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Kaisers Geburtstag (22. März/27. Januar)

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Waren in den Fürstentümern traditionell die Geburtstage der Landesherren arbeitsfreie Feiertage, so galt dies ab 1871 überwiegend im ganzen Reich auch für den Geburtstag des Kaisers. Kaiser Wilhelm I. war am 22. März 1797 geboren, folglich wurde zwischen 1871 und 1887 (Wilhelm verstarb am 9. März 1888) der 22. März als nationaler Feiertag begangen. Der Ablauf des Tages entsprach weitgehend der Reichsgründungsfeier: Prachtvolle Paraden und Festbanketts fanden statt, die Städte waren beflaggt, die Presse informierte ausführlich mit Sonderberichten. Während sich die Schulkinder über den ausgefallenen Unterricht freuten, lud der Kaiser die Hofgesellschaft zu einem festlichen Abendessen, worüber die Zeitungen berichteten. Zum Geburtstag selbst huldigten sie dem höchsten Repräsentanten des Staates. Zwar gab es keine Zensur mehr, doch das Strafgesetzbuch sah den Paragraphen der Majestätsbeleidigung vor, folglich glichen solche Berichte in der Regel einer Lobhudelei. Zum 85. Geburtstag Wilhelm I. hieß es im Berliner Tageblatt:11

Wenn Kaiser Wilhelm an seinem Ehrentage Umschau und Rückschau hält, so darf die Brust ihm schwellen vor innerer Genugtuung nicht bloß über das, was er nach außen für Staat und Volk kraftvoll erreicht, sondern auch über das Verhältnis, das sein milder Sinn zwischen Volk und Fürst in so seltener Weise ins Leben zu rufen wusste. Von den Tagen des herben öffentlichen Unglücks, wie sie einst die Zeitgenossen der Königin Luise erlebt, sind wir alle unter dem milden Zepter dieses begnadeten Regenten verschont geblieben … wenn auch oft genug der schwere Ernst des modernen Lebens in mannigfaltiger Gestaltung an uns alle gemeinsam herantrat. Aber in diesen Momenten, da wir trüben Zeiten entgegen zu gehen meinten, verleugnete sich niemals die innige Zusammengehörigkeit der Nation mit ihrem Herrscher, und das ist das schönste Blatt im strahlenden Ruhmeskranz unseres Kaisers, dass er das Band der Liebe und Verehrung, welches Thron und Volk vereint, enger und enger zu knüpfen wusste, dass er es verstand, ganz im Sinne seiner unvergesslichen Mutter sich in den Herzen der Staatsbürger eine bleibende Stätte dankbarer Erinnerung und anteilvoller Verehrung zu errichten…Kaiser Wilhelm lebt mit seinem Volk und für sein Volk – das ist die ruhevolle Gewissheit, die uns mit froher Zuversicht für alle Zeit erfüllt, und die uns die ehrfurchtsvollsten, aber auch herzlichsten Wünsche eingibt für das Wohlergehen des Hochbetagten… so wollen wir Lebenden, die Zeitgenossen des frommen Helden, aus voller Brust ausrufen: Gott erhalte, Gott beschütze unsern Kaiser!


Abbildung 6 Über die Wormser Zeitung wurde die Bevölkerung zu Feiern anlässlich des 85. Geburtstages von Kaiser Wilhelm eingeladen.

Auch fernab der Hauptstadt wurde Wilhelms Geburtstag gefeiert, so etwa im 600 Kilometer entfernten Worms, wo es gleich mehrere Veranstaltungen national-liberal gesinnter Gruppen gab. Tage vor dem 22. März wurde die Bevölkerung über die Wormser Zeitung aufgerufen:12

Einladung

Mittwoch, den 22. März 1882, nachmittags 4 Uhr, findet in dem großen Saale des Casino´s zur Feier des Allerhöchsten Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers ein Fest-Mahl statt …

Einladung

Zur Feier von Kaisers Geburtstag.

