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Kapitel 8 War nett mit dir, Sweetie

Nach Camys kleiner, emotionalen Entgleisung verlief der Abend erstaunlich gut. Wir hatten uns lange unterhalten, viel zu viele Süßigkeiten verdrückt und waren erst in den frühen Morgenstunden mit Bauchschmerzen eingeschlafen. Diese kamen nicht nur von den ganzen ungesunden Snacks, sondern auch von den unzähligen Lachanfällen, die wir beide gehabt hatten.

Wie sich herausstellte, teilten wir uns denselben verkorksten Humor. Nachdem wir herausgefunden hatten, dass wir beide darauf standen, die großen Blockbuster neu zu synchronisieren, hatten wir uns Mad Max: Fury Road angemacht und losgelegt. In meinem Leben hatte ich selten so einen Spaß gehabt wie letzte Nacht.

Doch die nächtliche Lachorgie rächte sich jetzt.

Müde und mit einem tierischen Muskelkater im Bauch lag ich auf einer Picknickdecke mitten auf dem Fußballplatz des Campus. Ich vervollständigte soeben meine Liste mit Orientierungskursen, für die ich mich morgen einschreiben wollte.

Ganz oben stand jetzt der Einführungskurs für Psychologie. Dieser reizte mich und ich hoffte inständig, noch einen Platz dafür ergattern zu können.

Camy hingegen trainierte bereits seit einer Stunde. Immer wieder raste sie mit dem Ball an mir vorbei und schoss auf das Tor, das in etlicher Entfernung von mir stand. Wie sie es schaffte, trotz der durchzechten Nacht hier zu stehen und in Höchstform zu trainieren, war mir ein Rätsel. Dazu sah sie auch noch aus, als wäre sie frisch aus einem Wellness-Spa gekommen. Man sah nicht einmal Augenringe bei ihr.

Ich dagegen sah wie ein Beißer aus The Walking Dead aus und genauso fühlte ich mich auch. Stöhnend kullerte ich mich auf den Rücken und stopfte mir den Rucksack unter den Kopf, um bequemer liegen zu können. Zum Schutz vor der hellen Sonne setzte ich die Sonnenbrille auf und ging ein letztes Mal meine Liste durch.

Elf Orientierungskurse hatte ich mir ausgesucht. Geordnet vom Interessantesten bis zur notgedrungenen Ausweichmöglichkeit.

Ein dumpfes Geräusch, das erklang, nachdem Camy gegen den Ball geschossen hatte, hörte sich ziemlich nah an. Schnell nahm ich die Liste runter und drehte den Kopf. Leider zu spät. Der Ball knallte gegen meinen Oberschenkel und brachte mich zum Schreien.

Sofort eilte Camy auf mich zu. »Tut mir leid, ist alles in Ordnung?«

Dieser Treffer hatte gesessen. Ich biss mir auf die Unterlippe und atmete gegen den Schmerz an, der durch mein Bein zuckte. Unfähig zu reden, nickte ich bloß und schluckte die Tränen runter, die mir in die Augen geschossen waren.

»Wird schon wieder«, gab ich erstickt von mir und war mir nicht sicher, ob es stimmte. Die Stelle brannte wie Feuer. In meiner Erinnerung tat es nicht so höllisch weh, einen Fußball ans Bein zubekommen. Scheinbar konnte Camys Fuß den Ball auf Überschall beschleunigen, damit er auch ja großen Schaden anrichtete. Bei mir hatte er das auf jeden Fall.

Hektisch kramte Camy in ihrer Tasche herum und drückte mir gleich darauf etwas Kaltes auf die nackte Haut. Aus Reflex zuckte ich zurück.

»Halt still, das ist eine Kühlkompresse. Gleich sollte es aufhören.«

Trotz, dass ich mein Bein zurückziehen wollte, hielt ich still. In der Tat ebbte der Schmerz langsam ab und nur ein erträgliches Pochen blieb zurück.

»Ich wollte dich nicht treffen. Der Ball sollte nur knapp an dir vorbeigehen«, sagte sie leise.

»Und wieso sollte er das?« Ich klang aufgebracht und wütend, was mir zwar ein wenig leidtat, aber verdammt, das hatte echt wehgetan.

»Ich dachte du schläfst und wollte dich wecken.«

»Na vielen Dank auch!« Aber Camy hörte mir schon nicht mehr zur. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt dem SUV, der gegenüber vom Sportplatz einparkte. Derselbe SUV, der mir am Freitag fast über die Füße gefahren wäre. Ich erkannte ihn sofort wieder. Die getönten Scheiben, der anthrazitfarbene Metalliclack. Ja, das war eindeutig der Wagen, der am Freitag an mir vorbeigerast war.

Bei dessen Anblick erinnerte ich mich auch wieder an das Tattoo und das Bild, das Camys Bruder gestern geschickt hatte. In diesem Wagen befanden sich Clayton und seine Kumpel. Darunter zweifelsfrei auch Tobias.

Jetzt war es also so weit …

Showtime!

