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Schräg am Schweben

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Vor Kurzem habe ich bei Hans Jürgen von der Wense einen Satz gelesen, der mich beschäftigt: »Wirft man die Schaukel schräg, so schlingert sie. Das ist eine Art, die gesamte Weltordnung aufzulösen.« Wenn ich darüber nachdenke, was ich gerne wäre, weiß ich nur, dass ich mich am liebsten selbst schräg werfen würde. Ich will schlingern. Aber das ist nicht sehr konkret. Außerdem habe ich oft genug das Gefühl, dass ich mich sowieso in einem andauernden Zustand des Schlingerns befinde. Mir fällt die Vorstellung schwer, komplett anders zu sein; eine so kategorische Überschreibung käme mir wie ein Verkennen meiner selbst vor. Ich finde es aber auch kompliziert, konkret zu formulieren, was ich werden will. Gleichzeitig habe ich Angst, dass ich, wenn ich diese Gedanken aufschreibe (und sie also vor mir selbst zulasse), verlerne, mich kategorisch anders zu denken – und nicht mehr damit aufhören kann, von dem wenigen, das ich bin, auszugehen; und mich immer nur weiterdenke auf der Grundlage meiner Unzulänglichkeiten. Womit ich ein weiteres Mal bei meiner Festgefahrenheit angelangt bin.

Aber es gibt auch einen Tweet von Hermann Dose: »Mit gezieltem 14 stündigen Schlaf ein System zum Einsturz bringen«. Ich muss immer lachen, wenn ich über diesen Satz nachdenke; er hat so viel Power und greift direkt die Weltordnung an, wie die schlingernde Schaukel. Vielleicht möchte ich einfach schlafen, andauernd und invasiv, um eines Tages in den Ruinen einer neuen Zeit aufzuwachen. Nein, das stimmt nicht. Ich möchte mich nicht im Schlaf selbst auslöschen. Aus dem gleichen Grund, aus dem ich mir keine Existenz vorstellen möchte, die kategorisch anders ist. Ich will mich der Gegenwart nicht entziehen, auch nicht in Gedankenexperimenten; ich will mich der Gegenwart aussetzen und in ihr durchlässiger werden. Wenn ich aber darüber nachdenke, was ich werden will, ausgehend von mir selbst, dann wäre es fair zuzugeben, dass ich psychokinetische Kräfte entwickeln möchte (in diesem Leben) und später als Kiefer wiederkommen (in einem weiteren Leben). Außerdem wäre es richtig zu sagen, dass ich gerne in einer ganz nahen, aber komplett anderen Zeit leben würde – einer Zeit, ausgelöst von unzähligen schlingernden Schaukeln –, um immer noch ich selbst zu sein, aber vielleicht in einem tieferen Einklang mit meinen Sehnsüchten. Ich frage mich, ob ich in den Jahren zu realistisch geworden bin oder zu feige. Oder ist es gut, nicht kategorisch anders sein zu wollen, ein Zeichen von Akzeptanz? Dann wäre die anschließende Überlegung vielleicht, inwieweit sich Akzeptanz und Verleugnung überlagern. Ich möchte mich nicht komplett überschreiben, sondern ich möchte meine Festgefahrenheit im Schreiben schrittweise auflösen, und damit meine Gebundenheit an meine Ängste.

Manchmal wünsche ich mir aber auch, mich in Tarkowskis Stalker zu befinden; in der letzten Szene, wenn Martiška, die Tochter des Stalkers, ihr Buch weglegt und nach einer Weile damit beginnt, durch ihre psychokinetischen Fähigkeiten mehrere Gläser über den Tisch zu bewegen. Genauso wie sie auf die Gläser schaut, würde ich gerne auf die Welt schauen können: ruhig, furchtlos, fähig, verbunden. Auch hier bricht eine Ordnung auf, beinahe unerkannt. Ich würde gerne neben ihr sitzen; sehen, was sie sieht, und spüren, was sie spürt. Ich würde ihre Erschöpfung erahnen, ausgelöst durch die innere Mühsal, die es bedeutet, die Welt zu verändern. Ich würde ihr erzählen, wie oft ich mich überwinden muss, um die Erschöpfung überhaupt anzuerkennen. Sie würde mir verständlich machen, dass es nie nachlassen wird, das Sich-überwinden-Müssen. Anschließend würde sie mich fragen, ob ich es auch mal ausprobieren wolle, das mit den Gläsern. Ich würde nicken, aber dann würde ich scheitern. Die Gläser würden sich von mir nicht bewegen lassen, obwohl ich voll konzentriert wäre. Aus einem unerklärlichen Grund würden wir beide zu lachen beginnen. Später würden wir rausgehen, vors Haus, und es würde schneien. Wir würden Wintermäntel tragen, Schals, Mützen und Handschuhe. Wir würden empfinden, was die Bäume empfinden, und ahnen, was die gefrorene Erde ahnt. Schweigend würden wir nebeneinanderher laufen, und ich würde trotzdem von ihr lernen. Es wäre still um uns herum; nur unsere Schritte würden sich mit dem Schnee verreiben. In der aufkommenden Dämmerung würden wir am Waldrand ein Gestell erkennen, und Schaukeln. Wir würden uns auf die Schaukeln setzen und wippen, vor und zurück, immer kräftiger. Viel mehr würde gar nicht passieren, aber es wäre genug.

Entkommen

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