Читать книгу Dass Du nicht vergessest der Geschichte - Jörg Koch - Страница 9

Sedantag (2. September)

Оглавление

Nicht nur der Ort der Denkmäler, sondern auch der Tag ihrer Einweihungsfeierlichkeiten war mit Bedacht gewählt: Häufig fanden diese am Sedantag, dem Jahrestag des Sieges über Frankreich, statt. Dieser Gedenktag wurde alljährlich am 2. September oder dessen Vorabend gefeiert und erinnerte an die Schlacht von Sedan in Nordostfrankreich am 2. September 1870, in der preußische, bayerische, württembergische und sächsische Truppen den entscheidenden Sieg über die französische Armee errungen und dabei Kaiser Napoleon III. in Gefangenschaft genommen hatten. In einem 1886 erschienenen Lexikon findet man unter dem Stichwort „Sedan“ auch einen Hinweis auf den Sedantag. Nach der allgemeinen Beschreibung der Stadt Sedan heißt es:

In der neueren Kriegsgeschichte hat Sedan eine weltgeschichtliche Bedeutung erlangt durch die Schlacht bei Sedan am 1. September 1870 und die derselben folgende Kapitulation des französischen Heeres und Gefangennahme des Kaisers Napoleon III. am 2. September.26

Der Abschnitt endet folgendermaßen:

In Deutschland wird seitdem regelmäßig alljährlich der Sedantag (2. September) als Nationalfesttag gefeiert, da kein anderes Ereignis des großen Krieges so allgemeinen Jubel hervorrief, wie die Kunde von der Gefangennahme Napoleons III.27

In früheren Zeiten bildeten auch in unserem Kulturkreis Staat und Kirche bzw. Thron und Altar eine Einheit. Immerhin war Wilhelm I. als Landesherr auch oberster Bischof der Landeskirche in Preußen. Daher wundert es nicht, dass bereits im März 1871 führende Protestanten ein „allgemein deutsches, von allen Konfessionen gleichmäßig zu feierndes Volks- und Kirchenfest“ vorschlugen.28 Und in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Westfälischer Hausfreund“ vom 19. März desselben Jahres plädierte Friedrich von Bodelschwingh für ein „fröhliches, frommes Friedensfest“ nach Vorbild der Oktoberfeiern aus der Zeit nach den Freiheitskriegen; allerdings hatte der bekannte Bielefelder Pastor in einer weiteren Ausgabe seiner Zeitschrift zunächst den 18. Juni, den Schlusstag der Berliner Siegesfeier, vorgesehen.29 Erst in der ersten September-Ausgabe des „Westfälischen Hausfreunds“, die am 2. September 1871 ausgeliefert wurde, erwähnte Bodelschwingh nun den Sedantag als „großes, nationales Volksfest“:

All Deutschland sei nun auch eins in seiner Freude, in seinem Dank! Die Stimmung neigt immer mehr zur Wahl des 2. September hin. Entscheiden wir uns alle für diesen Tag! Alljährlich brause an diesem Tage Sieges- und Jubeldank durch alle Gaue unseres Vaterlandes, auf dass jeder Deutsche sich sagen kann: Heute feiern mit mir alle Millionen im deutschen Vaterlande. Alle reichen mir die Bruderhand und geloben:

Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr!

Damals legte Kaiser Napoleon seinen Degen zu den Füßen unseres Kaisers nieder. Keine schönere Dankesgabe könnte unser deutsches Volk am Throne seines Heldenkaisers niederlegen, als ein solches Nationalfest, so dass er in diesem, und so Gott Gnade gibt, noch in vielen folgenden Jahren an diesem Tage ein Volk um sich geschart weiß, das so dem Herrn der Heerscharen zu danken, so die gefallenen Helden, die triumphierenden Sieger zu ehren weiß. Darum im weiten deutschen Lande kein Dorf, sei es noch so klein, keine Stadt, sei sie noch so groß, wo man nicht feierte ein patriotisches wahres Volksfest am 2. September!30

An anderer Stelle meinte von Bodelschwingh, der spätere Leiter der Betheler Anstalten bei Bielefeld, der als Feldgeistlicher selbst Kriegsteilnehmer von 1870/71 gewesen war: „Am 2. September hat die Hand des lebendigen Gottes so sichtbar und kräftig in die Geschichte eingegriffen, dass es dem Volke grade bei diesem Gedenktag am leichtesten in Erinnerung zu bringen sein wird, wie Großes der Herr an uns getan hat“.31


Abbildung 13 Pastor Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), Mitinitiator des Sedantages.


