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Minztee

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Neulich explodierte am Nürnberger Airport eine Boeing 737, während ich nur ein paar Kilometer entfernt im Marienbergpark lag; halbschlafend in der Sonne, um in meinem Körper die Vitamin-D-Produktion anzuregen. Aber bevor ich erzähle, was dann passierte, will ich noch festhalten, dass an diesem Tag niemand starb. Das Flugzeug sollte damals in Kürze gewartet werden, um zurück nach Ibiza zu fliegen, woher es gekommen war, aber zum Zeitpunkt der Explosion befand sich niemand im Zerstörungsradius. Ich selbst, der ich mich auf einer engwachsenden, warmen Wiese befand, hatte in diesem Moment meine Augen geschlossen. Ich schreckte kurz zusammen, aber weniger, als zu erwarten gewesen wäre, weil das Geräusch, das von der Explosion verursacht wurde, eher dumpf klang und sich danach schubweise ausbreitete, konzentrisch. Erst später erreichten mich Detonationswellen, fein geschichtet hinter- oder übereinander. Ich sah eine pulsierende Rauchwolke in den blauen Himmel quellen, dazu die Erschütterungen, und irgendwas daran bestürzte mich so sehr, dass ich in einen inneren Fall geriet, wodurch sich bald ein mikrogravitätischer Zustand einstellte.

Um mich herum hörten auch andere Menschen mit dem auf, was sie gerade taten, alle ließen von sich selbst ab und starrten auf die Rauchwolke; sie standen auf den Kieswegen, die überall durch den Park führten, ihre Fahrräder neben sich, die Hunde waren eingeschüchtert, die Kinder verängstigt. Sofort geriet alles in mir aus dem Gleichgewicht, weil sich mein Organismus nicht anpassen konnte an die Erwartungshaltung des Weltalls. Und während im Äußeren nur ein paar wenige Sekunden vergingen, in denen ich bewegungslos auf meinem Rücken lag, den Kopf leicht angehoben, dehnte sich in mir die Zeit aus, ich spürte den zunehmenden Kalziumverlust in den Knochen, das Abnehmen meiner roten Blutkörperchen, die dröhnende Desorientierung und die schwarzlöchrigen Sinneskonflikte in meinem Gleichgewichtssystem. Ich glaube, was sonst immerzu auf mich einwirkte, verringerte sich plötzlich fast um den Faktor von einer Million, und diese neue, vorübergehende Unbeschwertheit intensivierte, was ich davor hatte niederdrücken können. Alles entglitt mir, der Schwund war mental, und mein Leben offenbarte sich mir in der Abwesenheit meines Lebens. Dass ich beispielsweise ein Hohlkreuz hatte, war in der Mikrogravität nicht entscheidend, und meine Zahnfleischprobleme waren nur der Ausdruck eines größeren Problems, nämlich meiner Unfähigkeit, überhaupt in diesem Ungleichgewicht funktionieren zu können. Ich trieb gewissermaßen, vielleicht verschwand ich sogar allmählich, dabei war es immer meine Sehnsucht gewesen, mich zunehmend zu materialisieren. Aber mir war nicht klar, wer ich werden wollte, also flirrte ich, und jetzt konnte ich es wahrnehmen, ganz kirre, wenn ich meine Hände betrachtete oder überhaupt an mir runterschaute, auf den, der ich geworden war, schon jetzt ratlos, weil ich nicht mehr wusste, welche Verirrungen dadurch entstanden sind, welche Unumkehrbarkeit es bedeutete, aus den eigenen Bedingungen heraustreten zu wollen oder sie sogar hinter sich zu lassen. Und wie wichtig es gewesen wäre, wenn ich mindestens hätte telepathieren können, weil sich diese Mühsal, so vieles gleichzeitig zu denken, dann wenigstens durch mich selbst vermittelt hätte. Aber ich spürte auch, dass ich äußerlich so wirkte wie Harz, das aus einem Baumstamm fließt. Einer Frau hatte ich mich verpflichtet gefühlt, in meinem überbordenden Schuldbewusstsein, ich konnte es dann aber nicht aushalten, diese Verlorenheit, die entstanden war, andauernd. Eigentlich hatte ich es doch viele Jahre aushalten können, bevor ich, entrückt, wie ich war, mit meiner Erstarrung begann. Und was war das für eine unbegreifliche Verbindlichkeit gewesen? Wovon hätten wir uns angezogen fühlen sollen, wenn es keine Anziehungskraft gab aufgrund der Weise, wie wir uns miteinander durch den Raum bewegten? Wenn unsere Hände einander durchdrangen, wie konnte diese Abwesenheit des anderen dann bedeuten, dass wir beide umhüllt gewesen wären von etwas, das physikalisch berechenbar ist? Ich wusste in diesen Sekunden nicht, wie schmerzlindernd oder tröstend es sein kann, wenn eine Beschränkung vorhanden ist, wenn man gestützt wird durch eine Energie, die gegeben ist und nicht vorgestellt. Ich wusste in diesen Sekunden nicht mal, dass es nur Sekunden waren. Ich konnte wahrnehmen, dass ich mich nicht kausal verhielt, dass Kausalität gar nicht mehr existierte – für ein kurzes Intervall. Es musste sich ja um einen Gärungsprozess handeln, oder wie sollte man es sonst erklären können? Das Intervall gärte durch mich hindurch in die Welt. Die vergangenen Jahre, in denen ich zuerst verbunden gewesen war, dann verloren, und dann alleine, diese Jahre vermischten sich in einer klebrigen Flüssigkeit, oder sie äußerten sich als Ektoplasma um mich herum, wie ein gefüllter Kokon, in dem ich mich schwerelos bewegte, in dem ich mühelos atmen konnte, ein Kokon, der sich innerhalb des Zeit-Raum-Gefüges ausbreitete und dessen Membran ich vielleicht doch erahnte, mehrere Lichtjahre entfernt. Eine Bewegung ging davon aus, wellenförmig, und wie hätte ich das mitbekommen können, wenn ich wirklich nur ein paar Sekunden auf dieser Wiese gelegen wäre, erstaunt und entsetzt zugleich. Was erfuhr ich währenddessen über meine Erstarrung? Ich erfuhr, dass ich mich wieder würde bewegen können, oder zumindest, dass das erstarrte Ektoplasma zu einem späteren Zeitpunkt porös werden würde, oder dass ich es durch psychokinetische Impulse würde zerstören können, möglicherweise. Wie konnte ich aus Harz sein und trotzdem bewegt durch die Detonation? Gleichzeitig war es gefährlich, in diesem Kokon zu verweilen, mein Knochenmark löste sich wahrscheinlich auf, und mein Herzrhythmus war fremdbestimmt oder mehrmals vorhanden, ich selbst war wie immer mehrmals vorhanden (so many different people to be). Ich spürte, dass ich mich, ausgelöst durch mein Erstarren, distanziert hatte, besessen von einer Traurigkeit, die mich davon abhielt, sympoietisch zu sein, wobei es gleichermaßen gar nicht möglich ist, davon abgehalten zu werden. Diese Einsicht bestürmte mich mehrmals, oder durchfloss mich, weil der Sturm doch das Los sein soll, von einem konditionierten Wesen. Ich weiß aber auch noch, dass ich mich bald wieder beruhigte, oder zumindest irgendwann später. Vielleicht war all das gar nicht geschehen. Ich richtete mich auf. Ich saß dann mit angezogenen Knien im Park und sah noch immer die Rauchwolke aufsteigen. Der Rauch über den Häusern und Bäumen war fast weiß im Schein der hellen Sonne. Ich bemerkte, dass sich überall wieder Kausalitäten entwickelten, viele filmten, Hunde bellten sich an, und trotzdem blieb eine anhaltende Unerklärbarkeit zurück. Ich sah mich um, schaute den anderen Menschen zu, und ich fragte mich, was sie in den wenigen Sekunden, die seit der Explosion vergangen waren, empfunden hatten. Ich hörte Sirenen von allen Seiten, es war windstill.

