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Kapitel 6 Bühne frei für die Egomanin

Das Handy lag entsperrt in meiner Hand, während ich einige Male tief durchatmete. Mit geschlossenen Augen drückte ich die Wähltaste. Es klingelte dreimal, dann hörte ich die vertraute Stimme meiner Mutter. »Evy, Schatz, wie geht es dir?«

»Hey, Mom. Mir geht’s spitze. Ich bin gut angekommen.«

»Oh, das ist wunderbar. Ist Tampa so, wie du es dir vorgestellt hast?«

Das war ein neuer Rekord. Sie stellte mir gleich zwei Fragen über mein Wohlbefinden hintereinander. Das hatte es noch nie gegeben. »Ja, Tampa ist großartig und der Campus ist der Wahnsinn.«

»Das freut mich zu hören. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Dein Aufbruch kam ja ziemlich überstürzt.«

Du hast dir Sorgen um mich gemacht? Wirklich? Das wäre ja mal was ganz Neues.

Ich biss mir auf die Unterlippe und atmete gegen den Drang an, ihr genau das entgegenzuschmettern. »Ja, ich weiß, aber es musste sein. Ich musste einfach weg von zu Hause.«

Es folgte Stille am anderen Ende der Leitung. Kurz dachte ich, sie hätte aufgelegt, doch dann hörte ich, wie sie seufzte. Ich machte mich schon darauf gefasst, mit Vorwürfen ihrerseits überrollt zu werden, doch sie blieben zu meinem Erstaunen aus. Stattdessen fragte sie mich: »In welchem Wohnheim bist du untergekommen? Es war doch sicherlich schwer, so kurzfristig noch einen Platz zu bekommen.« Schwang da aufrichtige Sorge in ihrer Stimme mit? Telefonierte ich wirklich gerade mit meiner Mutter?

»Ähm …«, stammelte ich. »Eigentlich habe ich noch keinen Wohnheimplatz. Ich bin bei einer Kommilitonin untergekommen. Die Collegeverwaltung macht erst am Montag wieder auf. Erst dann kann ich mich um die Einschreibung und den ganzen Rest kümmern.«

Sofort spürte ich die Veränderung. Auch ohne meiner Mutter gegenüberzustehen, spürte ich, wie es in ihrem Kopf anfing zu rotieren. »Und diese Kommilitonin kennst du woher? Sag mir bitte nicht, dass du bei einer wildfremden Person abgestiegen bist!«

»Doch, bin ich. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Camy studiert im zweiten Semester Kriminologie. Ihre Eltern sind beide bei der Polizei.«

»Das hat sie dir erzählt, aber hast du es auch überprüft?«

Ja, Mutter, ich habe sowohl ihr Führungszeugnis als auch ihren Ausweis überprüft, als sie mir angeboten hat, hier zu wohnen.

»Vertrau mir einfach, okay?«

Langsam kehrte die Wut zurück. Wie ein Hefeteig gor sie in meinem Magen und wuchs mit jedem Wort, das Mom sagte, weiter an. Ein verächtliches Schnauben erreichte mich durchs Telefon. Damit der Zorn, der in mir brodelte, nicht zu übermächtig wurde, fing ich an, mir in den Nasenrücken zu kneifen. Genau das wollte sie. Sie wollte mich aus der Reserve locken, doch ich hatte nicht vor, darauf anzuspringen.

Konzentriere dich aufs Atmen. Ein und aus. Ein und aus.

Doch meine Mutter kam gerade erst in Fahrt. »Ich wusste sofort, dass es eine blöde Idee von dir war, nach Tampa zu gehen. Was willst du überhaupt dort? Du hättest hierbleiben und für mich arbeiten können. Ich hatte alles schon durchgeplant.«

»Das weiß ich, aber ich möchte meinen eigenen Weg gehen. Kannst du das nicht verstehen?«, unterbrach ich sie mit außergewöhnlich ruhiger Stimme.

»Nein, das kann ich nicht. Jeder aus der Nachbarschaft fragt mich, wo du bist. Warum du dich anders entschieden hast. Weißt du, wie peinlich es für mich ist, ihnen sagen zu müssen, dass du einfach so weggegangen bist?«

Hello Again! Da war sie ja wieder.