Abbildung 14 Anlässlich des "Drei-Kaiser-Jahres" 1888 wurden zahlreiche Bäume, überwiegend Eichen, in Deutschland gepflanzt; hier die Eiche in Gimmeldingen/Pfalz.

Zunächst hielt sich die Begeisterung Wilhelm I. und Bismarcks für eine solche Idee in Grenzen, doch schließlich griffen sie Bodelschwinghs Anliegen auf. Das mag auch an den persönlichen Beziehungen zwischen dem Pfarrer und dem Königshaus gelegen haben: 1831 in Tecklenburg geboren, wuchs Friedrich von Bodelschwingh als Schüler in Trier, Koblenz und in Berlin auf, wo er, Sohn des preußischen Finanz- und Innenministers Ernst von Bodelschwingh, Spielgefährte des späteren Kaisers Friedrich III. war.32 Schließlich wurde dann offiziell ab 1873 auf Anordnung des preußischen Kultusministeriums der Sedantag mit Festveranstaltungen in Schulen und Universitäten begangen. In einigen Bundesstaaten war der 2. September sogar ein Staatsfeiertag, doch auf Reichsebene wurde er nicht zum (arbeitsfreien) Feiertag erklärt, da Wilhelm I. sich weiterhin vornehmlich als König von Preußen sah und mit dem Sedantag die Errichtung eines Reiches verbunden war, dessen Kaiserkrone er nur widerwillig entgegengenommen hatte.33


Abbildung 15 Hinweisschild zur 1888 gepflanzten Eiche.


Abbildung 16 Die 1873 eingeweihte Siegessäule in Berlin erinnert an die drei „Einigungskriege“, hier eine Aufnahme von 1966.

Mit seinem Regierungsantritt im Juni 1888 wertete Kaiser Wilhelm II. den Sedantag politisch auf. Betont wurde nun, mit zeitlicher Distanz zum Anlass der Feierlichkeiten, die Reichseinigung. Mit den militärisch geprägten Feiern sollte eine gesamtdeutsche Identität propagiert werden, bei der konfessionelle und Standesgrenzen keine Rolle mehr spielten. Als Forum für seine Auftritte nutze Wilhelm II. auch die kaiserlichen Herbstmanöver, die um den Sedantag stattfanden. Zudem war es für den Regenten nur konsequent, weitere Denkmäler, Standbilder und Büsten zu Ehren seines Großvaters an einem historisch bedeutsamen Tag wie dem 2. September einweihen zu lassen.

Bereits 1873 hatte an diesem symbolträchtigen Tag die Einweihungsfeier der Siegessäule in Berlin stattgefunden; dieser Festakt war beispielgebend für alle weiteren Denkmalseinweihungen. Der Baubeginn der Siegessäule war nach dem Deutsch-Dänischen Krieg erfolgt, den Preußen, d.h. die verbündeten Truppen des Deutschen Bundes, 1864 für sich hatten entscheiden können; rund 2.200 Gefallene bzw. an ihren Verwundungen verstorbene Soldaten waren auf deutscher Seite zu beklagen. Da innerhalb weniger Jahre zwei weitere siegreiche Kriege hinzugekommen waren (Deutsch-Deutscher Krieg, auch Preußisch-Deutscher Krieg genannt, 1866, und Deutsch-Französischer Krieg, 1870/71), galt die Siegessäule fortan als Nationaldenkmal der Einigungskriege.

Vor allem aber war der Sedantag zugleich ein Ehrentag für Bismarck. Häufig fanden an diesem Tag bzw. in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum 2. September die Einweihungsfeiern, gelegentlich auch die Grundsteinlegungen zu Bismarck-Denkmälern statt. Im Kaiserreich wurden am bzw. um den 2. September insgesamt 64 Denkmäler zu Ehren des (ehemaligen) Reichskanzlers enthüllt oder eingeweiht. Dazu zählen Türme (u.a. in Suhl, 1896; Herford, 1906; Altenburg, 1915), Standbilder (u.a. in Freiberg, 1895; Duisburg, 1898; Zittau, 1900; Lübeck, 1903), Büsten (in Worms, 1890; Lengefeld, 1900; Weida, 1906), Brunnen (Wolfenbüttel, 1895; Arnstadt, 1909; Pirmasens, 1912) und Gedenksteine (Aue, 1895; Wittenberge, 1900; Zeitz, 1910).34


Abbildung 17 Auf dem Sedan-Festplatz anlässlich des Sedanfestes in Worms, September 1903, waren auch die Winzer aus Bad Dürkheim mit einer eigenen Weinhalle vertreten.

