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Die Fallen sind überall

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Ich war während meines Studiums in Erlangen mehrere Semester hilfswissenschaftlicher Mitarbeiter einer exzentrischen Professorin für Linguistik, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Filmessay zu veröffentlichen. Meine Arbeitszeit ging hauptsächlich dafür drauf, dass wir gemeinsam in der Mensa saßen, schlechten Kaffee tranken und darüber nachdachten, wovon ihr Film handeln könnte. Zu der Zeit wurden die vier Türme der Universität, in denen hauptsächlich geisteswissenschaftliche Institute untergebracht waren, renoviert. Die Fachbibliotheken waren größtenteils ausgelagert worden, in leerstehende Häuser, die sich in Vororten befanden. Überall standen Gerüste, bis rauf in den neunten Stock; dazu die Hinweisschilder, die vor losen, womöglich herabfallenden Fensterscheiben warnten. Drinnen waren die Flure ausgelegt mit Malervlies und die Decken verklebt mit milchglasiger Folie. Ich musste einfach depressiv werden. Wenn wir nicht in der Mensa waren, hockte ich stundenlang in einem winzigen Büro und korrigierte Hausarbeiten, wobei mir nahegelegt wurde, ich solle die Handschrift der Professorin imitieren. Sie hieß Anjelica Kemander und ihre Handschrift sah aus wie die Fußspur eines sterbenden Tausendfüßlers. Es bereitete mir fast Kopfschmerzen, mir ihre Korrekturkürzel anzueignen. Abgesehen davon bewegte ich mich teilnahmslos durch den Sommer. Ich lebte damals noch bei meinen Eltern und schrieb verbissen an einem Roman. Ich erzählte niemandem davon, außer ein paar Studentinnen vielleicht. Aber es gab andauernd nur Missverständnisse. Weil meine Eltern so weit weg wohnten, musste ich in Erlangen immer den vorletzten Zug nehmen. Das führte regelmäßig dazu, dass Annäherungsversuche, die sich im Schlosspark oder in irgendwelchen Bars anbahnten, durch meinen frühzeitigen Aufbruch unterbunden wurden. Ein paar Mal allerdings kauften sich neugierige Studentinnen trotzig Zugtickets und begleiteten mich. Die Fahrt dauerte mehr als eine Stunde. Wir hatten in meinem Kinderzimmer Sex auf einer kleinen Matratze. An der Wand hing ein alter Starschnitt von Allen Iverson, der sich aus acht einzelnen Postern zusammensetzte. Auf der Kommode stand eine Lavalampe, die schon lange kaputt war. An den darauffolgenden Morgen unterstellten sie mir meistens, dass mein Bafög an sich leicht ausreichen würde, um mir ein WG-Zimmer zu leisten, wenn ich es vermeiden könnte, ausschweifend zu leben. Es war ihnen unangenehm, meinen Eltern zu begegnen. Ich widersprach ihnen nicht, sondern begleitete sie schweigend zur Bahnstation, mit schlechtem Gewissen. Dann setzte ich mich zurück an meinen Schreibtisch. Was wiederum Fassungslosigkeit bei meiner Mutter auslöste, die meinte, meine Antriebslosigkeit sei erschreckend.