Die Kühlkompresse flog auf die Decke. Während ich mich hinsetzte, mein Top glattstrich und meine kurze Short soweit nach unten zog, dass der dicke rote Flatschen auf meinem Oberschenkel darunter verschwand, hüpfte Camy auf die Beine und stemmte die Arme in die Hüften.

Mein Herz hämmerte bis zum Anschlag. Auf einmal war ich tierisch nervös. Ich mochte fremde Menschen nicht sonderlich, sie schüchterten mich ein. Denn bei neuen Begegnungen schwirrten mir ständig Gedanken durch den Kopf, was sie wohl von mir denken könnten. Lernte ich neue Jungs kennen, war es sogar noch schlimmer.

Womöglich würde es dieses Mal nicht ganz so schlimm werden …

Die Autotüren schwangen auf, vier Typen stiegen aus, anschließend flogen die Türen wieder zu und sie setzten sich in Bewegung.

Direkt auf uns zu.

Camy baute sich vor mir auf und verdeckte mir die Sicht. Das gab mir kurz die Gelegenheit, die Sonnenbrille hochzuschieben und meine Haare zu richten.

Das Lachen der vier wurde lauter. Camy lief ihnen wutschnaubend entgegen. Kurz bevor sie die Gruppe erreichte, hoben zwei der vier die Hand und verdrückten sich postwendend. Nur Clayton und der blonde Schönling blieben zurück. Als ahnten sie schon, dass Camy gleich ausrasten würde, klopfte Tobias seinem Freund mitfühlend auf die Schulter, bevor er sich an der heranstiefelnden Camy vorbeidrückte. Clayton hingegen fuhr sich durch die Haare, warf die Hände in die Luft und setzte ein unschuldiges, schiefes Lächeln auf.

Das war das Letzte, was ich von den beiden sah, denn Camy hatte ihren Bruder erreicht, packte ihn am Arm und zog ihn hinter einen Baum.

Jetzt war da nur noch Tobias, der lässig mit den Händen in den Taschen auf mich zu schlenderte und ein Lied pfiff. Nicht irgendein Lied, sondern Sweet Dreams. Mein absolutes Lieblingslied.

Oh mein Gott!

Mein Stresspegel schoss in Raketentempo durch die Decke und gefühlt stand ich kurz vorm Herzinfarkt. Als hätten kleine Aliens die Steuerung übernommen, spielte mein Gehirn verrückt. Scheinbar hatten die Eindringlinge große Freude damit, sämtliche Bedienelemente meiner Körperfunktionen auszuprobieren, denn neben einem unkontrollierten Schweißausbruch wurde ich jetzt auch noch von einer Zitterattacke heimgesucht, die meine Hände befiehl. Um dies zu vertuschen, stopfte ich sie mir schnell unter den Hintern und starrte statt Tobias den SUV an.

Schon besser.

Doch leider reichte die Zeit nicht, denn schon stand er direkt vor mir und verdeckte die Sonne.

Er ging in die Knie und streckte mir mit einem Lächeln, die Hand entgegen. »Hey, ich bin Tobias. Und wer bist du?«

Wie eine Irre gaffte ich ihm direkt ins Gesicht, unfähig mich zu rühren.

Mit einem leisen Kichern ließ er die Hand fallen, anschließend hockte er sich vor mich.

Scheiße! Konzentrier dich! Er hat dich was gefragt.

»Evy«, krächzte ich heiser. Meine Stimme klang wie eine Quietschente. Erschrocken klappte ich den Mund wieder zu und räusperte mich. Tobias sah mich indes weiterhin mit diesem überheblichen Lächeln an. Seine linke Oberlippe war in die Höhe gezogen und zuckte amüsiert, während er erst mein Gesicht, dann meinen kompletten Körper musterte.

Prompt spürte ich, wie die Hitze meinen Hals hinauf wanderte und in meine Wangen schoss. Er bemerkte es, denn er zog eine Augenbraue nach oben. »Und was machst du hier? Ich habe dich hier noch nie gesehen. Du musst neu sein.«

»Bin ich. Ich schreibe mich morgen an der Uni ein. Camy hat mir solange einen Schlafplatz angeboten.«

Endlich klang meine Stimme wieder normal. Na ja, zumindest nicht mehr so abgehackt, wenn auch noch etwas zu hoch.

»Unsere nette, hilfsbereite Camy. Was wäre die Welt nur ohne sie.«

Eindeutig Ironie, nicht darauf eingehen!

Er seufzte, streckte die Beine aus und nahm zuletzt seine Sonnenbrille ab.

Mein Hals war wie zugeschnürt und meine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Plötzlich war mein gesamter Kopf leergefegt, denn seine stechend blauen Augen schauten mich direkt an. So als wartete er darauf, was ich als Nächstes machen würde.

Ich sollte irgendetwas sagen. Small Talk gehörte nur leider nicht zu meinen Stärken. Das in dem Hohlraum, indem eigentlich mein Hirn saß, nur noch heiße Luft waberte, war auch nicht von Nutzen.