Regional kam dem 2. September eine unterschiedliche Bedeutung zu. In Bayern etwa gedachte man eher der Schlacht bei Wörth (6. August), bei der hauptsächlich bayerische Truppen beteiligt gewesen waren und bei der auf deutscher Seite insgesamt 10.642 Männer zu Tode kamen. Im Großherzogtum Baden feierten die örtlichen Kriegervereine vor allem die Schlachten von Nuits (18. Dezember) und Belfort (15.-17. Januar) – noch heute erinnern das „Siegesdenkmal“ in Freiburg oder die beiden Leibgrenadierdenkmäler in Karlsruhe an diese Kriegsschauplätze.

Im neuen Reichsland Elsass-Lothringen erhielt der Sedantag, wie übrigens auch der 27. Januar, mit Rücksicht auf den französischen Bevölkerungsanteil keine besondere Aufmerksamkeit. Im Großherzogtum Hessen-Darmstadt fanden entsprechende Feierlichkeiten am 2. September statt, allerdings hatte hier 1874 der Mainzer Bischof von Ketteler das Glockenläuten für den 2. September verboten, da für ihn der Sedantag weniger den militärischen Sieg Deutschlands über Frankreich und die darauf folgende nationale Einheit symbolisierte als vielmehr die Niederlage der katholischen Kirche gegenüber Bismarck und dem national-liberalen Protestantismus; für die katholische Kirche waren Sedanfeiern „Satansfeiern.“35 Doch Kritik an den Kriegervereinen und den ausgelassenen Zusammenkünften ihrer Mitglieder bei den Gedenktagen kam nach Jahren auch ausgerechnet von einem Protestanten. Der bereits zitierte Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh missbilligte gegen Ende des Jahrhunderts diese Feiern, da sie „statt Lob- und Dankfeste zu sein“ für das, „was Gott an uns getan“, in „pure Sauf- und Tanzfeste“ ausgeartet seien. Bodelschwingh kritisierte jedoch lediglich die Ausschweifungen an solchen Tagen, nicht dagegen die Existenz der Kriegervereine, vielmehr plädierte er für die Gründung „christlicher Kriegervereine“!36 Ebenfalls nicht in den allzu patriotischen Jubel einstimmen wollte die „Volkswacht“, die zudem die Ablehnung sozialdemokratisch eingestellter Mitglieder durch die Kriegervereine verurteilte. Die der SPD nahe stehende Tageszeitung in Bielefeld verwies auf die vielen Opfer der Kriege und darauf, dass gerade die Arbeiterschaft nicht von den Einigungskriegen profitiere: „Wir fragen, hätten wir nicht viel mehr Ursache, an den Gedenktagen der Schlachten von Weißenburg, Vionville, Sedan u.a. zu trauern, ob der Ströme Blutes, die damals um…was? vergossen worden sind? ’Die Einheit und Freiheit Deutschlands´, antworten uns die Politiker und Geschichtsschreiber der herrschenden Klasse. Wir haben für die arbeitende Klasse nichts von großer Freiheit bemerkt.“37 Mit ihrer Einstellung entsprach die Zeitung der Haltung der Sozialdemokratie, die statt Krieg und Militarismus den Internationalismus propagierte und aufgrund der 1878 erlassenen „Sozialistengesetze“ den Feiern am 2. September sowieso kritisch gegenüber stand.