Um der unsere Vaterstadt beseelenden Liebe und Treue gegen unseren verehrten Kaiser Wilhelm einen Ausdruck zu verleihen, werden hiermit alle zu Kaiser und Reich stehenden Bewohner von Worms, ohne Unterschied der Parteistellung, eingeladen, zu einer am Vorband des Kaiserlichen Geburtstages Dienstag, den 21. März 1882, Abends 8 Uhr, in den Sälen von Worret´s Etablissement stattfindenden festlichen Versammlung.

Trinksprüche und Reden in dieser Versammlung müssen vorher zur Erteilung des Wortes dem Vorsitzenden angemeldet werden.

Unsere Mitbürger sind gebeten, am 22. März die Häuser durch Flaggen zu schmücken …

Nach den Feierlichkeiten berichtete die Zeitung ausführlich über die Veranstaltungen, zitierte die unterschiedlichen Ansprachen der Honoratioren, zu denen auch Mitglieder des Stadtvorstandes und des hessischen Landtags gehörten und ließ Wilhelm als die „greise Heldengestalt“ hochleben:13

Die Feier des kaiserlichen Geburtstages hat sich in unserer Stadt, ähnlich wie der Gedenktag von Sedan, zu einem allgemeinen Festtage ausgebildet, an welchem alle Stände und Kreise freudig Anteil nehmen. So hatte sich auch gestern wieder, am Vorabende desselben, in Worrets Sälen eine zahlreiche, festlich gestimmte Versammlung eingefunden, um ihrer Liebe und Verehrung für den ehrwürdigen Heldengreis, sowie ihrem Dank dafür und ihrer Freude darüber, dass es dem geliebten Monarchen abermals vergönnt ist, ein neues Lebensjahr in ungetrübter Gesundheit anzutreten und seines hohen Amtes mit voller Rüstigkeit auch fernerhin zu walten, öffentlich Ausdruck zu geben.

Gedichte von eher minderer Qualität und ohne Angabe eines Verfassers lockerten die Berichte auf:

Zum Geburtstage unseres Kaisers am 22. März 1882

Was rauscht durch den deutschen Eichenwald,

Was tönt durch Fluren und Auen,

Was ist´s, was hell durch die Berge schallt,

hinab in die sonnigen Gauen?

Des Berges Echo tut mir´s kund,

Es ist der Ruf aus deutschem Mund:

Dem Kaiser Heil!

Ihm jauchzt es zu von fern und nah,

Dem Greis im silbernen Haare!

Wie fest und kraftvoll steht er da

Trotz lastender Bürde der Jahre!

Wie führt er noch mit sicherer Hand

Das deutsche Volk, das deutsche Land –

Dem Kaiser Heil!

Wer blickt begnadet wie er zurück

Auf solch gesegnetes Leben?

Des Reiches Wohl und Volkes Glück,

Das ist sein Trachten und Streben,

Das ist sein Wirken früh und spät

Sein brünstig´ und sein heiß´ Gebet!

Dem Kaiser Heil!

Und soll ich aus seiner Krone Euch

Die edelsten Perlen nennen,

So köstlich schimmernd und so reich,

Wer sollte sie wohl nicht kennen?

Die Weisheit ist´s, die Gerechtigkeit,

Gepaart mit ernster Frömmigkeit!

Dem Kaiser Heil!

Dem Kaiser Heil! Es erhalt´ ihn Gott

Noch lange den deutschen Landen,

An die er so fest in Glück und Not

Geknüpft mit den heiligsten Banden!

Erhalt´ ihn Gott dem Volke sein!

Ihr Deutschen, stimmet betend ein:

Dem Kaiser Heil!

Eine vergleichbare „Huldigung“ erlebten wenige Jahre später Otto von Bismarck und Anfang des 20. Jahrhunderts Ferdinand Graf Zeppelin. In vielen evangelischen Gemeinden fanden Festgottesdienste anlässlich des besonderen Geburtstages statt. Sogar Pfarrer Philipp Jakob Fehr, Propst am (katholischen) Dom zu Worms, hatte, um sein „patriotisches Verhalten“ unter Beweis zu stellen, die Gemeinde zu einem Gottesdienst am 22. März 1882 eingeladen.