Ich erhob mich, klopfte mir das Gras von den Klamotten und radelte angespannt ein paar Hundert Meter, hinein ins Industriegebiet, das an den Park angrenzte und auf dessen gegenüberliegender Seite der Airport war. In einer alten Fabrikhalle hatte im Sommer ein Fitnesscenter eröffnet. Ich kaufte mir einen Tagespass. Wie ich war, ohne mich umzuziehen, ging ich in den fensterlosen Trainingsraum, komplett leer, abgesehen von den Geräten. Die Leuchtpanels flackerten unregelmäßig. Ich trank den heißesten Minztee aus einem Plastikbecher. In einem Sonderbericht wurden die ersten Aufnahmen vom Airport übertragen, bald schon standen Reporter vor der Abflughalle, zuckten unwissend mit den Schultern, aber sie redeten dabei einfach weiter, überfordert, geschäftig. Ich klaute mir einen Proteinriegel und kaute angewidert darauf rum. Ich riss wahllos Handtücher aus einem Regal und schleuderte sie umher, aber die Anspannung entwich nicht aus mir. Während ich, ohne davon ablassen zu können, auf die stumm geschalteten Flachbildschirme schaute, die von den Decken hingen, powerte ich mich über eine Stunde lang komplett geisteskrank auf dem Stepper aus, um Mangelzuständen entgegenzuwirken, von denen ich mir einbildete, dass sie existierten.

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