Professorin Kemander fragte mich oft und unerbittlich darüber aus, was ich gerade lesen würde. Widerwillig erzählte ich ihr von meinen Entdeckungen. Ich versuchte, ausweichende Antworten zu geben. Einmal erwähnte ich aber beiläufig einen wissenschaftlichen Artikel über den ältesten Baum der Welt, eine Langlebige Grannen-Kiefer (Pinus longaeva), die in den Weißen Bergen Kaliforniens wächst und deren Alter damals auf 5063 Jahre geschätzt wurde. Ein paar Tage später kam sie in mein Büro, während ich Hausarbeiten korrigierte, sperrte die Tür ab und eröffnete mir flüsternd, dass sie einen Film über Pinus longaeva drehen werde, hoffentlich in Zusammenarbeit mit einem renommierten Kollegen, der interdisziplinär in den Bereichen Biologie und Geografie forsche. Sie hätte herausgefunden, dass er an den Untersuchungen zur Lebensdauer der Grannen-Kiefern beteiligt gewesen sei; außerdem sei er besessen von seiner rhetorischen Abseitigkeit und dazu äußerst vital, obwohl er bald in den Ruhestand gehen würde. Sie wäre hin und wieder in Gremien und Ausschüssen mit ihm zusammengetroffen. Laut Professorin Kemander würde es kein engstirniger Film werden, nichts Abgesichertes, stattdessen wolle sie die Weite des Bewusstseins der Kiefern vermessen, wobei wir uns allen Normen widersetzen müssten, sagte sie mir, um eine intensivere Form der Wahrheit spürbar zu machen. Die Filmsequenzen würden sich wie Jahresringe ausbreiten, das sei unausweichlich. Wir müssten uns für alle Abzweigungen, die auf uns warten würden, öffnen – und bereit sein, uns notfalls subatomar aufzuspalten, um alles einzufangen, was sich in den Fadenfiguren der Zukunft auftun würde.

In der Woche darauf flogen wir, mitten im Semester, nach San Francisco. Am Flughafen kaufte Professorin Kemander ein iPhone 5s. Sie bezahlte mit einer goldenen Kreditkarte. Mit einem Mietwagen, den ich fahren musste, machten wir uns auf den Weg in die Weißen Berge; es war eine siebenstündige Fahrt. Ich hatte nie zuvor mit einem Automatikantrieb zu tun gehabt, und Professorin Kemander amüsierte sich ausgiebig über meinen Fahrstil, während ich versuchte, auf der fünfspurigen Autobahn nicht den Überblick zu verlieren. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und ihre Füße aufs Armaturenbrett gestellt, wobei ihr Rock ziemlich weit hochrutschte. Wenn ich unsicher zu ihr rüberschaute, hob sie fragend die Augenbrauen. Bald schlief sie ein und ich trank dosenweise Cola, um im kalifornischen Hinterland nicht abzudriften. Ich dachte viel über Maissirup nach. Das Auto lenkte ich durch die klebrigen Schatten von Mammutbäumen, in denen massenweise Truthahngeier saßen. Ich fragte mich, ob ich die Kontrolle über mein Leben komplett verloren hatte.

Ich schwöre: Wir blieben genau fünfzehn Minuten beim ältesten Baum der Welt. Die Sonne blendete mich und mein Immunsystem verkrampfte. Ich stapfte über den weichen Boden, während Professorin Kemander mit ihrem neuen iPhone die Kiefer filmte. Sie umkreiste den Baumstamm unablässig und hielt die Kamera immer wieder hoch zu seiner Krone. Der Himmel war von einem karmischen Blau. Dann verlor Professorin Kemander die Lust oder die Geduld. Außerdem blinkte die Akkuanzeige des iPhones rot auf. Sie verlangte von mir, uns zurück zum Flughafen zu bringen. Erstaunt setzte ich mich wieder ans Steuer. Während der Fahrt begann sie, auf dem Beifahrersitz manisch Nikotinkaugummis zu kauen, und lachte mehrmals laut auf, ohne dass ich nachvollziehen konnte, was der Anlass dafür gewesen war. Ich habe keine Ahnung, wie ich es schaffte, unfallfrei nach San Francisco zu kommen. Wir nahmen den nächsten Flug nach Frankfurt. Ich weiß noch, dass ich in der Flugzeugtoilette umständlich versuchte, meinen verschwitzten Oberkörper mit Erfrischungstüchern zu waschen. Wie ich anschließend gerochen habe: wie ein verfickter Klostein mit Zitronenaroma.