Groß inszeniert wurde Wilhelms 90. Geburtstag im Jahr 1887. Die Theater in der Hauptstadt brachten bereits Tage vorher Festvorstellungen, Gesangsvereine boten Sonderkonzerte, Beförderungen im Militär und innerhalb der Verwaltung fanden statt, der Reichskanzler gab ein „Diner für die hier beglaubigten Botschafter, Gesandten und sonstigen Chefs fremder Missionen“, der Präsident der Handelskammer brachte an der Börse ein „Hoch auf den Kaiser“ aus, die Studentenschaft im ganzen Land feierte „akademische Feste“, in den Hauptstädten der Bundesländer, aber auch in Wien, London, St. Petersburg oder Warschau fanden „Kaiserfeiern“ statt.


Abbildung 7 Kaiser Wilhelm I. (1797-1888)

Für damalige Verhältnisse waren auch für einen Monarchen 90 Jahre ein hohes, seltenes Alter. Anlässlich dieses Geburtstages hatte das Berliner Tageblatt, die 1872 von Rudolf Mosse gegründete, im Kaiserreich auflagenstärkste Tageszeitung, sogar ein mit 10.000 Mark dotiertes Preisausschreiben veranstaltet:14

Es gilt, die Entwicklung des Einheitsgedankens im Deutschen Volke, seinen Entschluss auf die Bildung und Stellung der politischen Parteien und seine Verwirklichung durch das deutsche Kaisertum auf Grund wissenschaftlicher Forschung in Form abgerundeter Geschichtsbilder von Anfang dieses Jahrhunderts ab bis zur Kaiserproklamation von Versailles zu einer volkstümlichen, möglichst gedrängten Darstellung zu bringen.

Die Laudatio auf der ersten Seite der Zeitung lautete:

Am heutigen Tage, da Millionen und Abermillionen treuer deutscher Herzen des greisen Kaisers gedenken und ihm aus tiefstem Gemüte Glück und Segen wünschen zur Feier des Tages, da er vor 90 Jahren das Licht der Welt erblickt, am heutigen Tage, da die gesamte Nation in innigster Dankbarkeit ihr Denken und Fühlen dem Kaiser widmet… fehlt auch das „Berliner Tageblatt“ nicht, um den Ausdruck seiner Freude und Dankbarkeit an den Stufen des Thrones in ehrfurchtsvoller Verehrung niederzulegen.

Wie unser Monarch als König von Preußen durch seine nie erlahmende Pflichttreue, die Schlichtheit seines Wesens und die Strenge, die er gegen sich selbst stets geübt, sich im Laufe der Jahre die immer herzlichere Verehrung des gesamten Preußenvolkes errungen, so auch ward er im ganzen deutschen Reiche, da ihm das Geschick beschieden, unserer Nation der Helfer und Vollbringer ihrer sehnsuchtsvollsten Träume zu sein, in begeisterter Liebe von allem Volk ins Herz geschlossen. Als Hort und Schirmer jener Einheit des deutschen Reiches, für die unsere Väter auf den Schlachtfeldern geblutet oder in den Kerkern geschmachtet, war es Kaiser Wilhelm vergönnt, rings im Lande die hingebungsvollste Liebe für seine Person und für die Idee, die er verwirklichte, zu säen und zu ernten, so dass das Dankgefühl aller treuen deutschen Herzen mächtig emporloderte.

Die Zeitung würdigte den Kaiser als „Weltfriedensfürst“:15

Die Blicke der gesamten zivilisierten Welt sind heute auf die deutsche Reichshauptstadt gerichtet, in deren Mauern ein Fest gefeiert wird, wie es kaum jemals in den Annalen der Geschichte verzeichnet worden. In voller geistiger und körperlicher Frische begeht Kaiser Wilhelm sein 90. Geburtsfest. Alle Dynastien Europas entsendeten hervorragende Vertreter, um dem Nestor der Fürsten die herzlichsten Glückwünsche zu entbieten. Das an gewaltigen Ereignissen so überreiche Leben des greisen Heldenkaisers hat uns in seinen Gedenktagen schon oft Gelegenheit geboten, unserer Verehrung und Bewunderung am wärmsten und aufrichtigsten Ausdruck zu geben … Und dennoch drängt uns der heutige, so einzig dastehende Gedenktag, wiederum zurückzukommen auf jenes Charakteristikon, welches unserem Kaiser neben dem ruhmvoll erworbenen Beinamen des „Siegreichen“ den noch klangvolleren Beinamen des „Friedensfürsten“ für alle Zeiten sichert.

