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Das System Mubarak

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Seit 1981 regierte Husni Mubarak dieses Ägypten – ganz offiziell und ohne Unterbrechung im »Ausnahmezustand«. Seine Polizei foltert. Menschen verschwinden in den Gefängnissen, werden ermordet. Das Land ist runtergewirtschaftet durch Korruption und Inkompetenz. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, ebenso die Inflation. Jeder Ruf nach Reform wird sofort zum Verstummen gebracht. Wer Institutionen wie das Scheinparlament oder die Regierung infrage stellt, gilt bereits als Landesverräter. Polizei und Geheimdienste unterdrücken jede Opposition, verbreiten Angst und Schrecken. Das Land ist erstarrt, die Menschen sind gelähmt. Außerdem verlangt der Internationale Währungsfonds für neue Kredite eine immer rigidere Sparpolitik, die in erster Linie jene Ägypter trifft, die ohnehin um ihr täglich Brot kämpfen müssen. Auf der Skala des »Human Development Index« der UNO lag Ägypten 2003 auf dem 119. Platz von 177 Ländern. In Tunesien und Algerien genossen die Menschen einen höheren Lebensstandard. Selbst im besetzten und häufig abgeriegelten Westjordanland ging es diesem Index zufolge den Menschen damals besser als den Ägyptern.

All das schien das Herrschaftssystem der Familie Mubarak nicht zu stören. Wer ihre Gunst gewonnen hatte, lebte in einer Blase, in der Intrigen- und Machtspiele sowie Bereicherung wichtiger waren als politische Programme zum Wohl des Landes.

Ein Beispiel: Der Stahlbaron Ahmed Ezz, Mubarak-Vertrauter und enger Freund von dessen Sohn Gamal, kontrollierte 2008 rund 47 Prozent der Stahlproduktion und 75 Prozent des lokalen Stahlmarktes Ägyptens. Als Generalsekretär der Staatspartei NDP und Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Parlament steuerte er die Wirtschaftspolitik des Landes. In dieser Doppelrolle verhinderte er Kartellgesetze, die seinen Geschäften hätten gefährlich werden können, und manipulierte den Wettbewerb auf dem ägyptischen Stahlmarkt durch Importverbote von billigem Stahl aus dem Ausland, um so seine eigene teurere Produktion zu schützen. Erst der Rücktritt seines Freundes Mubarak machte diesem Treiben ein Ende, das in der ägyptischen Öffentlichkeit schon lange bekannt war.

Auch in einem 274 Seiten dicken Bericht über Korruption in Ägypten, den Kifaja 2006 veröffentlichte, war Ahmed Ezz prominent vertreten. Laut diesem Bericht gab es damals so gut wie keinen korruptionsfreien Bereich im öffentlichen Leben. Egal ob im Gesundheitswesen, in der Landwirtschaft, in der Industrie, im Energiewesen oder in den Antikenbehörden, überall versuchten die Verantwortlichen so viel Geld wie möglich abzuschöpfen auf Kosten der Bürger. Zu den gängigen Methoden gehörten Kapitalflucht ins Ausland, Nepotismus und Vorteilsnahme. Es gab den Vorwurf, der Generalsekretär der Regierungspartei und seine Söhne hätten bei einem Prostituiertenring abkassiert. Andere hohe Regierungsbeamte sollen am Drogenschmuggel beteiligt gewesen sein. Aufgedeckt wurde der Einsatz von verbotenen, weil krebserregenden Pestiziden in der Landwirtschaft. Auch Mubaraks Ehefrau und seine beiden Söhne wurden in dem Bericht der Bestechlichkeit, Veruntreuung und Unterschlagung beschuldigt.

