Читать книгу Entkommen - Joshua Groß - Страница 17

Оглавление

Nürnberg, warum machst du diese?

1

Einmal im Luitpoldhain saßen Manu und ich auf einer versteckten Bank und rauchten Marihuana; meistens entfernten wir uns nicht so weit vom Maffeiplatz, wo sich unsere Wohnung befand, sondern hingen hauptsächlich auf unserem Balkon rum und betrachteten die lilafarbenen und rötlichen und grauen Südstadtwolken über dem Innenhof.

Ich weiß nicht mehr, warum wir an diesem Tag umherschlurchten, wahrscheinlich waren wir auf der Suche nach einem Imbiss oder Zerstreuung. Dass wir, während wir die gigantischen Wiesen des Luitpoldhains wahrnahmen, langsam high wurden, war an sich nicht sehr trippy, sondern öffnend und korrelierend mit dem kaltgepressten Grün des kauernden Frühlings; da war so eine Zögerlichkeit überall, oder eine Zartheit, die misstrauisch verbarg, dass die Welt, die wir kannten, aber vergessen hatten, bald aus sich selbst herausbrechen würde, übermächtig und schrill. Na ja. Ich weiß noch, dass wir damals meistens schwermütig waren, obwohl alles immer heller wurde. Allerdings waren wir auch angefixt von der wurmlochartigen Unübersichtlichkeit unseres haltlosen Denkens – worin auch eine Zartheit lag, ein Abdriften; der Versuch, über das hinauszukommen, was wir jeweils einzeln waren: zwei Zellanhäufungen, die Vorsicht und Angst meistens verwechselten. Manchmal gelang es uns gemeinsam, der gesicherten Fixiertheit zu entkommen und zu flexen – auf einem brüchigen, vorsichtigen, fluoreszierenden Untergrund, den wir paradoxerweise erst dadurch erschufen, dass wir ihn betraten.

Wir entwickelten zusammen Geheimwissen. Ich freestylte abends, während Manu Mandoline spielte, und wir schauten zusammen alte B-Movies an, die wir auf verseuchten Websites streamten, und wir diskutierten über theoretische Texte und ernährten uns hauptsächlich von Toastbrot, Paprikacreme und Weichkäse.

Nachdem wir eine Weile high im Luitpoldhain herumgesessen hatten, gingen wir weiter über das Gelände, verloren in einer zerfließenden Müdigkeit oder versunken in ihr; wir überquerten die Bayernstraße und kamen zum Volksfestplatz; er war mit Bauzäunen abgesperrt. Der Himmel war irgendwie schlonzig, auch wenn die Sonne schien, mit einer irritierenden Kraftlosigkeit. Die Kongresshalle hatte sich grau ins Universum reinbetoniert, logischerweise ging kein Glanz von ihr aus, nur ein Erbe der Unkultur, dessen Schaden auf uns allen lastete, wie Charlotte Wiedemann schreibt.

Es kam an diesem Tag zu einer eigenartigen Begegnung, von der ich erzählen will: Auf der anderen Seite des Volksfestplatzes lagen die Einzelteile eines Zirkuszelts, das offensichtlich bald aufgebaut werden sollte, rote Planen, Paletten und Gestänge waren auf dem Asphalt verteilt, ein Tieflader parkte daneben; außerdem waren ein paar kleinere Laster des Zirkus auf der weiten Fläche abgestellt worden. Niemand war da, kein Mensch, nirgends. Nur mittendrin, auf dem Kies, stand ein Elefant, in einem winzigen Gehege, das eigentlich nur aus vier Eisenstäben bestand, um die eine rote Schnur gespannt war; ein kleines Viereck, das den Elefanten umgab. Von da, wo wir uns befanden, wirkte er bedroht in einem existenziellen Sinn, wir konnten das telepathisch spüren, oder aufgrund einer chemischen Empfindsamkeit.

Es war, als wäre der Elefant umgeben von Abgründen gewesen, als wäre nur dieses eingezäunte Viereck halbwegs befestigt, aber gleichzeitig auch invertiert; das Tier war gefangen in einem Prozess der zunehmenden Isolation, also da war dieser fragwürdige Boden, und die Ahnung, dass der Elefant nur hier, genau da, wo er ausharrte, weiterhin bleiben könnte, obwohl er eigentlich überall hätte sein sollen, nur hier nicht. Jetzt war es so weit gekommen, dass er überall anders einfach durch die Oberfläche gefallen wäre und in einem ewigen Fall die verschiedenen fragwürdigen Schichten des Planeten durchdrungen hätte. Seine Isolation, unter der er litt, fand umgeben von Haltlosigkeit statt.