Am anderen Tag berichtete die Zeitung ausführlich über die Feier bei Hofe und ließ die Leser teilhaben an der „glänzenden Gesellschaft von etwa 900 geladenen Damen und Herren“, die sich im Weißen Saal des Königlichen Schlosses um den Gastgeber versammelt hatten. Zu den Gästen zählten der König von Sachsen, das rumänische Königspaar, der österreichische Kronprinz Rudolf, Großfürst Wladimir von Russland und weitere Vertreter des deutschen und europäischen Hochadels. Mitgeteilt wurden ebenso die festlichen Veranstaltungen in Berlin und im ganzen Reich; in den Großstädten hatten zu Ehren des Kaisers Gottesdienste, Glockengeläute, Paraden, Zapfenstreiche, Festessen etc. stattgefunden.

Rückblickend betrachtet, was es Wilhelms letzter Geburtstag. Einen anschaulichen Bericht verfasste auch die Salonnière Hildegard Freifrau von Spitzemberg, die als Gattin eines württembergischen Gesandten am preußischen Königshof in Berlin eine aufmerksam-kritische Beobachterin des Zeitgeschehens war:

Der Tag begann mit hellem Sonnenschein, dann aber überzog sich der Himmel, und am Nachmittag begann es leider zu regnen…trotzdem waren am Abend Zehntausende von Menschen unterwegs, sich die wirklich sehr schöne und allgemeine Beleuchtung anzusehen. Dabei herrschte musterhafte Ordnung, so dass ich flott durch nach dem Schlosse fahren konnte und als eine der ersten dort ankam. Allmählich füllte sich der Weiße Saal, und präzise wie immer erschien erst die Kaiserin mit Prinz Wilhelm, dann der teure greise Geburtstäger mit all den fürstlichen Festgästen …

Als ich zum Souper gehend durch das Hofzimmer kam, hatte ich Gelegenheit, persönlich dem teuren Kaiser gratulieren zu können, was mir, die ich doch so manche Gedächtnistage hier miterlebte, eine große Freude war…Heute hatte man so recht das stolze Gefühl, einem großen, mächtigen, einigen Volke anzugehören. Ach, dieser wird wohl der letzte der herrlichen Gedenktage sein, die es mir vergönnt war, mit dem teuren Kaiser und seinen Paladinen zu erleben! So nahe stehen sie alle dem Ziele des Lebens, dass, was noch zu erwarten steht, leider nur Tage der Trauer sein können, und was danach kommt, wissen die Götter.16

Da Wilhelms Sohn, Kaiser Friedrich III., geboren am 18. Oktober 1831 und verstorben am 15. Juni 1888, also wenige Wochen nach seinem Vater, nur kurz im Amt war, fiel in seine Regierungszeit kein eigener Feiertag. Mit dessen Sohn Wilhelm II. Thronbesteigung war „Kaisers Geburtstag“ am 27. Januar, erstmals 1889 gefeiert, letztmalig 1918. Doch wie zuvor von seinem Vater und ab 1888 für seinen Sohn, gab es auch von dem „99-Tage-Kaiser“ Münzen mit dem Porträt Friedrichs, die als Zahlungsmittel im Kaisereich gültig waren.