Sohn Gamal, von Beruf Investmentbanker, hatte sich mit einer Kamarilla einflussreicher Geschäftsleute umgeben, die alle hofften, durch ihn noch reicher zu werden. Gamal Mubarak und sie waren es, die die Privatisierung der Staatswirtschaft vorantrieben, wobei sie sich die Filetstücke der Staatsbetriebe unter den Nagel rissen. Oft lag der Immobilienwert der Grundstücke dieser Staatsfirmen weit über dem Verkaufswert der Fabrik, den der Käufer bezahlt hatte. Spätestens ab 2010 war den meisten Ägyptern klar, dass Gamal Mubarak der Nachfolger des Dauerdespoten werden sollte. Auch das Militär beobachtet diese Entwicklung misstrauisch. Sohn Gamal an der Spitze des Staates hätte die Macht und den Einfluss des Militärs erheblich geschmälert.

Seit 1952 war es das Militär gewesen, das den Präsidenten stellte. Daran zu rütteln kam in ihren Augen Hochverrat gleich und konnte von den Generälen nicht hingenommen werden. Denn die hohen Offiziere Ägyptens sind mehr als nur tapfere Landesverteidiger, die bislang zwar jeden Krieg verloren, sich aber als eine feste Größe in Politik und Wirtschaft eingerichtet haben – ein von niemandem kontrollierter Staat im Staat. Außer Generalstabsplaner sind sie gewiefte Geschäftsleute und Fabrikbesitzer mit einer breit gestreuten Produktpalette. Sie produzieren Lebensmittel, Olivenöl, Milch, Brot: Für Ägypter wichtige Grundnahrungsmittel, für die Militärs ein lukratives Geschäft. Außerdem gehören Tankstellen und Hotelketten zum Wirtschaftsimperium der Manager in Uniform. Die Zementproduktion des Landes kontrollieren sie fast vollständig. Kein Gebäude, keine Brücke, keine Befestigungsanlage, an denen sie nicht ordentlich mitverdienen. Zwischen 20 und 40 Prozent des ägyptischen Bruttosozialprodukts soll in solchen Militärunternehmen erwirtschaftet werden. So genau weiß das niemand. Aber an dieser Macht zu rühren, hatte bislang noch kein Politiker gewagt. All dies könnte auf dem Spiel stehen, sollte der Zivilist Gamal Mubarak neuer Präsident werden. Daher war die Rebellion auf dem Platz im Januar 2011 auch so etwas wie ein Geschenk für die Generäle.

Nach dem Rücktritt Mubaraks ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen Sohn Gamal und die meisten seiner Freunde wegen Korruption. Sie landeten entweder im Gefängnis wie Ahmed Ezz und die Mubarak-Söhne einschließlich ihres Vaters, oder sie flohen ins Ausland, wohin sie schon früher einen großen Teil ihres erschlichenen Vermögens transferiert hatten. Nach der Revolution 2011 haben Finanzbehörden der Schweiz dem Mubarak-Clan gehörende Konten im Gesamtwert von 700 Millionen Dollar ermittelt und eingefroren. Ahmed Ezz konnte sich 2014 für eine Kaution von 10 Millionen Euro freikaufen. Arm ist er dadurch vermutlich nicht geworden. Vater Mubarak durfte schließlich 2016 seine Zelle gegen ein Zimmer seiner Luxusvilla im vornehmen Kairoer Stadtteil Heliopolis eintauschen. Das Gericht sprach ihn frei. Seine beiden Söhne waren schon 2015 freigekommen. Von ihrem unterschlagenen und ins Ausland verschobenen Vermögen, das von einigen Experten auf insgesamt 10 Milliarden Dollar, von anderen auf fast 70 Milliarden geschätzt wird, ist in Ägypten nur ein Bruchteil aufgetaucht.