An den Bauzäunen, die den Volksfestplatz absperrten, hingen neonfarbene Plakate an den Gitterstäben, die für den Zirkus warben. Manu und ich hoben ein Teilstück des Bauzauns aus seiner Halterung und schlüpften hindurch. Zuerst schauten wir uns vorsichtig um, weil wir sichergehen wollten, dass tatsächlich keine Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter des Zirkus anwesend waren, außerdem prüften wir, ob wir beobachtet wurden, von Passanten beispielsweise. Ich meinte ja, dass es sich für uns manchmal unklar anfühlte, was Vorsicht und was Angst war. Und dann kommt in Bayern sofort noch diese belastende Paranoia dazu, wenn man high ist, weil Bayern ein Bundesland ist, in dem Polemik vor Verhältnismäßigkeit kommt. Es ist seltsam, tagsüber durch ein abgesperrtes Gebiet zu laufen, das von allen Seiten einsehbar ist. Aber ungefähr so fühlte sich diese Stadt immerzu für uns an. Wir schlurchten über asphaltierte Wege, durch eingedickten Kies, unter einer blassen Sonne, die viel tiefer stand, als es nötig gewesen wäre. Wir näherten uns dem Elefanten vorsichtig, obwohl wir sofort spürten, dass er uns wohlgesonnen war. Allerdings erschraken wir (es ging von den Oberarmen aus), weil das Tier so traurig wirkte, und ich meine damit nicht, dass wir den menschlichen Mood des Traurigseins auf ihn übertrugen – er befand sich in einem Zustand, der traurig war. Dass er überhaupt alleine eingesperrt war, von einer lächerlichen roten Schnur gefangen, die er sofort hätte durchbrechen können, das war traurig. Außerdem war er ungepflegt, seine lehmige Haut war verdreckt, verklebt, rau, garstig. Er wirkte ausgestoßen, er wirkte eingefallen. Langsam suchte er mit seinem Rüssel den Boden ab, und wenn er ausatmete, stiegen winzige Staubwolken langsam nach oben; dabei beobachtete er uns neugierig und müde. Wir liefen um ihn herum, umkreisten ihn mit Achtung, gleichzeitig waren wir von der Situation überfordert, aber auch dankbar für diese Begegnung; wir wurden auf unvorhersehbare Weise verwandelt, wie es bei Anna Lowenhaupt Tsing heißt. Ich ging in die Hocke und beobachtete den Elefanten.

2

hände wie wärmepflaster

auf meinem körper drauf

das will ich

aber die stadt fragt mich

willst du viele geklonte abgetrennte hände

überall auf deinem körper?

nein

3

Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als wir einen Klassenausflug ins Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände machten, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Ein Mitschüler von mir, seine Frisur war blonde Dreadlocks, schmuggelte Joints in einer leeren Pulmoll-Dose mit sich herum und rauchte sie anschließend am Dutzendteich. Ich erinnere mich, dass es in einem der oberen Stockwerke einen gläsernen Steg gab, der raus auf den Innenhof führte und den ich nicht betreten konnte; mein Körper blockierte sich komplett gegen mich. Ich konnte gerade so einen Fuß auf die Glasplatte setzen, während ich mich krampfhaft am Geländer festhielt, aber es war mir unmöglich, beide Füße auf den durchsichtigen Boden zu stellen. In mir bebte das bloße Entsetzen, das nichts ist im Vergleich zu dem Grauen, das mich mindestens psychogeografisch umgab.

4

Ich erinnere mich auch, dass ich bei Takeshi’s Castle vom Drachensee irritiert war, weil es dabei so schwer schien, den Zufall auszutricksen. Die Etappe wird auf Wikipedia so beschrieben: »25 etwa einen Meter voneinander entfernte Steine sollen die Überquerung eines Wassergrabens möglich machen, aber wechselweise sind immer fünf Steine locker.« Auf einem Blog fand ich folgende, wesentlich poetischere Beschreibung: »Das Fiese: einige Steine waren fake und wenn man sich falsch entschied, soff man ab. Ich habe KEINE AHNUNG, wie man die Challenge schaffen sollte, die Steine sahen alle gleich aus und sehr viele scheiterten immer kurz am Ende. Manche rannten aber auch so unendlich fix, dass sie fast schon über das Wasser selbst rannten, es war immer wieder cool, wenn das einer schaffte.«

Obwohl es mir immerzu möglich war, mich criminal minded durch die Stadt zu bewegen, gab es in mir ein stockendes Verlangen, all dem zu entkommen, weil ich mich nicht sicher fühlte, weil ich spürte, dass ich mir alles, was mir grundlegenden Freiraum bieten würde, selbst erschaffen musste, mit allen Schritten immer wieder gegen die Abgründe, und mit allen Schritten auf die Abgründe zu, die lauerten, wo ich entlangging. Ich weiß, dass dieses Gefühl höchstwahrscheinlich aus mir heraus entstand, aber es entstand auch im Austausch mit dieser Stadt, die ein oft psychopathisches Verhältnis zu sich selbst hat.

Nie konnte ich ahnen, welche Steine locker waren, immer mischte sich Verzweiflung in den Fun. Aber oft war es so, dass wir, meine Freunde und ich, es schafften, fast schon über den brüchigen Boden selbst zu rennen, und dabei brach etwas in unseren Brustkörben auf, etwas, wodurch es uns möglich wurde, der Zurückhaltung zu entkommen.

Donna Haraway schreibt: »Es spielt eine Rolle, ob wir uns in der Fülle der Bedürfnisse oder mit unerfüllten Bedürfnissen entwickeln.« Ich bezweifle, dass über derartig grundlegende Feinsinnigkeiten in Nürnberg schon mal nachgedacht wurde. Es liegt etwas Brachiales in der Bräsigkeit; da ist diese Stadt, verdreckt, verklebt, rau, garstig, eingezäunt vom Wahnwitz, und wir alle wissen so selten, was wir tun sollen, mit uns überhaupt und der Zukunft, aber hier ist es besonders heftig spürbar.

5

ich will deine

vielen geklonten abgetrennten hände

nicht

aber sag

warum machst du diese?

Entkommen

Подняться наверх