An seinen Ehrentagen huldigten nicht nur die Honoratioren der allerhöchsten Autorität im Land, schon die Jüngsten im Kaiserreich nahmen Anteil an den Paraden, Musikzügen, Fackelumzügen, an Festreden, Lobpreisungen und Hymnen. Während des Schuljahres kam „Kaisers Geburtstag“ ein besonderer Stellenwert zu, er war mindestens genau so wichtig wie die alljährliche Einschulung oder Verabschiedung der Schulabgänger. In der Aula oder den Klassenräumen wurde gefeiert, das Portrait des Kaisers bzw. des Herrscherpaares mit Efeu begrünt und die Heldentaten Seiner Majestät waren Gegenstand der Ansprachen. Die Vergangenheit wurde glorifiziert, die Gemeinschaft beschworen. So hieß es in einer „Kaisergeburtstagsrede“ des Jahres 1908:

Liebe Schüler!

Jeder Festtag, der uns aus dem gleichmäßigen Gange unserer Arbeit herausreißt, der den unablässig heraufsteigenden und wieder flüchtenden Stunden, in denen unser Leben dahin rollt, gleichsam halt gebieten scheint, gibt uns Veranlassung, den Blick mit größerer Ruhe, als die Unrast des Tages uns sonst gewährt, dem Ganzen des Lebens zuzuwenden. Aber wenn an den Tagen persönlicher Feste, wie sie jeder zu feiern immer wieder Gelegenheit hat, Vergangenheit und Zukunft des eigenen Lebens unser Denken beherrschen, persönlich Erlebtes und Erreichtes gegeneinander abgewogen, ein neues Ziel ins Auge gefasst wird, wenn andererseits an den zahlreicheren Festtagen kirchlichen Charakters unser Inneres angeregt wird…und die Gefühle allgemeiner, über alle persönlichen, ständischen und nationalen Unterschiede hinausreichender Menschenliebe erweckt werden, so lenkt ein Tag wie der heutige, an dem wir den Geburtstag unseres Kaisers feiern, der für uns Preußen zugleich der Geburtstag unseres Landesherrn ist, von jeher ein Festtag in preußischen Landen, unsere Gedanken hin auf das große Ganze, von dem wir alle Teil sind, auf das Vaterland. Verehren wir doch in unserem Kaiser den lebendigen und tatkräftigen Repräsentanten der Staatsgewalt nicht nur, sondern auch der ganzen Unsumme von schaffenden, drängenden und sich behauptenden Kräften, die das große, in aller seiner Mannigfaltigkeit doch einheitliche und gewaltige Ganze unseres Volkslebens ausmachen. Daher pflegen wir an diesem, wie an allen hohen nationalen Festtagen unsere Blicke zurückzuwenden zur Vergangenheit. Das Bild bedeutender Männer oder Ereignisse längst verflossener oder näher zurückliegender Zeiten pflegen wir vor unserem geistigen Auge emporsteigen zu lassen, getragen von der einen Empfindung, dass an solchem Tage nur eins uns erfüllen soll: der Gedanke, dass wir Teile sind einer großen staatlichen Gemeinschaft …17

Die Schulkinder erhielten einen „Kaiserwecken“, sie beteten für den höchsten Repräsentanten des Deutschen Reiches und ließen ihn hochleben. Der Untertanengeist und die Autoritätsgläubigkeit der Zeit spiegelten sich in solchen Kinderliedern wider; abgedruckt auf zeitgenössischen Postkarten:

Der Kaiser ist ein lieber Mann und wohnet in Berlin, und wär’ es nicht so weit von hier, so lief ich heut’ noch hin und was ich bei dem Kaiser wollt, ich reicht ihm meine Hand und reicht die schönsten Blumen ihm, die ich im Garten fand und sagte dann: Aus treuer Lieb bring ich die Blumen dir, und dann lief ich geschwind hinfort und wär’ bald wieder hier.


Abbildung 8 Kaiser Friedrich III. (1831-1888)

Ein weiteres Lied, ebenfalls von dem Lehrer Ernst Lausch (1836-1888), lautet:

Hurra, heut ist ein froher Tag des Kaisers Wiegenfest.

Wir freuen uns und wünschen ihm von Gott das allerbest´.

Wir singen froh und rufen laut, der Kaiser lebe hoch!

Der liebe Gott erhalte ihn recht viele Jahre noch!