Jetzt reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich selbst.

Unverzüglich senkte ich den Blick auf seine Lippen in der Hoffnung, so endlich meine Stimme wiederzufinden.

Leider half auch das nichts.

In Trance starrte ich auf seinen Mund und versuchte, meinen Denkapparat wieder zum Laufen zu bringen. Zu meinem Glück fingen seine Lippen erneut an sich zu bewegen, dadurch gelang es mir, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Nämlich seinen Fragen zuzuhören, um nicht wie eine desolate Verrückte rüberzukommen.

»Und woher kommst du?«

»Alabama«, antwortete ich stürmisch. Argh, am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt.

Tobias gab sich weiterhin selbstsicher. »Interessant!«

Ach ehrlich?

»Was ist mit dir? Woher kommst du?«, fragte ich in einem Anflug von Mut heraus. Die Maschinen in meinem Körper funktionierten endlich wieder, wenn auch ruckelig.

»Ich bin hier geboren und aufgewachsen.«

Das klang logisch. Er sah aus wie jemand, der viel Zeit in der Sonne und am Strand verbrachte. Tobias war groß, gebräunt und durchtrainiert. Zumindest sah das, was ich von seinem Körper sehen konnte, sportlich aus. Bestimmt war er ein Surfer. Für Football war er eine Spur zu schmächtig gebaut.

»Was studierst du?«, fragte ich weiter.

»Film und Mediendesign im dritten Semester.« Er neigte den Kopf zur Seite und ließ seine Augen über meine Beine wandern. Instinktiv fing ich an, an meiner Short zu zupfen. Die Hitze in meinen Wangen schwoll zu einem Feuer an.

»Bist du in einem Sportteam?« Erschrocken das ich so eine persönliche Frage wirklich gestellt hatte, biss ich mir auf die Zunge. Was war nur los mit mir?

Ein verbitterter Gesichtsausdruck huschte über sein Gesicht, verschwand aber schnell wieder. Bevor er antworten konnte, hörte ich eine Männerstimme rufen und er drehte sich um. Clayton war wieder hinter dem Baum aufgetaucht, erstaunlicherweise in einem Stück. Camy stand neben ihm. Er hatte brüderlich den Arm um ihren Nacken gelegt und hielt sie an sich gedrückt. Halbherzig wehrte sie sich.

Trotz der Entfernung sah ich, wie ihre Augen strahlten.

Offenbar hatte sie sich wirklich unnötig Sorgen gemacht. Clayton gab seiner Schwester einen Kuss auf den Scheitel und ließ sie los. Während sie zu mir zurückkam, winkte er Tobias zu sich. Unvermittelt stand er auf. »War nett mir dir, Sweetie.« Ein Augenzwinkern folgte dieser Bemerkung, schon drehte er sich um, lief zu seinem Kumpel und verschwand mit ihm.

Wieder konnte ich nur hinterher starren. Ich hatte mich benommen wie eine eingeschüchterte Gans.

So, so dämlich!

Mit der flachen Hand schlug ich mir vor die Stirn.

So verdammt dämlich!

Camy plumpste neben mich. »Du hattest recht, war falscher Alarm. Clay brütet nur eine Erkältung aus und schnieft sich halb zu Tode. Wollen wir zurück?«

Weiterhin benommen von der Begegnung mit der vermeintlichen Inkarnation des Bösen packte ich zusammen.

»Und«, sagte sie gedehnt. »Was hältst du von ihm?«

»Hmm?«

»Tobias? Ihr habt euch doch unterhalten.«

»Ach so! Ja, ähm, war ganz okay«, stammelte ich und schulterte meinen Rucksack.

Auf ihrer Stirn entstanden Falten, als sie die Augenbrauen zusammenzog. »Ganz okay? Er ist ein arroganter Schnösel der mehr knallt als eine Popcornmaschine voller Mais.« Sie unterstrich den letzten Satz mit einer eindeutigen Geste. »Was hat er denn zu dir gesagt?«

Verlegen strich ich mir über den Nacken. »Er wollte nur wissen, wie ich heiße und woher ich komme.« Ich stockte kurz. »Und er hat mich Sweetie genannt.«

»Sweetie? Wie kommt er denn auf diesen Spitznamen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Sie bedachte mich mit einem langen Blick, der mir unangenehm war. Ich wurde das Gefühl nicht los, das sie Informationen vor mir zurückhielt.

Wir setzten uns in Bewegung.

»Also, Sweetie, wollen wir uns noch einen Film anschauen?«, fragte Camy mit einem schnippischen Unterton.

»Nur, wenn ich ihn diesmal aussuchen darf.«

»Von mir aus. Solange es kein Trickfilm ist, bin ich dabei.«

»Ist gebongt.« Schließlich gelang mir wieder ein echtes Lachen. Die Anspannung der letzten Minuten fiel vollends von mir ab. Trotzdem geisterte seine Stimme weiter durch meinen Kopf.

War nett mir dir, Sweetie.

Dark Addiction

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