Wie auch in anderen Ländern, war an hessischen Volksschulen eine „Sedanfeier“ gemäß Schreiben der Großherzoglichen Oberstudiendirektion vom 26. August 1872 Pflicht. Den „sonntäglich gekleideten“ Kindern sollte, „je nach Alter und Fassungsgabe, ein Bild jener großen geschichtlichen Ereignisse“ entworfen und „ihnen eine Vorstellung von der Bedeutung des Tages“ beigebracht werden. Angeordnet war:

Dass der Unterricht an dem Sedantag auszufallen hat, und dass dafür eine Schulfeier zu veranstalten ist, bei welcher geschichtliche Vorträge über Anlass und Verlauf des Krieges von 1870–71, das Singen vaterländischer Lieder und, wenn tunlich, Ausflüge und Spiele im Freien die wesentlichen Bestandteile bilden sollen, dass aber im Übrigen die nähere Anordnung dem Ermessen des Schulvorstandes anheimgestellt bleibt.38

Eine größere Aufmerksamkeit erfuhr der 2. September im Jahre 1895, als reichsweit mit Beflaggung, Militärparaden, Fackelzügen und Feuerwerken der 25. Jahrestag der Schlacht bei Sedan gefeiert wurde. An jenem Tag erhielten die Arbeiter und Angestellten in staatlichen Betrieben und in einigen privaten Unternehmen frei oder zumindest ein paar Stunden arbeitsfrei, je nach Arbeitgeber wurde der Lohn gezahlt oder nicht. In Berlin war das Brandenburger Tor festlich illuminiert; ein weithin sichtbarer Schriftzug verkündete: „Sedan – Welch eine Wendung durch Gottes Fügung.“ Dieser Spruch war bereits im Juni 1871, bei Einzug der Truppen in Berlin, an der Siegesstraße zu lesen gewesen. Diese oftmals zitierten Worte greifen den Schlusssatz des Telegramms auf, das König Wilhelm I. am 2. September 1870 nach der Kapitulation Napoleons III. an seine Frau, Königin Augusta, gesandt hatte. Der Originalsatz lautete aber: „Welch eine Wendung durch Gottes Führung.“

Bereits am Vortag des Sedantages wurde durch Kaiser Wilhelm II. die zu Ehren seines Großvaters benannte Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin eingeweiht (die Grundsteinlegung im Jahr 1891 hatte ebenfalls an einem symbolträchtigen Tag, dem 22. März, Wilhelm I. Geburtstag, stattgefunden).

Anlässlich der Parade zum Jubiläum gab Kaiser Wilhelm II. folgenden Trinkspruch aus:

Wenn Ich am heutigen Tage einen Trinkspruch auf Meine Garden ausbringe, so geschieht es froh bewegten Herzens; denn ungewöhnlich feierlich und schön ist der heutige Tag. Den Rahmen für die heutige Parade gab ein in Begeisterung aufflammendes ganzes Volk, und das Motiv für die Begeisterung war die Erinnerung an die Gestalt, an die Persönlichkeit des großen verewigten Kaisers. Wer heute und gestern auf die mit Eichenlaub geschmückten Fahnen blickte, der kann es nicht getan haben ohne wehmütige Rührung des Herzens; denn der Geist und die Sprache, die aus dem Rauschen dieser zum Teil zerfetzten Feldzeichen zu uns redeten, erzählten von den Dingen, die vor 25 Jahren geschahen, von der großen Stunde, von dem großen Tage, da das Deutsche Reich wieder auferstand. Groß war die Schlacht und heiß war der Drang und gewaltig die Kräfte, die aufeinander stießen. Tapfer kämpfte der Feind für seine Lorbeeren; für seine Vergangenheit, für seinen Kaiser kämpfte mit dem Mute der Verzweiflung die tapfere französische Armee. Für ihre Güter, ihren Herd und ihre zukünftige Einigung kämpften die Deutschen; darum berührt es uns auch so warm, dass ein jeder, der des Kaisers Rock getragen hat oder ihn noch trägt, in diesen Tagen von der Bevölkerung besonders geehrt wird – ein einziger aufflammender Dank gegen Kaiser Wilhelm I.! Und für uns, besonders für die Jüngeren, die Aufgabe, das, was der Kaiser gegründet, zu erhalten …39

Baronin Spitzemberg, die Berliner Salonnière, verbrachte das Jubiläum in ihrer Heimat, in der kleinen Gemeinde Hemmingen bei Ludwigsburg, wo sie als Wohltäterin im nationalen Sinne in Erscheinung trat:

