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Mama told me not to sell work / Aufzeichnungen vom 12. September 2017

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Ich habe seit Tagen keine Liegestütze gemacht, keine Yogaübungen für meinen abgefuckten Rücken; aber ich stehe im sechsten Stock auf dem Balkon und betrachte die Bahngleise, die sonnenverbrannten Dächer, die terrakottafarbenen Hauswände, die Altstadt auf dem Berg, die Alpen dahinter. Ich könnte sagen, dass ich mich selbst loope, aber ich flexe stattdessen, auch wenn ich zeitweise unsicher bin. Nichts, was in mir passiert, kann vermieden werden. Ich höre die endlosen Halleffekte auf Kelly Price (Migos und Travis Scott); und auf meiner Hirnrinde spiegelt sich die Lavalampe. Über dem, was nicht vermieden werden kann, ist eine Anhäufung von Fremdeinflüssen, denen ich mich hingebe, weil ich das Fremde meistens für wichtiger erachte als mich selbst. Ich verpflichte mich zu nichts, was pasteurisiert ist. Ich weiß, dass Philippe Gerlach in seinem Berliner Studio sitzt und Bones hört: dessen lange, hauchdünne Haare und die kategorische Ausgelassenheit beim Todestanz; Gothic Trap, der aus blechernen Laptoplautsprechern kommt: Fuck a closed casket, bitch, put me with the trees / let me rot, throw some seeds, water me and give me leaves / all I’ve ever wanted was to be / breathing the way the ocean be. Wir telefonieren selten, Philippe und ich, aber ich denke zurzeit oft an ihn. Währenddessen sind Chris und ich immer wieder zum Bahnhof in Bergamo gelaufen. Männer stehen in kleinen Gruppen zusammen; sie halten Softdrinks in den Händen und kontrollieren die Blocks mit sanften oder eiternden Blicken; sie rollen auf alten Fahrrädern durchs Viertel, urinieren immer wieder an denselben Baum. Manche von ihnen sind Alkoholiker, das ist ersichtlich. Ich versuche ihnen telepathisch zu übermitteln, dass ich ihre Anwesenheit schätze, unsere gleichzeitige Anwesenheit. Ich gehe an ihnen vorbei. Und ich kaufe nichts, obwohl ich will. Sie fragen codiert, was wir brauchen, und machen uns sexuelle Avancen. Es regnet seit Tagen. Ich habe das Gefühl, unwiederbringlich älter zu sein, weil in mir die Gewissheit entsteht, dass manches, was ich erlebt habe, tatsächlich abgeschlossen ist. Nie waren Erlebnisse abgeschlossen für mich, immer überlappten sie bis in die massive Gegenwehr meines Bewusstseins hinein. Mich erleichtert das einerseits, und es macht mich schwermütig, weil ich mich frage, ob es nicht besser wäre, wenn alles immerzu durchlässig bliebe. Aber ich bin zuständig für das, was verschüttet wurde; und für das, was bedroht ist, verschüttet zu werden. Dass manches abgeschlossen ist, bringt mich dazu, so lange weiterzuschreiben, bis sich das Unkalkulierbare wieder einstellt.

Gestern habe ich halluziniert: Ich habe bewaffnete Polizisten gesehen, die auf uns warten, am Münchner Hauptbahnhof, mit Taschenlampen in der zähen Dunkelheit, mit Maschinengewehren, scharfe Schäferhunde mit Maulkörben, der Grenzschutz des Unaussprechlichen, und ich konnte nicht davon ablassen, über allem Helikopter zu hören. Kurz war ich mir sicher, dass ich nie wieder davon würde ablassen können, und ich habe geahnt, in der Halluzination, dass ich einmal unverdächtig war, solange ich in Feigheit lebte, aber jetzt werde ich verdächtig sein, bis ich mich zum Polizeistaat bekenne. Als ich nicht mehr halluzinierte, wusste ich, dass die meisten Sehnsüchte in der Simulation befriedigt werden können, in einer Vorgeblichkeit, die unvollständig und gleichzeitig immersiv ist. Weil ich innerlich nach Widerspruchslosigkeit suche, vervollständige ich die brüchigen Immersionen oft automatisch zu einem Hallraum, der mich schützend umgibt, und ich kompromittiere meine Sehnsüchte, was sich verkrustet anfühlt und genmanipuliert. Ich schreibe weiter, damit die Vorgeblichkeit nicht die Wirklichkeit ersetzen kann.

Vorhin sind Chris und ich an einem kleinen Supermarkt vorbeigekommen, in der Via Giovanni Battista Moroni, in dem es eigentlich nichts gab außer Fertigprodukte und einen Kühlschrank voll Bacardi Breezer: rot, grün, orange, gelb. Wir haben ein paar Flaschen gekauft und sind durch den Regen zurück zu unserem Apartment gelaufen. Kurz sind wir sogar gerannt, um unter der Bahnschranke durchschlüpfen zu können, bevor der Zug kam. Die orangen Straßenlampen haben uns beobachtet, aber sie vergessen schnell und sammeln keine Informationen. Im Treppenhaus habe ich mir Wasser aus den Haaren gedrückt. Und nachdem wir unsere durchnässten Schuhe mit Zeitungspapier ausgestopft hatten, setzten wir uns barfuß vor den Laptop, Chris aufs Sofa, ich auf den Boden: Wir haben eine Doku über Basquiat geschaut und Bacardi Breezer getrunken. Ich war bald benebelt vom Alkohol und high von den E-Stoffen; aufgebrochen, unabgeschlossen, durchlässig. Welche echten Sehnsüchte sind mir geblieben, seit damals vor fünfzehn Jahren, als es normal für mich war, Bacardi Breezer zu trinken? Ich war schon immer verwickelt in romantisches Verlangen und Neugierde, in die Durchdringung der Vorgeblichkeit, alles spielt sich ab zwischen Stripclubs, Hinterhöfen, Animes und Berghängen unterhalb der Waldgrenze. Der Journalist fragt: »Is there any anger in you?« Basquiat antwortet: »Yes, of course there is.« »What are you angry about?« »I don’t remember, you know.« Aber ich weiß, dass ich mich wieder erinnern werde, an meine Wut, an meinen Zorn. Ich sage nicht, dass es gefährlich werden wird, aber unkalkulierbar, vielleicht sogar rücksichtslos. Nicht mehr zu loopen, sondern offen und unvermeidbar. So saß ich da, auf den kalten Kacheln, die Fenster nach Norden, die leeren Flaschen vor mir, die Nacht durchdrungen von Mücken und Süßungsmitteln. Kann sein, dass ich mich am Bein kratzte. Was soll das sein, die echten Sehnsüchte? Nichts anderes als zunehmende Entgrenzung, zurückgeworfen auf mich selbst, ohne Abgleich mit der manipulierten Matrix. Die Rückgewinnung der Realität.

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