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Kapitel 13 Bitte lächeln!

Mit einem Mittags-Burrito in der Hand betrat ich den Kursraum. Ich war die Erste und hatte freie Platzwahl.

Anders als in den großen Hörsälen befanden sich hier Zweiertische. Fünf dieser Tische standen jeweils hintereinander zu je drei Reihen aufgebaut. Wie ich es mir bereits angewöhnt hatte, wählte ich einen Tisch ganz hinten.

Da mir die Mensa heute zu überlaufen gewesen war, hatte ich mich für einen Snack to Go entschieden. Ich stopfte mir den letzten Bissen in den Mund, bevor ich das Papier in meine Tasche stopfte. Noch immer saß ich alleine hier und das, obwohl der Kurs in fünf Minuten anfangen sollte. Hoffentlich war ich nicht die Einzige …

Ich holte mein Handy hervor und wollte soeben checken, ob es eine Änderung in der Kurszeit gegeben hatte, als ich lautes Gelächter hörte. Ich blickte auf.

Ein Paradiesvogel sondergleichen stolzierte durch die erste Reihe. Er trug eine grün-weiß gestreifte Polyester-Trainingsjacke mit lila abgesetzten Taschen und Ärmeln, die er ohne Zweifel den Achtzigern entwendet hatte. Dazu eine Lederhose mit Leopardenprint und neongrüne Plateauschuhe.

So etwas hatte ich noch nicht gesehen.

Ich wollte den Blick von ihm abwenden, konnte es aber nicht. Er war wie ein Autounfall. Der Anstand sagte mir, ich sollte nicht gaffen, doch ich tat es trotzdem.

Er telefonierte lautstark und gestikulierte dabei wild mit seinen Händen. Als er mich erblickte, winkte er mir zu, als würden wir uns schon ewig kennen.

Unfähig etwas dagegen zu unternehmen, wartete ich, bis er meinen Tisch erreichte und sich auf den freien Stuhl setzte. Während er weiter in sein Telefon raunzte, zählte ich die Kritzeleien auf der Wand neben mir.

»Cheerio, Tiffany. Küsschen, Küsschen.« Er legte auf und drehte sich in Zeitlupe zu mir um. Ich tat dasselbe, ohne eine Miene zu verziehen.

Er kräuselte die Nase und schenkte mir ein Lächeln. »Hallo, ich bin Joseph Sanclair und du bist?« Seinen Ellenbogen hatte er auf dem Tisch abgestützt und seine ausgestreckte flache Hand zeigte zu mir.

»Evy … Evelyn Pierce«, presste ich hervor.

»Es freut mich außerordentlich dich kennenzulernen. Ich bin entzückt.« Er ergriff meine Hand, die locker auf dem Tisch gelegen hatte, und schüttelte sie stürmisch.

»Dieser Tag war die reinste Katastrophe. Erst wurde ich auf der Busfahrt hierher beschimpft und anschließend haben mir zwei Vollidioten auf dem Gang ein Bein gestellt, sodass ich gestolpert und mit der Nase im Dreck gelandet bin. Ich meine, Hallo? Wo sind wir denn? Im Kindergarten?« Er verdrehte die Augen und schlug sich mit dem Handrücken auf die Stirn.

»Tut mir leid für dich.«

»Schon okay, war ja nicht deine Schuld.«

Ja, er war schrullig und ja, er sah etwas … speziell aus, aber das war kein Grund jemanden so zu behandeln. Wenn ich etwas nicht leiden konnte, dann war es Intoleranz. Ich musste nicht jeden Stil mögen, um ihn dennoch akzeptieren zu können.

Da ich aufrichtig Mitleid für Joseph empfand, wandte ich mich ihm zu und lächelte ihn an.

»Bei so einem bezaubernden Gesicht lässt sich der Morgen schnell vergessen. Also, Evy, studierst du ebenfalls moderne Kunst?« Eine seiner weißblonden Strähnen war ihm ins Gesicht gefallen, er blies sie nach oben und schenkte mir einen hinreißenden Augenaufschlag, der mein Lächeln breiter werden ließ. »Nicht direkt. Ich bin noch in der Findungsphase«, antwortete ich ehrlich.

»Das kenne ich. Hat bei mir auch lange gedauert, ehe ich herausgefunden habe, wer ich bin und wer ich sein möchte.«

Das glaubte ich ihm aufs Wort.

Pünktlich zur vollen Stunde trudelten die anderen ein und verteilten sich auf die Tischreihen vor und neben uns. Einige Sitzplätze blieben frei.

