Читать книгу Der Dreißigjährige Krieg Band 1-3: Der Winterkönig / Der tolle Halberstädter / Der Hexenbrenner - Jörg Olbrich - Страница 47
ОглавлениеWien, 24. Oktober 1619
Eintrag in die kaiserliche Chronik des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation:
Der unrechtmäßige König Bethlen Gábor hat ein Heer aufgestellt und ist mit ihm nach Pressburg gezogen. Die Kaiserlichen unter Rudolf von Tiefenbach konnten die Stadt nicht halten und mussten sie aufgeben. Dank der Unterstützung der protestantischen Edelleute gelang es Gábor, die Stephanskrone an sich zu nehmen.
Das ungarische Heer hat sich mit den böhmischen Rebellen vereint und bei Pressburg die Donau überquert. Ein Heer von fünfzigtausend Mann zog am Ufer des Flusses entlang und verwüstete Städte und Dörfer. Graf von Buquoy kehrte aus Böhmen zurück, konnte die Rebellen aber nicht aufhalten. Sie zogen bis nach Wien und belagern nun die Stadt.
Kaiser Ferdinand II. hat seinen Hof nach Graz geführt und in Sicherheit gebracht. Er selbst ist nach Wien zurückgekehrt und verharrt in seiner Hofburg. Aus dem Umland flüchteten zahlreiche Bauern und Landleute in die Stadt. Die Straßen sind überfüllt. Raub und Mord sind die Folge von Hunger und Leid.
Anton ging zum Fenster und schaute in die Straße vor der Kaiserburg. Die Stadt wurde von Angst und Schrecken regiert. Erste Seuchen waren ausgebrochen und vor den Toren Wiens stapelten sich die Toten. Es war keine Zeit sie zu beerdigen. Sie verbreiteten den Geruch von Tod und Verderben durch die ganze Stadt. Dort trug das wehleidige Klagen der noch Lebenden zu dem grausamen Bild bei.
Die Rebellen hatten einen Ring um die Stadt gezogen und ließen niemanden hinein oder hinaus. Anton selbst wäre gerne in Graz geblieben, hatte aber einsehen müssen, dass sein Platz an der Seite des Kaisers war.
Anton hatte Angst. Schreckliche Angst. Nicht nur um sein eigenes Leben, sondern vor allem auch um das seiner Eltern. Seinem Vater war es in den letzten Tagen nicht besser gegangen. Im Moment konnte er sich nicht um ihn kümmern. Ihm blieb also nichts anderes als zu beten, dass Josef Serger die neuerliche Belagerung überstehen würde.
Im Gegensatz zum Juni war die Übermacht der protestantischen Rebellen dieses Mal erdrückend. Anton bezweifelte, dass die Kaiserlichen die Stadt lange verteidigen konnten. Auch wenn aus allen Gegenden des Reiches Soldaten herbeigerufen wurden, war es unwahrscheinlich, dass sie die Stadt rechtzeitig erreichten. Auch die spanischen Truppen würden zu spät kommen.
Im Moment war Graf von Buquoy die größte Hoffnung der Wiener. Er lag mit seinem Heer innerhalb der Festung und wehrte die Angriffe der Protestanten ab. Auch wenn der Spanier dabei von den Wiener Landsknechten und Teilen der Bevölkerung unterstützt wurde, waren die Kaiserlichen zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen.
Anton verließ die Bibliothek. Auf dem Weg zum Kaiser traf er auf Albert und grüßte ihn freundlich.
»Was ist eigentlich aus der jungen Ungarin geworden?«, fragte der Mann. »Ich habe sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.«
Das wüsste ich auch gerne. »Sie hat die Stadt verlassen.«
»Jetzt, wo die Rebellen vor den Toren Wiens stehen?«
»Resi ist gegangen, bevor die Belagerung begonnen hat …«
»Wo wollte sie denn hin? Ich hoffe, dass sie den Protestanten nicht in die Arme gelaufen ist.«
Die Kaiserlichen wären auch nicht besser. »Sie wollte zurück nach Pressburg. Ich hoffe, dass sie dort gesund angekommen ist!«
»Es herrscht Krieg in Ungarn!«
»Ja. Ich weiß.« Das kurze Gespräch mit Albert schürten Antons Sorgen um Resi aufs Neue. Wie war es der jungen Ungarin nach ihrer Abreise aus Wien ergangen? Würde er sie jemals wiedersehen?
***
»Pass auf«, schrie Hans Langdorn Hermann zu und stieß seinen Kameraden mit aller Wucht zur Seite, bevor er sich selbst neben ihn auf den Boden warf. Sekunden später schlug die Kanonenkugel direkt an der Stelle ein, wo die beiden Soldaten gerade noch gestanden hatten.
Hermann blieb auf dem Boden liegen und nahm die Arme schützend über den Kopf. Gesteinsbrocken und Holzsplitter flogen um ihn herum. Staub wirbelte auf und drang ihm in Mund und Nase. Er wurde von kleineren Teilen getroffen, die ihn aber nicht ernstlich verletzten. Hans hatte dieses Glück nicht. Hermann kroch auf seinen Kameraden zu, der ein Stück neben ihm am Boden lag. »Steh auf. Wir müssen von hier verschwinden!«
Eine Antwort bekam der ehemalige Schmied nicht. Hans musste von einem größeren Stein getroffen worden sein. Er blutete aus einer Wunde aus der Schläfe und rührte sich nach wie vor nicht. Hermann geriet in Panik. Langdorn hatte ihm gerade das Leben gerettet! Es durfte nicht sein, dass er selbst von dem Einschlag getötet worden war!