Auch Mutter Suzanna spielte im System Mubarak eine wichtige Rolle. Um sich die Gunst der First Lady Ägyptens zu sichern, buckelten selbst Minister vor ihr, und dies mitunter in aller Öffentlichkeit. Zum Beispiel die Ministerin für Arbeit und Migration auf einem Regierungsempfang. In einem vom ägyptischen Fernsehen aufgenommenen und später auf YouTube veröffentlichten Film sieht man die Ministerin unter hochrangigen Staatsdienern in schwarzen Anzügen in einem Festsaal. Sie redet auf die gerade angekommene Suzanna Mubarak ein, die ihr höflich lächelnd zuhört, aber nicht weiter interessiert zu sein scheint. Plötzlich greift die Ministerin die linke Hand der Präsidentengattin, zieht sie an sich und küsst sie. Suzanna Mubarak lächelt etwas gequält, lässt es aber über sich ergehen. Keiner der Anzugträger nimmt Notiz von dieser kleinen Szene.

Der Schriftsteller Ala al-Aswani hat in einem Essay erklärt, warum derartige Unterwürfigkeitsgesten normal waren in Mubaraks Ägypten:

»Aischa Abdel Hadi hatte sich nie träumen lassen, dass sie einmal Ministerin wird … Sie hat begriffen, dass sie nicht ernannt wurde wegen ihrer Kompetenz, sondern weil sie dem Präsidenten und seiner Familie genehm war, und um diese Gunst nicht zu verlieren, war sie zu allem bereit, sogar in aller Öffentlichkeit die Hand des Präsidenten, die seiner Gattin oder seiner Söhne zu küssen.« Aswani schließt seinen 2009, also noch zu Mubaraks Zeiten, geschriebenen, aber erst 2011 veröffentlichten Text mit der Frage: »Kann man von Aischa Abdel Hadi tatsächlich erwarten, dass sie die Würde und die Rechte der Ägypter verteidigt?« Eine Antwort erübrigt sich.

Wie die meisten arabischen Länder verfügt auch Ägypten über Institutionen, mit denen sich ein kompromisslos diktatorisches Regime einen demokratischen Anstrich verpasst – ein Parlament zum Beispiel, Wahlen oder eine angeblich unabhängige Justiz. Der jährlich von der UNO herausgegebene Arab Human Development Report von 2004 beschreibt diese schizophrene Situation: »Solche Institutionen sind der Exekutivgewalt unterworfen, sind Teil des Regierungsapparates, sie dienen also nicht zum Schutz der Freiheiten der Bürger.« Ein solches System schaffe »Parlamentarier, die vor der Regierung einen Diener machen, statt deren Arbeit zu überwachen; NGOs, die im Auftrag der korrupten Regierung arbeiten; Medien, die Regierungspropaganda verbreiten, also nichts mehr sind als das Sprachrohr der Herrschenden.«

In der Machtpyramide des Landes nahm der »Pharao«, wie die Ägypter Mubarak heimlich nannten, den obersten Platz ein, zusammen mit seinem Sohn Gamal und dessen korrupten Freunden, gefolgt vom Militär und den Geheimdiensten als den Wächtern und Garanten dieses Systems. Niemand durfte es infrage stellen. Dafür sorgten Polizei und verschiedene Staatsschutzdienste, die ihre Spitzel selbst in den Teehäusern platziert hatten. Offene Diskussionen waren nicht möglich, wussten die Teehausbesucher doch nie, wer Freund war und wer Feind. Die »Nationaldemokratische Partei« (NDP), die Staatspartei, hatte die Aufgabe, für Mehrheiten im Scheinparlament zu sorgen. An den Spitzen der 27 Gouvernements standen ohnehin Mubarak-treue Generäle. Auch von der Justiz konnten die Ägypter keine Hilfe erwarten. Die meisten Richter waren genauso käuflich und abhängig wie alle anderen Beamten auch.

Bleischwer lag dieses System auf dem Land und lähmte es bis zum Stillstand. Und genau aus diesem Grund hatte 2004 die Ramadan-Runde um George Ischak verkündet: Kifaja! Es reicht!