Diese Veranstaltung schien sich auf einen kleinen Teilnehmerkreis zu beschränken.

Mir war es recht.

Nur vom Dozenten fehlte weiterhin jede Spur. Ungeduldig schielte ich auf meine Uhr.

»Woher kommst du eigentlich? Du bist zu blass um die Nase, um aus Florida zu stammen.«

Ich kicherte. »Du bist schon der Zweite, der mir dieses Vergehen vorwirft.«

Ich erzählte Joseph in Kurzfassung etwas über mich, danach stellte er sich vor.

Auch er kam nicht aus Florida, sondern aus Los Angeles. Er war der Sohn einer Künstlerfamilie. Seine Mutter arbeitete als Bühnenbildnerin, sein Vater als Fotograf. Seine ältere Schwester studierte auf der Julliard und wollte nach ihrem Abschluss auf den Broadway. Er wohnte nicht in einer der Studentenwohnheime, sondern abseits vom Campus in einer Mietwohnung.

Mit einer Viertelstunde Verspätung wurde die Tür zum Kursraum erneut aufgestoßen. Die anderen Anwesenden registrierten nur beiläufig, wie der Dozent verschwitzt und abgehetzt in den Raum rannte und seine Tasche mit Schwung auf das Pult pfefferte. Joseph und ich hingegen beobachteten ihn ganz genau. Er hatte uns den Rücken zugedreht. Sein rotes Sportshirt war durchnässt und klebte ihm an der Haut. Während er ein Handtuch aus seiner Tasche zog und sich damit das Gesicht abtrocknete, hob und senkten sich seine Schultern heftig. Er musste hierher gesprintet sein, wenn er so außer Puste war. Einen Moment verweilte er in dieser Position, strich sich die Haare nach hinten, warf das Handtuch zurück auf das Pult und drehte sich um.

Mir entgleisten die Gesichtszüge.

Was zum Henker hatte er hier verloren?

Er hatte mich noch nicht bemerkt, zu sehr war er damit beschäftigt, seine Atmung zu kontrollieren. Mir wich das Blut aus dem Gesicht und sammelte sich schwer in meinen Füßen. Ein komisches Kribbeln machte sich in meinen Fingerspitzen breit. Wie sollte ich weiter die Unnahbare spielen, wenn wir auf engstem Raum hier zusammenarbeiten mussten? Wenn er dazu auch noch mein Dozent war und mir Anweisungen und Aufgaben geben würde?

Da ich nirgends eine Fluchtmöglichkeit entdeckte und es dafür ohnehin schon zu spät war, rutschte ich auf dem Stuhl tiefer nach unten und vergrub für einen Sekundenbruchteil den Kopf in meinen Händen.

Tobias ist nur irgendein Kerl, der dich hin und wieder nett grüßt. Kein Grund durchzudrehen.

Gebetsmühlenartig wiederholte ich diesen Satz einige Male in Gedanken.

Es half.

Mein Puls beruhigte sich und das Blut kehrte dorthin zurück, wo es hingehörte. Nachdem ich meine Schultern hatte kreisen lassen, um mich zu entspannen, ging es mir wieder gut.

Joseph neben mir stieß mich mit den Ellenbogen an und rückte zu mir auf. »Heilige Fahrradspeiche, hast du sein Gesicht gesehen? Es sieht aus wie eine Zuckerstange, die in Honig gefallen ist und anschließend in Puderzucker gewendet wurde. Zum Anbeißen.«

»Na ja, ich weiß nicht. Sieht ganz nett aus, aber ich finde du übertreibst«, antwortete ich neutral.

Ich blickte nur kurz auf, bevor ich anfing, auf meinem Block herumzukritzeln. Joseph hingegen schwärmte weiter. »Hach, was würde ich dafür geben, damit er mit seiner Zuckerstange mal in meinen Honig fällt.«

Mir brach die Bleistiftspitze, als ich das hörte. Durch die Bemerkung war ich vom Blatt abgerutscht und auf der Tischplatte gelandet.

Hatte er das gerade wirklich gesagt?

Als hätte er Josephs Worte gehört, schaute Tobias auf einmal in unsere Richtung. Ich konnte es nicht verhindern. Hitze schoss mir in die Wangen und ich wusste, ich glühte wie eine überreife Tomate in der Mittagssonne.

Tobias’ Augen weiteten sich kurz, als er mich entdeckte und er schüttelte leicht den Kopf. Das Stimmengemurmel des Kurses war verstummt, damit konnte Tobias endlich anfangen.