Die letzten Tage hatte ich alle Hände voll Arbeit wegen der Sedansfeier, die auf mein und des Pfarrers Betreiben hier auch in unserem sonst arg nüchternen Dorfe festlich begangen werden soll. Die Mutter, Axel und ich legten zusammen, um für die 183 Schulkinder Würste und kleine Preise für Wettrennen, Klettern usw. zu stiften; die Gemeinde gab Wecken und Most. Ich stiftete der Schule eine schöne deutsche Fahne…Der Pfarrer hielt eine sehr gute, warme, patriotische Rede und der Gesangverein sang…Axel musste abends in den Adler zum Bankett, das die Veteranen … und alle „bessern Leute“ vereinte und recht nett verlief.40

Sogar in den Betheler Anstalten fand am 2. September 1895 ein von Friedrich von Bodelschwingh initiierter Umzug der Kinder aus den Kinderheimen statt, der einem „Siegeszug mit Fahnen und Helmen und kleinen Uniformen“ glich. Ebenso unternahm der epileptische Jünglingsverein einen Festumzug und eine gemeinsame Feier aller Bewohner unter Einbeziehung der Veteranen von 1870 rundete den Sedantag in Bethel ab.41

Von der Jubiläums-Veranstaltung des Jahres 1895 abgesehen, blieb der Sedantag vor allem ein Feiertag der Schulen und Behörden, des kaisertreuen Bürgertums, des Militärs und insbesondere der preußischen Beamtenschaft. Und wo Feiern stattfanden, gerade in ländlichen Gebieten, hatten sich diese gewandelt. Nicht mehr das Militärische stand im Vordergrund, sondern das volksfestartige, gesellige Miteinander, das, vor allem Ende des Sommers, gerne im Freien praktiziert wurde. Mit zeitlichem Abstand zum Krieg prägten turnerische Darbietungen der Jugend, Vorführungen der neu aufgekommenen Radfahrervereine und der übrigen Ortsvereine das bunte Treiben. Die einstige Bedeutung des Sedantages hatte sich so sehr gewandelt, dass im Jahr 1900 sogar der öffentlichkeitswirksame, im ganzen Reich bekannte Historiker Theodor Mommsen für seine Abschaffung plädierte, da die Feier nicht mehr zeitgemäß sei:

… wenn überhaupt die Jahrestage der großen Siege im Wechsel der Geschlechter sich auf die Dauer zu Nationalfesten nicht eignen, so kommt in diesem Falle hinzu, dass jede derartige Feier alte immer noch blutende Wunden von Neuem aufreißt. „Gedenkt unendlicher Gefahr, des wohl vergossnen Blutes“, sagte Goethe vom 18. Oktober. Das soll auch ferner geschehen; des 18. Oktober wie des 2. September wird der Deutsche eingedenk bleiben, solange es ein Deutschland gibt. Aber dazu bedarf es weder der Böllerschüsse noch der Raketen.42

Auch wenn in der Bevölkerung das Interesse am Sedantag stetig abgenommen hatte, gehörte er nach wie vor zum Festkalender der zahlreichen Kriegervereine, die sich gleich nach dem deutsch-französischen Krieg gegründet und um 1900 rund eine Million Mitglieder hatten (bis 1913 stieg die Zahl sogar auf annähernd drei Millionen).43 Diese Vereine, die eine militärische Gedanken- und Gefühlswelt kultivierten, waren in fast jeder Gemeinde vertreten und prägten damit entscheidend den Alltag im Kaiserreich.

Doch auch nach der Jahrhundertwende wurde der Sedantag als besonderer Tag wahrgenommen, der sich für allerlei Feierlichkeiten anbot. So feierte man am 2. September 1903 das Richtfest des Bielefelder Rathauses. Eine größere Beachtung erhielt der Tag 1910, anlässlich des 40. Jahrestages. Vier Jahre später war die Erinnerung an 1870 wieder zur traurigen Realität, war „Sedan“ zum verhängnisvollen „Erlebnis“ geworden. Am 1. August 1914 hatte der Erste Weltkrieg begonnen, das Kaiserreich seinen Nachbarn Frankreich und Russland den Krieg erklärt. Die Sedanfeiern waren nun von einer besonders patriotischen Stimmung geprägt:44