Ich hatte schon damals nur mein altes Trapphone von Samsung gehabt, ohne Kamera und Internetzugang. Ich bildete mir ein, es bei Gefahr jederzeit wegschmeißen zu können, weil nichts Wichtiges darauf gespeichert war, wodurch ich mir, wie ich meinte, im Zweifelsfall eine gewisse Flexibilität bewahren würde. Deshalb konnte ich allerdings die MMS von einer Studentin, die hartnäckiger war als die anderen, nicht öffnen. Als ich ihr eine Nachricht schrieb und fragte, was auf dem Bild zu sehen sei, erhielt ich nur Fragezeichen als Antwort.

Zurück in Erlangen arrangierte Professorin Kemander ein Treffen mit Erwin Auerkamp, dem Geologen. Wir trafen uns in der Mensa. Professor Auerkamp war freundlich und gleichzeitig ging eine gewisse Aggressivität von ihm aus. Er war sechsundsechzig Jahre alt, vielleicht ein bisschen übergewichtig. Mir fiel sofort die Bleichheit auf, die seinen kompletten Körper zu umfassen schien und die wirkte, als würde sie ihre Umgebung verschlucken. Er teilte uns gleich zu Beginn seine Bereitschaft mit, das Zentrum unseres Films zu verkörpern, allerdings nur unter der Bedingung, dass wir ihn ausschließlich bei laufender Kamera zu seinen Forschungen befragen würden. Alles Weitere würde er uns überlassen. Es würde ein kritischer Film werden, meinte Professorin Kemander, und im Zentrum würde sich Pinus longaeva befinden. Professor Auerkamp kicherte. Ich wurde von Professorin Kemander losgeschickt, um Kaffee für alle zu besorgen, aber ich hatte kein Guthaben mehr auf meiner Mensakarte. Verärgert reichte sie mir ihre Karte. Als ich mit drei Tassen zurückkam, lud uns Professor Auerkamp zum Abendessen in seine Villa ein. Er würde uns dort sehr gerne mitteilen wollen, wie er sein eigenes symbiotisches Zusammenwirken mit kritischen Filmansätzen verstehe. Aufgrund einer wahnwitzigen Unvorsichtigkeit verbrannte ich mir daraufhin bei den ersten Schlucken meine Zunge am Kaffee. Aber ich ließ mir nichts anmerken.

Am Nachmittag beauftragte mich Professorin Kemander damit, die gesammelten Werke von Erwin Auerkamp aus der Hauptbibliothek auszuleihen und Exzerpte davon anzufertigen. Auerkamp hatte 17 Bücher veröffentlicht, dazu zahlreiche Aufsätze in Fachzeitschriften. Ich schleppte also zwei schwere Taschen durch Erlangen, bei 32 Grad im Schatten. Trotzdem blieb ich kurz stehen, wenn ich Bekannte traf. Wir tauschten uns aus, lachten, schwitzten. Allerdings kam es mir zunehmend so vor, als würde ich abgetrennt vom übrigen Universitätsbetrieb existieren, oder abgetrennt von allen anderen zwischenmenschlichen Beziehungen überhaupt. Ich ahnte, dass es mit dem Film zu tun hatte. Ich besuchte weiterhin Seminare, aber ich war unfähig, mich wirklich auf das einzulassen, was dort passierte. Im Germanistischen Institut kam mir die Studentin entgegen, die mir die MMS nach Kalifornien geschickt hatte. Als sie mich bemerkte, schaute sie auf den Boden und ging schweigend an mir vorbei. Das Gewicht von Auerkamps Werk schnitt mir in die Schulter. Ich schlurchte also weiter und lud die Bücher in meinem Büro ab, erleichtert und gleichzeitig traurig.