»Guten Morgen«, grummelte er. »Das achtwöchige Tutorium wird von mir betreut und mit einer Projektarbeit enden, die eurem Hauptstudium angerechnet wird.«

Tutorium?

Ich tippte Joseph an, der wie gebannt an Tobias’ Lippen hing. »Was ist das hier für ein Kurs?«

»Das erzählt er doch gerade. Pst, ich will nichts verpassen.«

Shit! Ich hatte mich offensichtlich im falschen Kurs eingeschrieben.

Während Tobias erzählte, überlegte ich, wie ich hier rauskommen konnte. Erst als Joseph mich direkt ansprach, hörte ich auf, mir Gedanken zu machen.

»Wollen wir eine Zweiergruppe bilden?«

»Zweiergruppe? Für was denn?«

Joseph deutete nach vorn. Tobias hatte damit begonnen, aus dem Schrank, der neben der Tafel stand, Kameras und diverses Equipment auszuteilen.

Vielleicht hätte ich doch lieber zuhören sollen.

Auf dem Tisch vor mir lag ein Aufgabenzettel. Selbst das hatte ich nicht mitbekommen. Schnell überflog ich die Überschrift des Zettels. Irgendetwas mit Gruppenarbeit und Porträtaufnahmen.

»Gerne. Ich hol die Ausrüstung«, sagte ich schnell und stand auf, damit Joseph mir nicht zuvorkommen konnte.

Ich reihte mich hinten ein und wartete, während Tobias leidenschaftslos das Fotozubehör austeilte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, ehe ich endlich an der Reihe war.

»Hey«, sagte ich freundlich und hoffte, er würde mir meine Verlegenheit nicht anmerken.

Der gleichgültige Ausdruck verschwand aus seinen blauen Augen. »Hallo, Sweetie. Was für eine nette Überraschung, dich hier zu sehen.«

»Das kann ich nur zurückgeben. Danke« Ich nahm ihm Kamera und Stativ ab, als er mir alles hinhielt.

»Jetzt wird der Kurs doch nicht so langweilig, wie ich angenommen hatte.« Er schloss den Schrank, danach lehnte er sich dagegen. Er wirkte belustigt. Worüber er sich jedoch freute, konnte ich nicht beurteilen.

»Ich geh dann mal auf meinen Platz zurück.«

»Mach das. Ach und Sweetie, immer schön Lächeln.« Sein Mundwinkel zuckte. Steif lief ich zurück und setze mich wieder. Joseph beäugte mich kritisch.

»Kennst du ihn etwa?«

»Kann man so sagen.«

*

Nachdem Tobias den Kurs für beendet erklärt hatte, packte ich im Eiltempo zusammen und stürmte aus dem Raum. Auf dem Gang holte Joseph mich ein. »Hey, hast du am Samstag schon etwas vor? Da steigt am Strand die Erstsemesterparty und weil ich noch niemanden kenne, wollte ich fragen, ob du mit mir hingehst?«

»Ich weiß nicht so recht…« Partys waren nicht so mein Ding.

»Bitte! Das könnte lustig werden.« Als würde er beten, presste er die Handflächen aneinander und schaute mich mit Dackelblick an. »Bitte!«

»Ich habe nichts anzuziehen.« Das war nicht einmal gelogen. Meine Garderobe sah ziemlich eintönig aus. Nur Shorts und unifarbene Shirts. Nichts, was partytauglich war.

Joseph zog die Augenbrauen hoch und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Das ist keine Ausrede. Dann gehen wir eben shoppen.«

Da wir im Weg standen und den Verkehr aufhielten, liefen wir nach draußen. Auf dem Gehweg fing Joseph erneut an, mich zu bequatschen. »Komm schon, gib dir einen Ruck. Wie sieht es denn aus, wenn ich alleine auf der Party auftauche?«

Den ganzen Weg zurück zum Vaughn redete er auf mich ein. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen und willigte ein.

»Oh, das wird spitze. Du wirst es nicht bereuen.«

Und wie ich das bereuen würde …

Wir tauschten unsere Nummern und verabredeten uns für morgen zum Shoppen. Da ich nicht gewillt war, mich auf Josephs Modegeschmack zu verlassen, lud ich Camy gleich mit ein. Vielleicht bewahrte mich ihre Anwesenheit davor, im knallroten Lackkleid auf die Party gehen zu müssen. Wenn Josephs Kleiderschrank nur aus solchen Outfits bestand, wie dem, was er heute getragen hatte, war meine Befürchtung nämlich nicht ganz unbegründet.

Dark Addiction

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