Ich nahm das Handy vom Ohr und schaute kurz aufs Display. Unser Telefonat dauerte bislang exakt drei Minuten und dreißig Sekunden. Nach weniger als fünf Minuten hatte sie es geschafft, von mir zu sich zu wechseln.

»Mom, es tut mir leid, wenn ich dich in eine blöde Situation gebracht habe, aber ich muss selbst herausfinden, was ich aus meinem Leben machen will. Ich habe die Entscheidung für mich getroffen, nicht um dir damit wehzutun.«

Dass sie der Tropfen war, der mein Fass zum Überlaufen gebracht und mich in die Flucht getrieben hatte, verschwieg ich. Es würde ohnehin nichts bringen. Sie würde es nicht verstehen.

Ihre Stimme war einige Oktaven nach oben gewandert und ein zartes Zittern hatte sich daruntergemischt.

Wirklich fabelhaft!

Wenn sie etwas gut konnte, dann war es auf Kommando zu heulen. Und sie wusste, dass sie mir damit ein schlechtes Gewissen machte.

»Du hast es trotzdem geschafft, mich damit zu verletzen. Ich habe in den vergangenen Monaten meinen Kunden erzählt, wie stolz ich bin, dass du bei mir einsteigst. Jetzt muss ich wie ein Hund vor ihnen kriechen und diese Aussage revidieren. Kannst du dir vorstellen, wie unprofessionell so etwas wirkt?«

Öhm, nein? Ich glaube auch nicht, dass es deine Kunden interessiert, ob deine Tochter für dich arbeiten wird oder nicht.

»Und«, fuhr sie fort, »dazu kommt, dass ich mich seit deinem Verschwinden nur noch mit deinem Vater streite.«

Huch, das war aber ein schneller Themenwechsel. Bei dem Tempo würde sogar Flash vor Neid erblassen. Scheinbar trug ich jetzt auch die Schuld an ihren Eheproblemen.

»Er hat mir von dem Geschenk erzählt …«

Shit! Dad hatte sie nicht eingeweiht.

»Ich habe mich wirklich sehr über das Geschenk gefreut. Es bedeutet mir wirklich viel.« Instinktiv griff ich mir ans Herz. Diese Geste berührte mich immer noch zutiefst. Jetzt, wo ich wusste, dass er es hinter dem Rücken meiner Mutter gemacht hatte, sogar noch mehr.

»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Von der Trauer in ihrer Stimme war nichts mehr zu hören.

Hatte sie einen eingebauten Schalter im Hirn, den sie nach Belieben umlegen konnte? Von zu Tode betrübt auf unendlich vorwurfsvoll in drei Sekunden. Damit hängte sie sogar einen Porsche 911 ab.

Es war der Wahnsinn!

Und das meinte ich wörtlich. Es war der Wahnsinn, der da aus ihr sprach. Eine andere logische Erklärung gab es für ihr Verhalten nicht.

»Mit diesem Geld wollte ich eigentlich einen Firmenwagen kaufen, damit du unabhängig von mir deine Aufträge erledigen kannst. Aber das ist ja jetzt nicht mehr nötig.«

Oh, Dad! Warum hast du mir das nicht gesagt?

»Das wusste ich nicht«, sagte ich kleinlaut.

Jetzt hatte sie es geschafft. In meinem Bauch erwachte ein flackerndes Licht, das schnell heller wurde und unangenehm in meiner Brust brannte.

Willkommen zurück, schlechtes Gewissen. Ich hatte dich überhaupt nicht vermisst.

»Mom, es tut mir wirklich leid und ich bin mir sicher, dass es Dad genauso leidtut. Wenn du willst, zahle ich dir das Geld zurück.«

Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

»Na so weit kommt es noch! Was sollen denn die Nachbarn von uns denken?«

Woher sollten sie es denn überhaupt wissen? Ach, was dachte ich da überhaupt! Mom hatte ihnen bestimmt schon erzählt, welch großzügiges Geschenk ich von ihnen – ja, von ihnen, nicht von Dad – zum Abschluss bekommen hatte. Das sie mir das Studium finanzierten und das ich es ohne ihre Unterstützung nicht schaffen würde. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie meine Mutter in einer Traube von Menschen stand und ihnen ihre Uneigennützigkeit vor die Füße kotzte.