Die Villa von Professor Auerkamp befand sich am Stadtrand von Erlangen; von der Terrasse aus konnte man einen weiten Wiesengrund sehen, durch den sich ein Fluss zog – und den rot glühenden Sonnenuntergang. An einem Gestänge war eine Lichterkette angebracht, deren pulsierendes, psychedelisches Licht angeblich Mücken abschrecken sollte. Am Rand der Terrasse war die Haushälterin von Professor Auerkamp dabei, ein Spanferkel über einem offenen Feuer zuzubereiten. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, was an dem Abend passierte. Professor Auerkamp schenkte andauernd selbst gebrannten Schnaps nach. Die Frau, mit der er in dritter Ehe verheiratet war, war verreist. Er zeigte uns aufreizende Fotos von ihr. Irgendwann legte er eine Sinfonie von Mahler auf, zu der Professorin Kemander und er barfüßig im feuchten Gras tanzten. Eigentlich stampften sie nur rhythmisch auf den Boden, wobei sie sich an den Händen hielten.

Später, Professor Auerkamp war mit seinem Geländewagen zur Tankstelle gefahren, um Strohhalme zu kaufen, stand ich mit Professorin Kemander in der Küche; sie rauchte über dem Herd, wobei die Dunstabzugshaube auf der höchsten Stufe lief. Deshalb verstand ich nichts von dem, was sie mir in ihrem betrunkenen Enthusiasmus erzählte. Ich glaube, sie wollte dabei zuschauen, wie Auerkamp mir einen Blowjob geben würde. Ich hatte gerade eine Keule des Spanferkels in der Hand. Ich gab vor, kurz Ketchup aus dem Garten zu holen, und verließ schleunigst die Villa. Völlig betrunken lief ich durch das Wohngebiet, im Schutz von fein geschnittenen Hecken. Von den Straßenlampen war nur noch jede zweite erleuchtet. Ich hatte Angst, dass mir Professor Auerkamp auf seinem Heimweg begegnen würde. Hin und wieder nagte ich an der Spanferkelkeule.

Weil Professor Auerkamp in einem Jahr in Ruhestand gehen würde, weigerte er sich, sein Büro im achten Stock des B-Turms zu verlassen. Das Geologische Institut war längst ausgelagert worden, damit die Renovierungsarbeiten durchgeführt werden konnten. Ich fand es gespenstisch, durch die langen Flure zu gehen. Alle Türen standen offen, alle Zimmer waren leer. Ich sollte mit ihm den Termin für den ersten Drehtag abstimmen, aber er war nicht da. An einer Pinnwand neben seinem Büro waren Fotos angebracht, die ihn bei seinen Expeditionen auf der ganzen Welt zeigten, immer mit Anglerhut und ausgestrecktem Daumen. Hauptsächlich in Wüsten. Ich musste wieder an seine bleiche Haut denken. Mir war eine Fußnote in seinem Hauptwerk über Pinus longaeva aufgefallen, ein philosophischer Exkurs, in dem er danach fragte, was der Baum schon alles erlebt habe, welche Begegnungen in ihm gespeichert seien; Begegnungen der siebten Art womöglich, hatte er geschrieben, ohne weiter auszuführen, was er damit meinte. In einer anderen Fußnote schrieb er über das Verhältnis von Forschung und Kritik. Dabei berief er sich auf Donna Haraways Erzählungen über den hawaiianischen Zwergtintenfisch Euprymna scolopes: Durch eine Symbiose mit dem Bakterium Vibrio fischeri bilden die Tintenfische eine Bauchtasche aus, in der sich dann lumineszente Bakterien ansiedeln; so sieht der Tintenfisch, der in dunklen Nächten jagt, für seine Beute von unten aus wie ein Sternenhimmel – unscheinbar und unverdächtig. Er betrachte seine Forschungen als Tintenfische, schrieb Auerkamp, die mit seinen Kritikerinnen und Kritikern in einem symbiotischen Verhältnis existieren würden; erst durch eine verschmelzende Auseinandersetzung würde jene kriminelle, überwältigende Energie entstehen, die wir als Erneuerung kennen.