Der Sedan-Gedenktag wird in diesem Jahr wieder zum ersten Male seit langen Jahren als „Kriegs-Gedenktag“ gefeiert werden. Um den Herren Franzosen nicht nahezutreten, beging man schon seit Mitte der 80er Jahre den Sedan-Gedenktag nicht als Feier der Gefangennahme des französischen Kaisers und seines 80.000 Mann starken Heeres mit 500 Geschützen und 10.000 Pferden, sondern man feierte am 2. September die Erinnerung an die Schaffung des einigen Deutschland. Das wird in diesem Jahr anders sein. Auf Anordnung des Kaisers werden im ganzen Reich am 2. September Fest- und Bittgottesdienste stattfinden, der Schulunterricht fällt aus und an seine Stelle treten Schulfeiern. Der Grundton dieser Feiern wird die Freude und der Dank an Gott für die vor 44 Jahren erfolgte Gefangennahme Kaiser Napoleons und seines Heeres sein, verbunden mit der Freude über die bisherigen Siege der verbündeten deutschen und österreichisch-ungarischen Heere.

Es ist anzunehmen, dass an diesem nationalen Festtage im ganzen Reich kein Haus ohne Fahnen- und Flaggenschmuck sein wird.

Der scheinbar glorreichen Zeit huldigten jedoch nicht nur Denkmäler und immer wiederkehrende Gedenkveranstaltungen, sondern auch literarische Verarbeitungen des gewonnenen Deutsch-Französischen Krieges. Weit verbreitet war das bereits im Oktober 1870 von Kurt Moser getextete Lied „Fern bei Sedan auf den Höhen“, das Eingang in den Volksliederschatz fand und im Ersten Weltkrieg als Soldatenlied sehr populär war:

Fern bei Sedan auf den Höhen,

Steht ein Krieger auf der Wacht,

Neben seinem Kameraden,

Den die Kugel tödlich traf.

Leise flüstern seine Lippen,

Du, mein Freund kehrst wieder heim,

Siehst die teure Heimat wieder,

Kehrst in unsrem Dörflein ein.

In dem Dörflein, in der Mitte,

Steht ein kleines weißes Haus,

Rings umrahmt von Rosen, Nelken,

Drinnen wohnet meine Braut.

Nimm den Ring von meinem Finger,

Nimm den Ring von meiner Hand,

Drück auf ihre weiße Stirne,

Einen Kuss als Abschiedspfand.

Der Soldat, der hat’s gesprochen,

Der Soldat, der hat’s gesagt,

Seine Augen sind gebrochen,

Dort bei Sedan ist sein Grab.

Auch in den Lesebüchern, die nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, wurden die nachwachsenden Generationen weiterhin mit der patriotisch-nationalistischen Lyrik eines Ferdinand Freiligraths („Hurra Germania!“, „Die Trompete von Gravelotte“) oder Emanuel Geibels („Am 3. September 1870“) bekannt gemacht.

Ferdinand Freiligrath: „Die Trompete von Gravelotte“45

Sie haben Tod und Verderben gespie´n,

wir haben es nicht gelitten.

Zwei Kolonnen Fußvolk, zwei Batterien,

wir haben sie niedergeritten.

Die Säbel geschwungen, die Zäume verhängt,

tief die Lanzen und hoch die Fahnen,

so haben wir sie zusammengesprengt, -

Kürassiere wir und Ulanen.

Doch ein Blutritt war es, ein Todesritt;

Wohl wichen sie unseren Hieben;

Doch von zwei Regimentern, was ritt und was stritt,

unser zweiter Mann ist geblieben.

Die Brust durchschossen, die Stirn zerklafft,

so lagen sie bleich auf dem Rasen,

in der Kraft, in der Jugend dahingerafft –

„Nun, Trompeter, zum Sammeln geblasen!“

Und er nahm die Trompet´, und er hauchte hinein;

Da, – die mutig mit schmetterndem Grimme

Uns geführt in den herrlichen Kampf hinein, -

Der Trompete versagte die Stimme!

Nur ein klanglos Wimmern, ein Schrei voll Schmerz

Entquoll dem metallenen Munde;

Eine Kugel hatte durchlöchert ihr Erz, -

Um die Toten klagte die Wunde!

Um die Tapfern, die Treuen, die Wacht am Rhein,

um die Brüder, die heut gefallen;

um sie alle, es ging uns durch Mark und Bein,

erhub sie gebrochenes Lallen.