Genau das brauchte sie.

Die Bestätigung der Menschen um sie herum, dass sie die Größte war.

Der Nabel der Welt, ohne den alles zusammenbrechen würde.

Die Retterin in der Not, ohne die nichts funktionieren würde. Genau das waren die Streicheleinheiten, die ihr Ego regelmäßig brauchte.

Da ich auf ihre Frage nichts erwiderte, echauffierte sie sich ungeniert weiter. »Aber komm ja nicht angekrochen, wenn du merkst, dass es ein Fehler war, nach Florida zu gehen. Ich weiß nicht, ob dann immer noch ein Platz in meiner Firma auf dich wartet.«

»Lieber gehe ich auf dem Strich anschaffen, als zu dir zurückzukommen«, flüsterte ich so leise, dass sie es nicht hören konnte.

»Hast du etwas gesagt?«

»Nein, Mom. Ich kann mich nur erneut dafür entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich dich in so eine missliche Lage gebracht habe. Es tut mir leid, dass dich mein plötzlicher Aufbruch verletzt hat, und es tut mir leid, wenn ich deine Pläne durcheinandergebracht habe. Aber ich glaube wirklich, es war die richtige Entscheidung.«

Sie räusperte sich laut. »Na ja …«

Das nachfolgende schnalzen mit der Zunge war nicht zu überhören. »Ich nehme deine Entschuldigung an.«

Sie klang wie ein bockiges Kind, dem man vor dem Abendessen die Schokolade weggenommen hatte.

»Also, mein Honigbärchen, ich muss jetzt auflegen. Melde dich, sobald du eingeschrieben bist und ein vernünftiges Dach über den Kopf hast. Ich möchte den Leuten nicht sagen müssen, dass meine Tochter wie eine Landstreicherin von einem Haus zum nächsten zieht.«

»Das mache ich, Mom.«

»Bis dann!« Ein Knacken ertönte, im Anschluss brach die Verbindung ab und die Leitung war tot. Sie hatte nicht einmal gewartet, bis ich mich verabschiedet hatte.

Ich pfefferte das Telefon aufs Bett, schnappte mir das Kopfkissen und presste es mir ins Gesicht.

Dann schrie ich, bis ich in meinem Hals ein trockenes Kratzen spürte.

Hatte ich echt angenommen, es würde ein schönes Gespräch werden? Nein, hatte ich nicht. Aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Obwohl … eigentlich doch.

Es war zum verrückt werden!

Manchmal hatte ich den Hauch einer Hoffnung, dass sich meine Mutter ändern würde. Dass sie anfangen würde, sich um mich zu kümmern und sich für mich zu interessieren.

Nach diesem Gespräch war mir mal wieder klargeworden, dass dies ein ewiger Traum bleiben würde.

Das Kissen landete wieder auf der Matratze und begrub mein Handy unter sich. Besser so! Für heute hatte ich genug von all dem Scheiß.

Ich streckte die Beine aus, stand auf und lief zum Spiegel, der neben Camys Schreibtisch hing.

Ich sah genauso aus, wie ich mich fühlte. Blass und eingeschüchtert. Die Haare standen wirr in alle Richtungen ab, nur mein Pony klebte mir in der Stirn.

Mit den Fingern bändigte ich das Chaos, das auf meinem Kopf herrschte, so gut es ging. Letztendlich fasste ich meine Haare zu einem hohen Dutt zusammen und kniff mir danach in die Wangen, um wieder etwas Farbe in mein Gesicht zu zaubern. Immer noch schrecklich, aber zumindest sah ich nicht mehr aus wie Gargamel.

Nachdem ich wieder tageslichttauglich war, schnappte ich mir mein Portemonnaie und verließ das Zimmer.

Jetzt brauchte ich wirklich ein riesiges Stück Pizza. Und Schokolade. Tonnen von Schokolade …

Dark Addiction

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