Ich hatte das Gefühl, dass mein Trapphone dement war. Es vergaß immer wieder, wie ich hieß. Ich wollte Nachrichten mit meinem Namen unterschreiben, aber T9 verlangte, dass ich das fragliche Wort buchstabierte. Wieder speicherte ich meinen Namen ein. Joshua. Es würde nicht lange dauern, bis mir T9 wieder Jörg vorschlagen würde, wusste ich, und bei jedem weiteren Buchstaben Ratlosigkeit. Ich hörte also komplett damit auf, SMS zu schreiben. Ich weiß nicht, ob es in diesem Sommer überhaupt etwas gab, womit ich nicht aufhörte.

Dann kam das Semesterende und ich hatte ein paar Wochen frei. Ich verschanzte mich in meinem Kinderzimmer und verdiente nebenbei ein bisschen Geld. Manchmal erhielt ich Mails von Kemander, die mir verzweifelt von den ausufernden Filmaufnahmen berichtete. Sie meinte, sie wäre dabei, endgültig zu scheitern. Sie schaffe es nicht, Auerkamp zu durchdringen. Er inszeniere sich, anstatt ihr dabei zu helfen, einen Näherungswert für Pinus longaeva zu definieren. Ich schrieb ihr, sie solle Auerkamp nach seinem Verhältnis zu Tintenfischen befragen. Kemander antwortete, mein Tipp sei im Moment weder tröstlich noch komisch. Dann fragte sie mich, ob ich ihr beim nächsten und wahrscheinlich letzten Versuch assistieren würde. Sie fragte mich auch, wie man seine Zeit nur so vergeuden könne.

Die Aufnahmen fanden am darauffolgenden Wochenende statt. Professorin Kemander erklärte, sie habe den Akku ihres iPhones mehrmals aufgeladen, um kein Risiko einzugehen; dann erzählte sie mir im Vertrauen, dass wir experimentell vorgehen müssten, nicht mehr systematisch. Wir warteten den Sonnenuntergang ab, wobei wir Schnaps tranken. Der Dreh würde in Auerkamps Büro stattfinden; Kemander wollte mit einem Interview beginnen, in dem Auerkamp endlich seine Faszination für die Langlebigen Grannen-Kiefern vermitteln sollte. Die Jalousien waren runtergelassen, überall standen Bücher aus Universitätsverlagen in den Regalen; vor allem Promotionsschriften, die Auerkamp betreut hatte. Ich richtete zwei Scheinwerfer aus, die ich über den Lehrstuhl bestellt hatte, und hielt dann einen gigantischen Reflektor hoch, den ich fast nicht ins Zimmer bekommen hätte. Ich bemühte mich, überzeugend zu wirken, obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich tat.

Ich fragte Auerkamp, wie er es trotz ausgiebiger Aufenthalte in Wüsten auf der ganzen Welt schaffe, sich einen so auffallend bleichgesichtigen Teint zu bewahren. Er lachte. Aber dann meinte er, dass er es, gemeinsam mit einer befreundeten Biologin, geschafft hätte, eine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 1000 herzustellen, wohlriechend und wasserabweisend. Eintausend, meinte er, das sei eigentlich unmöglich. Jeden Morgen sei das Erste, was er mache, sich damit einzureiben, und zwar am ganzen Körper. Wäre er selbstgefälliger, könnte er behaupten, dass er den Hautkrebs besiegt habe.

»Findet Ihre Frau das sonderbar?«, fragte ich.

»Im Gegenteil«, antwortete Auerkamp, »sie cremt mich manchmal eigenhändig ein.«

Ich merkte, dass es ihm gefiel, gefilmt zu werden. Der Aufwand, den wir uns machten, reizte ihn. Er fühlte sich wohl. Kemander stoppte die Aufnahme und bat Auerkamp, sein Hemd auszuziehen. Nachdem er kurz gezögert hatte, öffnete er langsam die Knöpfe. Sein volles Brusthaar war ergraut. Kemander kramte in ihrer Handtasche und brachte eine E-Zigarette zum Vorschein. Sie reichte sie Auerkamp über den Schreibtisch.