Abbildung 9 Kaiser Wilhelm II. (1859-1941)

Hinter diesen Kaisergeburtstagen verbarg sich ein aufwändig inszeniertes Großereignis, das einerseits für jedermann sichtbar die Persönlichkeit des Kaisers glorifizieren und damit das Ausland beeindrucken sollte, andererseits vermittelte es bereits den Kleinsten nationales Gedankengut. Kaum an der Regierung, ordnete Wilhelm II. an, „dass in sämtlichen Schulen der Monarchie die Geburts- und Todestage der in Gott ruhenden Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. fortan als vaterländische Gedenk- und Erinnerungstage begangen werden“ sollten.18 Der neue Herrscher förderte den Personenkult um seine Vorgänger, ebenso eine Prachtentfaltung, wie sie in Preußen bislang unbekannt war. Wilhelm II. verbrachte den Abend seines Geburtstages gerne im Opernhaus (heutige Staatsoper Unter den Linden), wo er in seiner Loge von „Seinesgleichen“ umgeben war, andererseits öffentlichkeitswirksam vom nationalgesinnten, kulturbeflissenen Bürgertum gesehen – und gehuldigt werden konnte.

Zu diesen öffentlichkeitswirksamen Feiern zählte auch der 22. März 1897, als in Berlin ein Huldigungszug anlässlich des 100. Geburtstages Wilhelm I. und die Einweihung des (1950 abgetragenen) Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmals an der Westseite des Berliner Stadtschlosses stattfand. Nicht nur über die Tageszeitungen, auch dank der Baronin Spitzemberg ist dieses Ereignis überliefert. In ihrem Tagebuch vom 23. März 1897 heißt es:

… gewaltig und imponierend war der Anblick dieser 24.000 Männer, die flott und rasch marschierend, von Musikkapellen geleitet, ihre Kränze am Denkmale niederlegten und vor dem Kaiser, zum Teil im Paradeschritt, defilierten. Den Männern gefiel nichts besser als dieser Vorbeimarsch…Kriegervereine, Gewerke, Turner, Forstleute, Radfahrer, Ruderer, zuletzt die Studenten in vollem Wichse – alles war vertreten.19


Abbildung 10 Noch heute erinnern zahlreiche Plätze und Straßen an Wilhelm, den ersten Deutschen Kaiser (1871-1888); hier das Straßenschild des Kaiser-Wilhelm-Rings in Mainz.

Weitere Kaiser-Wilhelm-Denkmäler in Form eines Reiterstandbildes wurden an einem 22. März enthüllt, so in Geislingen/Steige (1894), Gera (1894), Straßburg (1899) oder in Rixdorf (heute Berlin-Neukölln, 1902). Unzählige Jungen wurden im Kaiserreich nach ihm benannt, erst recht, wenn auch sie an einem 22. März (oder 27. Januar) geboren waren. Ebenfalls viele Mädchen erhielten den Namen seiner Frau und wurden auf Augusta bzw. Auguste getauft. Beliebt waren auch die Vornamen Friedrich und Friedericke in Anlehnung an den Sohn und kurzzeitigen Nachfolger Friedrich. Deutschlandweit präsent ist der erste Kaiser des 1871 gegründeten Reiches noch heute mit 26 Straßen, Alleen, Wege, Brücken und Plätzen, die sich ausdrücklich auf Wilhelm I. beziehen.

Nur einmal wurde auf eine größere öffentliche Inszenierung am 27. Januar verzichtet; im Jahr 1901, da fünf Tage zuvor die englische Königin Victoria, die Großmutter Kaiser Wilhelm II., verstorben war. Ansonsten aber ließ sich Wilhelm II. feiern und die Huldigungen und Berichterstattungen der Presse klangen wie zu Zeiten seines Großvaters, ganz so euphorisch waren sie allerdings nicht mehr, sogar Kritik war zwischen den Zeilen zu lesen. Anlässlich seines 50. Geburtstages 1909 hieß es im Berliner Tageblatt:20

Mit erfreulicher Einmütigkeit versammeln heute die Bundeshäupter sich vor dem Kaiser zur Darbringung ihrer Glückwünsche; gern und aufrichtig schließt sich ihnen das deutsche Volk an…Ist es auch noch zu früh, die Gesamtsumme eines Lebensertrages zu ziehen, so sind doch die Grundlinien erkennbar, auf denen sich eine Existenz bewegt … Auf dem Hauses des Kaisers liegt ein heller Sonnenstrahl; mit keinem anderen Hause im Reich braucht es den Vergleich zu scheuen. Ein solches Lebensergebnis begrüßt das deutsche Volk mit herzlicher Sympathie. Als Familienvater tritt der Kaiser seinem Empfinden am nächsten.