»Feuer!« Der Befehl des Rittmeisters hallte durch die Reihen der kaiserlichen Armee. Sekunden später donnerten zwölf Geschütze los und schickten ihre Kugeln in die feindlichen Reihen. Hermann hievte sich hoch und sah, welch verheerende Wirkung die Salve bei den Protestanten hinterlassen hatte. Die Rebellen hatten ihre Geschütze gerade so nahe an die Mauern der Stadt gefahren, dass die Kugeln sie erreichen konnten. Damit gaben sie aber auch Ziele für die Geschosse der Kaiserlichen ab. Mindestens drei der gegnerischen Kanonen waren zerstört worden.
Hermann wusste, dass es nun ein paar Minuten dauern würde, bis beide Parteien ihre verbleibenden Geschütze wieder einsatzbereit gemacht hatten. Diese Zeit musste er nutzen, um seinen Kameraden in Sicherheit zu bringen! Viel früher als erwartet, donnerten die Kanonen auf der Seite der Rebellen erneut und schickten ihre tödlichen Geschosse auf die Reise. Hermann sah, wie die Wand über ihm getroffen wurde, und sprang geistesgegenwärtig zur Seite. Die Gesteinsbrocken fielen direkt neben ihm zu Boden und begruben Hans unter sich.
Entsetzt starrte Hermann auf die Beine seines Kameraden, die unter den Trümmern hervorschauten. Jetzt konnte er nichts mehr für ihn tun. Er versuchte, das aufsteigende Würgen zu unterdrücken, aber der Druck war zu groß. Hermann erbrach sich direkt vor die Füße des toten Hans. Als er sicher war, dass sein Magen leer war, ließ er sich auf die Knie sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen.
Für die nächsten Minuten nahm Hermann den Kampf, der von beiden Seiten weiterhin mit aller Verbissenheit geführt wurde, nicht mehr wahr. Seine ganzen Gedanken drehten sich um Hans Langdorn, der sein Leben gegeben hatte, um das seines Kameraden zu retten.
***
Anton ging durch die Straßen von Wien und kam sich vor wie in einer anderen Welt. In der Stadt wimmelte es von Verwundeten, die keinen Platz mehr in den Krankenlagern gefunden hatten. Die meisten waren für die Jahreszeit viel zu dünn gekleidet und lagen frierend auf dem Boden. Die Bürger der Stadt versuchten, zu helfen, wo es ging, hatten aber oft selbst kaum genug. Von der Pracht Wiens, die Anton immer so sehr geliebt hatte, war nichts mehr erkennbar. Überall in der Stadt stank es nach Tod.
Traurig ging der Schreiber weiter zum Haus seiner Eltern. Er hatte sich vom Apotheker des Kaisers noch eine Medizin geben lassen und hoffte, dass sie seinem Vater helfen würde. In den letzten Tagen war das Fieber nicht zurückgegangen und der Husten war sogar schlimmer geworden. Anton sorgte sich sehr um Josef Serger. Seit Tagen war der kaum mehr ansprechbar und schien seinen Sohn nicht einmal mehr zu erkennen, wenn er vor seinem Bett stand.
Als er am Haus seiner Eltern ankam, war die Tür nicht verschlossen. Sofort stieg Panik in Anton auf. War seine Familie jetzt auch noch überfallen worden? Er stürmte in den Wohnraum und sah sich gehetzt um. Es sah nicht so aus, als ob sich hier Räuber aufgehalten hatten. Er zwang sich, seinen Atem zu beruhigen und lauschte in die Stille hinein. Endlich hörte er ein leises Schluchzen.
Das kommt aus der Küche. Er stürmte in den Raum und sah seine Mutter mit dem Kopf zwischen ihren Armen am Tisch sitzen. Als sie ihren Sohn hörte, blickte sie auf und sah ihn mit bitteren Tränen in den Augen an.
»Was ist passiert?« Anton lief auf seine Mutter zu und umarmte sie. Sie zog geräuschvoll die Nase hoch und schüttelte den Kopf.
»Josef ist tot.«
Die Nachricht riss Anton fast von den Beinen. Schwankend ging er zum Tisch, setzte sich auf den zweiten Stuhl und legte den Arm tröstend um den Hals seiner Mutter. Beide konnten später nicht sagen, wie lange sie so dagesessen hatten. Es dämmerte bereits, als Anton endlich aufstand.
»Du wirst mich an den Kaiserhof begleiten.«
»Ich bleibe bei deinem Vater.«
Anton lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Die Stimme seiner Mutter erkannte er kaum wieder. Es schien, als sei mit dem Tod des geliebten Ehegatten in ihr etwas zerbrochen. Dennoch. Er konnte sie jetzt nicht alleine lassen. In der Stadt war es schon lange nicht mehr sicher, und wenn noch mehr Menschen kämen, war es nur eine Frage der Zeit, bis man sie überfiel. An eine Beerdigung von Josef Serger war im Moment nicht zu denken.
Auf keinen Fall wollte Anton zulassen, dass man ihn vor die Mauern der Stadt warf. Da war es besser, ihn bis zum Ende der Belagerung in seinem Bett liegen zu lassen, auch wenn man das nicht gerade als christlich bezeichnen konnte. Er ging noch einmal ins Schlafzimmer seiner Eltern und verabschiedete sich in einem stillen Gebet. Dann kehrte er zu seiner Mutter zurück und führte sie zum Kaiserhof.
Johanna Serger folgte ihrem Sohn schweigend und mit leerem Blick. Sie schien nichts von dem Tumult in der Stadt zu bemerken. Anton wollte sie in Resis Kammer unterbringen, bis sich die Lage in der Stadt beruhigt hatte. Er wusste, dass sich seine Mutter dort nicht wohl fühlen würde, sah aber keine andere Möglichkeit. Sie jetzt auch noch zu verlieren, würde der junge Schreiber nicht ertragen.