»Johannisbeergeschmack«, meinte sie, »der Akku ist voll.«

Sie stieg auf den Schreibtisch und drehte den Feuermelder ab, der an der Decke hing. Ich selbst blieb währenddessen hinter dem Reflektor verschanzt, von wo aus ich Auerkamp beobachtete, der vorsichtig an der E-Zigarette saugte. Offenbar schmeckte es ihm, weil er direkt wieder inhalierte und, sobald Kemander den Feuermelder abgeschaltet hatte, eine riesige Dampfwolke ausatmete, die sein komplettes Büro eindickte. Kemander zwinkerte mir zu. Ich sah, dass Auerkamps Brillengläser beschlagen waren.

Im nächsten Moment kam es mir vor, als würde ich kurz ein gleißendes, alles invertierendes Licht sehen, das aber von den verstaubten Jalousien abgehalten wurde, fast postapokalyptisch kribbelte es in meinem Frontallappen. Ich dachte auch, dass der Horizont über Erlangen weit geöffnet sei; keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Als ich fragen wollte, ob die anderen auch bemerkt hatten, was ich bemerkt hatte, sah ich, dass ich von Kemander gefilmt wurde: Sie schaute mich auffordernd an, hinter ihrem iPhone. Ich machte meinen Mund zu.

»Was verstehen Sie«, fragte ich dann, »unter einer Begegnung der siebten Art?«

Auerkamp saugte an der E-Zigarette; er atmete aus, und dichter, bläulicher, süß riechender Nebel erfüllte den Raum. 5063 Jahre seien eine lange Zeit, antwortete er; besser gesagt, es sei genug Zeit für einen Baum, um Außerirdischen zu begegnen – der Einfachheit halber werde er sie Außerirdische nennen –, genug Zeit auch, um sich mit ihnen anzufreunden; um ein Bezugspunkt für sie zu werden, ein interstellarer Treffpunkt, wo die Außerirdischen von überall zusammenfinden würden, für ihre Vereinigungsrituale.

»Darauf hast du in deinem Hauptwerk über Pinus longaeva hingewiesen?«, fragte Kemander ungläubig.

»Ja, tatsächlich habe ich das getan«, antwortete Auerkamp. »Warum auch nicht?«

»Weil es fragwürdig ist …«

»Nein, es ist nicht fragwürdig, vor allem nicht, wenn du den Baum kennen würdest.«

»Ich kenne den Baum«, sagte Kemander, »ich war dort.«

»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Auerkamp lachend.

»Wenn du dich lustig machst, ist gleich alles vorbei«, sagte Kemander.

Daraufhin inhalierte Auerkamp mindestens 30 Sekunden lang Liquid, wobei er uns mit zwei gestreckten Fingern andeutete, Geduld zu haben. Ich dachte, dass er gleich in Ohnmacht fallen würde; seine Stirn lief rot an. Stattdessen füllte sich das Büro bald mit einer riesigen Dunstwolke. Ich konnte nichts mehr sehen. Aber ich hörte, wie das Fenster geöffnet wurde. Als sich die Luft wieder geklärt hatte, war Auerkamp verschwunden.

»Ich bin draußen«, hörten wir ihn gleich darauf rufen, »und ich warte nicht so lang wie der Baum.«

Ich flüsterte Kemander zu, dass sie weiterfilmen solle. Wir gingen um den Schreibtisch herum und stiegen durch das offene Fenster auf das Gerüst. Ich half ihr dabei. Draußen war es kühl und windig. Unsere Schritte hatten eine seltsame Tiefenstruktur auf den Eisenplatten. Die Wolken schoben sich ineinander. Die Stadt unter uns glühte währenddessen in einem geheimen Trübsinn.

»Kommt rauf«, rief Auerkamp.