Die Epoche Kaiser Wilhelms hat bis jetzt nicht die großen Staatsmänner und Kriegsführer an das Licht gebracht, wie sie die Regierung des ersten Kaisers verherrlichen …

Der Kaiser selbst hat, diese Anerkennung wird man ihm zollen müssen, unser nationales Leben mit einer Idee bereichert, er hat uns von der Vorstellung befreit, dass das Meer Deutschlands Grenze sei. Wie vor hundert Jahren das Wort galt: der Rhein Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze, so hat er in uns allen die Vorstellung lebendig gemacht, dass die Nordsee nicht das Ende unseres Landes, sondern sein historisches Erbe ist …

Am nächsten liegt uns heute der Wunsch, dass das wechselseitige Vertrauen zwischen Kaiser und Volk, das einer so schweren Probe ausgesetzt war, wieder zurückkehre. Ohne den festen Glauben des Kaisers an das Volk und des Volkes zu seinem verfassungsmäßigen Führer verlieren wir ein Element nationaler Kraft, werden wir nicht stark nach innen und nicht kraftvoll nach außen sein. Möge das Fest, das der Kaiser heute feiert, zum Symbol des gesicherten Verständnisses gedeihen.

Wilhelms „Leistungen“ als Familienvater wurden zwar anerkannt, doch als Staatsoberhaupt musste er deutlich Kritik hinnehmen. Unter der Überschrift „Die Wünsche des Volkes“ wurden die Defizite unmissverständlich artikuliert:21

Soll die Masse des Volkes an den Festtagen im Kaiserhause einen warmen inneren Anteil nehmen, dann würde es sich empfehlen, dass der Kaiser an solchen Tagen von dem schönsten Recht, das ihm verliehen ist, Gebrauch machte, von dem Recht auf Gnade. Soviel wir uns entsinnen, hat der Kaiser bisher nur einmal, bei der Taufe seines ältesten Enkels, eine Amnestie erlassen, durch welche ein Dutzend Majestätsverbrecher begnadigt wurde…der Kaiser hat es in der Hand, wenigstens im Bereich der preußischen Monarchie schon jetzt die Wirkungen der Strafgesetzbuchnovelle vorweg zu nehmen und einer großen Anzahl von Verurteilten Gnade zuteil werden zu lassen … so bietet der heutige Tag auch die beste Gelegenheit dar, die Forderung der weitaus überwiegenden Mehrheit der preußischen Staatsbürger nach einer Beseitigung der Klassenwahl zu unterstützen …

Die Liste der Volkswünsche ließe sich noch weiter vermehren, sowohl was die Sparsamkeit auf militärischem Gebiet, bei Paraden und Festen anbetrifft als in unseren Beziehungen zum Auslande, für deren Verschlechterung zwar Wilhelm II. ganz zweifellos mit Unrecht allein verantwortlich gemacht worden ist, die aber doch auch durch sprunghafte Entschlüsse mehrfach gestört wurden. Der Grundfehler lag darin, dass die Stimme des Volkes nur sehr selten bis zum Throne dringen konnte. Nur so ist es zu erklären, dass Kaiser und Volk sich vielfach nicht mehr recht verstanden. Dieses gegenseitige Verständnis, das auf die Dauer nicht entbehrt werden kann, wird wachsen, wenn die Entwicklung des Reiches und Preußens immer bestimmter in konstitutionelle Bahnen gelenkt wird. Dann wird auch das alte Wort, dass der König nicht Unrecht tun kann, eine Erweiterung dahin erfahren, dass sich in seiner Erscheinung das Prinzip der Stetigkeit, der ausgleichenden Gerechtigkeit und der lebensspendenden Gnade verkörpert.22