»Wir haben damals in allen Gouvernements Demonstrationen angezettelt«, erzählt Ischak mir im Interconti-Hotel, und seine Augen leuchten, auch jetzt noch, fünfzehn Jahre danach. »Immer vor dem Dienstsitz des Gouverneurs. Für eine Stunde mit Parolen wie ›Mubarak, du bist ein Dieb‹. Dann verschwanden wir wieder.« Schneller als die Polizei vor Ort sein konnte. Das war die Idee, und sie funktionierte. Immer mehr Menschen schlossen sich der Bewegung an.

In jenem Jahr kündigte Mubarak an, sich im kommenden Jahr, 2005, wieder zum Präsidenten wählen lassen zu wollen, wieder mit einem von der Staatspartei NDP dominierten Parlament. Die Väter von Kifaja wussten, was auf das Land zukommen würde – Wahlfälschungen wie bei den Abstimmungen zuvor, gekaufte Stimmen, Schlägertrupps gegen Oppositionskandidaten, Behinderungen im Wahlkampf, Manipulationen der Wahlurnen und der Auszählungsergebnisse. Und all das würden die Staatszeitungen dann als eine freie, demokratische Wahl verkaufen.

Immerhin machte das Ausland Druck: »Bitte etwa mehr Demokratie«, war aus Washington und Brüssel an Mubarak herangetragen worden. Dem obersten Ägypter blieb gar nichts anderes übrig, als sich den Wünschen zu fügen, schließlich sind die USA ein äußerst wichtiger Geldgeber. Doch Mubarak war schlau genug, die USA zufriedenzustellen, ohne seine Macht ernsthaft zu beschneiden. Er sorgte dafür, dass die Hürden für eine Wahlzulassung so hoch gelegt wurden, dass am Ende neben der traditionell zugelassenen »Wafd«-Partei nur wenige Parteien und Kandidaten antreten konnten. Protest gegen diesen schlecht getarnten Wahlbetrug war aus Washington nicht zu vernehmen.

Immerhin zehn Kandidaten durften gegen Mubarak antreten. Eine dieser Alibiparteien war »Al-Ghad« (Der Morgen) mit dem Spitzenkandidaten Aiman Nur. Ihr Wahlergebnis war mit 7,4 Prozent der Wählerstimmen kümmerlich, allerdings bei einer Wahlbeteiligung von gerade einmal 23 Prozent. Doch selbst dieses magere Ergebnis war den Sicherheitsbehörden bereits zu viel. Sie ließen den Parteichef verhaften und vor Gericht stellen. Wegen angeblicher Urkundenfälschung wurde er zu vier Jahren Gefängnis verurteilt – tatsächlich aber, weil er es gewagt hatte, eine neue Verfassung zu fordern. In Sachen Willkür und Repression war alles beim Alten geblieben in Ägypten.

Eines allerdings überraschte auch die Mubarak-Gegner. Die als unabhängige Kandidaten angetretenen Muslimbrüder errangen auf einen Schlag 88 der 442 Sitze und wurden damit zwar stärkste Oppositionskraft im von der Staatspartei kontrollierten Parlament. Doch mit der Kifaja-Bewegung wollten die Brüder nichts zu tun haben.

»Die Muslimbrüder waren Opportunisten ohne Rücksicht auf andere Oppositionelle. Wenn während einer Demonstration ›Nieder mit Mubarak‹ gerufen wurde, verschwanden die plötzlich«, erinnert sich George Ischak.

Faire Wahlen, keine Korruption und ein Parlament, das die Regierung wirklich kontrolliert – diesen Kifaja-Forderungen schlossen sich im Frühjahr 2005 immerhin mehrere Richtervereinigungen an. Mutig verlangten sie eine Garantie uneingeschränkter Unabhängigkeit. Doch anders als sechs Jahre später stießen sich 2005 die Aktivisten von Kifaja die Stirn blutig an den Betonmauern des Regimes.

Die Erben der Revolution

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