Wir schauten uns um. Auerkamp war nirgends zu sehen. Aber ein paar Meter weiter war eine Leiter, die nach oben führte. Wir kletterten also vorsichtig, bis wir das flache Dach des Gebäudes erreichten; es war mit grobkörnigem Bitumen abgedichtet. Auerkamp stand in der Mitte, vor einem Aufbau, der mit Wellblech verkleidet war; ein Abstellraum vermutlich. Mit den Oberarmen lehnte er auf einem verschlossenen blauen Plastikfass und rauchte E-Zigarette. Es schien ihn nicht zu stören, dass er halb nackt war. Ich sah, dass eine Spritze in seinem Hosenbund steckte, sie war verpackt und drückte sich in seinen weichen, weißen Bauch. Professorin Kemander filmte ihn, ihre langen Haare verteilten sich im Wind quer über ihr Gesicht.

»Wollt ihr wissen«, fragte er, »was ich in meinem letzten Forschungssemester gemacht habe?«

»Zeig, was du zu zeigen hast, bevor der Wachmann kommt«, sagte Kemander beunruhigt.

»Ich habe es in den Weißen Bergen entdeckt und hierher geschmuggelt«, sagte Auerkamp.

Er klemmte sich die E-Zigarette zwischen die Zähne und nahm den Deckel vom Fass ab. Er trat einen Schritt zurück. Das Fass war, soweit ich es sehen konnte, mit einer schwarzen, schwammigen Masse gefüllt. Nichts passierte, außer vielleicht, dass der Wind nachließ. Das sah ich an Kemanders fallenden Haaren, während sie auf das Fass zuging und direkt hineinfilmte. Dann begann sich die Masse zu bewegen; von einem pulsierenden, knorpeligem Zentrum ausgehend flossen, fast unmerklich, kreisförmige Wellen über die Oberfläche hinweg. Ich bekam eine Gänsehaut. Der gefangene Körper schien sich auszubreiten, er drehte sich glibberig im Hartplastik um sich selbst. Dabei schob er sich unendlich langsam nach oben. Es entstanden gequetschte, schlurpige Geräusche, entrückt und orientierungslos. Ich glaube, ich hielt ungewollt die Luft an. Am Rand des Fasses tauchten nach und nach mehrere, eigenartig verschobene, lidlose, eitergelbe Augen auf. Sie fixierten uns eindringlich durch die Dunkelheit hindurch. Professorin Kemander trat zurück; ihre Hand zitterte. Auerkamp bekam einen Lachanfall. Als sie weiter zurückging, stolperte Professorin Kemander über ein Kabel. Dabei ließ sie das iPhone fallen. Ich half ihr beim Aufstehen und hob das iPhone auf.

»Ich will weg«, sagte sie leise.

Wir gingen zum Gerüst. Beim Hinabsteigen der Leiter sah ich noch, wie Auerkamp lachend die Spritze aus seinem Hosenbund zog, während er genüsslich an der E-Zigarette saugte.

Zu Beginn des Wintersemesters erfuhr ich, dass Professorin Kemander gekündigt hatte; deshalb war auch ich meinen Job losgeworden. Niemand wusste, wo sie hingezogen war. Eine Sekretärin meinte allerdings, dass Frau Kemander jetzt angeblich in Hongkong für ein internationales Unternehmen arbeiten würde.

Im Herbst, es war eine der letzten warmen Nächte, verpasste ich, leicht angetrunken und vorsätzlich, meinen Zug aus Erlangen. Gemeinsam mit einer Studentin, die mich immer wieder neugierig nach meinem Roman fragte, kletterte ich das Gerüst hoch. Das Fass war nicht mehr da. Aber der schwarze Bitumen hatte sich tagsüber mit Energie vollgesogen und wir konnten bis zum Sonnenaufgang auf dem Dach liegen, ohne zu frieren. Wir schliefen miteinander. Das war schön. Einmal sagte ich gedankenverloren:

»Das, was da über uns ist, sieht von hier unten fast aus wie ein Sternenhimmel.«

Das iPhone 5s von Professorin Kemander bewahre ich immer noch auf. Manchmal habe ich mir überlegt, ob ich die Videos einfach auf Youtube stellen sollte. Vielleicht mache ich daraus aber auch irgendwann einen richtigen Film. Wer weiß.

Entkommen

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