In den Kriegsjahren 1915 bis 1918 fanden die öffentlichen Feiern in eingeschränktem Maße statt. So verfügte etwa das Kriegsministerium Militärgottesdienste, die die patriotischen Ansprachen ersetzen sollten, längst hatten die Feiern ihre integrative Wirkung eingebüßt.23

Nach dem Ende der Monarchie waren Feiern anlässlich „Kaisers Geburtstag“ nicht mehr zeitgemäß, doch muss sich dieser Brauch bei einigen Offizieren gehalten haben. Nach einer entsprechenden Beschwerde der Verwaltung nämlich nahm Generalleutnant Ludwig von Estdorff, Kommandeur der Reichswehr-Brigade 1 in Königsberg, in einem Brief an Adolf Tortilowicz von Batocki-Friebe, den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen, Stellung zu dem Vorwurf, sein Offizierskorps hätte den Geburtstag des Kaiser gefeiert:24


Abbildung 11 Titelseite der Wormser Zeitung vom 27. Januar 1912 anlässlich „Kaisers Geburtstag“.

Ich muss jedoch die Tatsache hervorheben, dass die weitaus größere Anzahl der Angehörigen der Reichswehr innigen Anteil nimmt an dem Geschick des ehemaligen Allerhöchsten Kriegsherrn, unter dessen Führung die Armee in den Jahren des Weltkrieges Unvergleichliches geleistet hat und der nunmehr im tiefsten Unglück fern von der Heimat weilen muss. Ich sehe keine Veranlassung, auch alle die Feiern zu verbieten, die in rein geselliger Art und geschlossenem Kreise dem Andenken an unseren früheren Kaiserlichen Herrn gewidmet sind.

Anhand dieses Schreibens ist davon auszugehen, dass nicht nur innerhalb des Militärs, sondern auch in anderen Kreisen und Vereinen (Kriegervereinen, Burschenschaften) die Tradition der „Kaisergeburtstage“ weitergeführt wurde und der 27. Januar, wenn auch „im Stillen“, zu patriotischen Veranstaltungen und Trinkgelagen genutzt wurde. Viele Jahre später, anlässlich des 75. Geburtstag Wilhelms, erinnerte die Presse mit wenigen Zeilen an den im holländischen Exil lebenden ehemaligen Kaiser. Über einem Foto, das Wilhelm, längst zivil gekleidet, mit seiner Frau am Teetisch zeigt, steht:25

Eine der größten und politisch meist umstrittenen Persönlichkeiten, Wilhelm II., der vor dem Krieg und während des Krieges Mittelpunkt des Weltgeschehens war, feiert in stiller Abgeschiedenheit in Doorn seinen 75. Geburtstag. Wie über der Häuslichkeit und der Landschaft in Doorn ein friedlicher Schimmer liegt, so hat sich in Deutschland und in der Welt seiner Person gegenüber eine menschlichere und abgeklärtere Auffassung durchgesetzt.


Abbildung 12 3-Mark-Gedenkmünze aus Silber zum 25-jährigen Thronjubiläum des Kaisers. Sie zeigt Wilhelm II. in Kürassier-Uniform mit der Kette des Ordens vom Schwarzen Adler, der höchsten preußischen Auszeichnung.

In den Festkalender des Kaiserreichs gehörte vor dem Ersten Weltkrieg auch der 15. Juni, der Tag der Thronbesteigung Wilhelm II. im Jahre 1888. Groß gefeiert wurde besonders Wilhelms 25-jähriges Thronjubiläum als Deutscher Kaiser und König von Preußen im Jahr 1913, das die Reichsbank zur Herausgabe einer 2-, 3- und 5-Mark-Gedenkmünze aus Silber nutzte. Bereits 1906 hatte es vergleichbare Feiern anlässlich der Silbernen Hochzeit des Kaiserpaares gegeben.

Dass Du nicht vergessest der Geschichte

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