Und nun kam die Nacht, und wir ritten hindann,

rundum die Wachtfeuer lohten;

die Rosse schnoben, der Regen rann, -

und wir dachten der Toten, der Toten!

Eine andere Intention verfolgten dagegen Heinrich Mann mit seinem Roman „Der Untertan“ (1914), in dem er die Denkmalsucht der Kaiserzeit verhöhnt und Carl Zuckmayer, der in seiner Tragikomödie „Der Hauptmann von Köpenick“ (1931) die Verhältnisse in der kaiserlichen Armee – der Sedantag spielt hier eine zentrale Rolle für die Hauptfigur- und die vom Militarismus und blinder Autoritätsgläubigkeit geprägte Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg karikiert.

Geradezu kurios in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Karl May seinen Titelhelden Winnetou am 2. September 1874 sterben lässt. Dies kann kein Zufall sein. Doch nicht der Tod des „edelmenschlichen“ Blutsbruders von Old Shatterhand steht an diesem nationalen Siegestag im Vordergrund, sondern dessen Konversion zum christlichen Glauben in der Todesstunde und damit Karl Mays missionarisch-christlicher Fundamentalismus. Gegen Ende des 15. Kapitels („Am Hancock-Berg“) berichtet der Autor aus der Sicht Old Shatterhands:

Als der letzte Ton verklungen war, wollte Winnetou sprechen – es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er: „Scharlih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Leb wohl!“46

So siegte am 2. September nicht nur Deutschland, sondern ebenso das Christentum.

Aber auch zeitgenössische Musiker brachten dem gewonnenen Krieg ihre Verehrung zum Ausdruck. So etwa Johannes Brahms, der angesichts des deutschen Sieges 1870 sein „Triumphlied“ komponierte, dessen erster Teil am 7. April 1871 anlässlich eines Karfreitagskonzerts „Zum Andenken an die im Kampfe Gefallenen“ im Bremer Dom uraufgeführt wurde.47 Die Widmung des heute weitgehend unbeachteten Werkes lautet „Seiner Majestät den Deutschen Kaiser Wilhelm I. ehrfurchtsvoll zugeeignet vom Komponisten“.

Patriotische Stücke zu Beginn der „Gründerzeit“, die als musikalisches Denkmal des neuen Kaiserreiches erklingen sollten, schufen ferner Richard Wagner („Kaisermarsch“, 1871), Max Bruch („Das Lied vom deutschen Kaiser“, 1871) oder Carl Reinthaler („Bismarckhymne“, 1876).

Am 27. August 1919 verkündete das Reichsinnenministerium, dass es offiziell keine (staatlichen) Sedanfeiern mehr geben werde, da diese nicht mehr in die Zeit passten:

Die früher geltende Verfügung, dass Gedächtnistage der Schlacht von Sedan die öffentlichen Gebäude beflaggt werden sollten, entspricht nicht mehr den Zeitverhältnissen. Unser Volk soll in dieser Zeit tiefsten Unglücks nicht nur die demonstrative Erinnerung an frühere Siege darüber hinweggetäuscht werden, dass all sein Denken und Streben einer neuen Zukunft gewidmet sein muss.48

Dennoch blieb der 2. September in der Weimarer Republik als Gedenktag des Kaiserreiches weiterhin im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, auch wenn er als Feiertag der Kriegervereine und als Tag feierlicher Denkmalsenthüllungen nicht mehr in Betracht kam. Die Gestaltung dieses Tages war regional sehr unterschiedlich und hing stets von den politischen Mehrheitsverhältnissen vor Ort ab. Da der Weimarer Republik ein Staatsfeiertag fehlte und die monarchischen Feiertage wie „Kaisers Geburtstag“ oder „Geburtstag des Landesherrn“ obsolet waren, andererseits eine jahrzehntelange Tradition nicht per Erlass unterbunden werden konnte, wurde der Sedantag in seiner einstigen Bedeutung erst durch das nationalsozialistische Feiertagsjahr verdrängt, das neue Gedenktage zelebrierte.


Abbildung 18 Noch heute erinnern 105 Plätze und Straßen an den 2. September 1870 in Form von Straßenschildern; hier die Sedanstraße in Worms-Herrnsheim.

Dass Du nicht vergessest der Geschichte

Подняться наверх