Angebote von Agenten abzulehnen, die meinen Resonanzraum vergrößern wollen. Ich habe nie gesagt, dass es mir um die maßstabsgetreue Wiedergabe von Tatsächlichkeiten geht. Fake wäre ich, wenn ich meine Ziele aufgeben und mein Schreiben einer Zielgruppenoptimierung unterziehen würde, wie es die Agenten von mir fordern. Aber solange ich echt bleibe, also verbunden mit mir selbst, wird es in der Fiktion keinen Fake geben, nur Feigheit. Beim Schreiben dient die Selbststilisierung dem Thrill, indem sie Tatsächlichkeiten transzendiert. In diesem Sinn ist Selbststilisierung keine Vorgeblichkeit, sondern eine Möglichkeit, literarisch zu einer anderen Wahrheit vorzustoßen; zu einer tieferen Wahrheit, die nicht mehr nach autobiografischen Ursprüngen oder den Unterschieden zwischen Fakt und Fiktion fragt und nur noch nach der Echtheit des Erzählten. Nur weil ich meinen Mund öffne, muss ich mir keinen bondagemäßigen Ballknebel umbinden lassen.

Wir leben in einer zunehmend vorproduzierten Gegenwart; wir sind dabei, massenweise zu verklonen – auch aus Angst davor, uns wirklich zu bekennen und wieder einzeln und echt zu werden. Welche Realness kann der Mob haben, wenn er gleichzeitig charakterlos, pseudo-tolerant und fremdgesteuert ist, angehalten von der Normativität einer neidlosen Nettigkeit? Wenn eine solche Eingeschlossenheit vorherrscht, wie soll dann die Kunst, die entsteht, radikal und unabhängig und weltenöffnend sein? Das Problem an Ballknebeln ist, dass auch die nicht mehr ihre Münder schließen können, die eigentlich gar nichts zu sagen haben.

Am Beispiel von Maverick können wir allerdings erahnen, dass der Resonanzraum, was Kunst angeht, nicht entscheidend ist, sondern radikale Subjektivität. Der Mob hat sich von Resonanzräumen abhängig gemacht, während Maverick konsequent seinen Hustle verfolgte. Das heißt, er hielt zwar seinen Mund nicht geschlossen, aber er hat auch auf die Ballknebel verzichtet. Ich frage mich, wie es mit ihm weitergeht; ob der Fame ihn zerstören wird, oder ob es ihn zerstören wird, wenn der Fame wieder verschwindet. Vielleicht hat er aber auch wirklich Ziele und will nur genug Geld für zwei neue Nieren bekommen. Ich wünsche es ihm. Vielleicht sind die zwei Nieren der Vorteil, den Maverick gegenüber dem Monarchen hat. Wahrscheinlich sind nur Ziele echt und alles andere Eitelkeiten. Zwei neue Nieren sind eine echte Ambition: Wenn auf dem Subnanolevel des Hustles keine Sehnsucht existiert, führt Subjektivität nirgendwohin. Radikale Subjektivität ist immer existenziell und nackt vor der Welt, egal, wie sie sich letztendlich äußert.

3. Reiseberichte aus der Hood

Ein Beispiel für radikale Subjektivität ist das Werk von Karl May. Obwohl er seine Romane immerzu als Reiseberichte ausgab, besuchte er Amerika erst im Alter von sechsundsechzig Jahren, kurz vor seinem Tod. Wer Karl May deshalb als fake bezeichnet, kann sich ficken. Im Schreiben verschwimmen Tatsächlichkeiten und Eitelkeiten, aus Sehnsüchten werden manchmal tiefere Wahrheiten, aus Selbststilisierung wird manchmal Weltliteratur. Als ich die Bücher von Karl May zum ersten Mal gelesen habe, gab es nichts, was mich weniger interessiert hätte als seine Biografie. Die Echtheit von Maverick ist anders als die Echtheit von Karl May; weil es bei Maverick um die Echtheit von Maverick geht, und bei Karl May geht es um die Echtheit der Sehnsüchte, die das Schreiben für ihn zu einer inneren Notwendigkeit machten. Der Hustle von Maverick ist verankert in einem sozialen Realismus, und es ist egal, ob er wirklich im Ghetto lebt oder in einer endlosen Siedlung aus Mehrfamilienhäusern. Maverick will Reichtum, Reichweite und zwei neue Nieren. Der Hustle von Karl May war verankert in seiner Fantasie, im Fernweh; sein Bekenntnis ging so weit, dass er das Beschriebene für das Erlebte ausgab, die Selbststilisierung für Tatsächlichkeit; und irgendwie hatte er die Abenteuer auch erlebt, weil wir alle sie nacherleben können. Niemand hat gesagt, dass die Fantasie weniger echt ist als die Tatsächlichkeiten, niemand hat gesagt, dass die Fantasie keine Tatsächlichkeit ist. Niemand hat gesagt, dass ein Tipico-Wettschein mehr zählt als die Liebe zu Nscho-tschi, oder dass sich die Einsamkeit in Neukölln unterscheidet von der Einsamkeit in einem Wilden Westen, der so nie existierte.

Die Fiktion muss nicht von einer allen zugänglichen Wirklichkeit ausgehen, sie muss nur mithelfen, uns zu ihr zurückzuführen und die Welt wieder ein bisschen gültiger zu machen. Wir haben das nötig, weil wir unsere Köpfe in Treibhäusern ziehen. Wir ziehen unsere Köpfe in Filterblasen. Ich mag Treibhäuser, solange sie nicht zu Hirnschranken mutieren. Es ist mittlerweile schon der 28. August 2017. Ich habe noch keine Angebote abgelehnt, ich habe noch nicht mal gefrühstückt. Ich verstehe, dass Fake News ein Problem sind: fingierte und manipulierte Wirklichkeiten, die darauf abzielen, uns voneinander zu distanzieren, uns allmählich abdriften zu lassen. Aber ich werde deshalb die Fiktion nicht mit einem Realismuszwang verfluchen, das wäre die eigentliche Feigheit angesichts meiner inneren Notwendigkeiten. Entweder echt oder gar nicht. Mag sein, dass die Zeiten gerade hart sind. Aber guess what I’mma do?

Entkommen

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