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Neigte sich die Saison der Russischolympiaden ihrem Ende entgegen, begannen die Rezitatorenausscheide. Ich verbuchte sie als zusätzliche Trainingseinheit. Die Vorbereitungen waren ein Klacks, gemessen an dem Aufwand, den ich für die Russischolympiaden betrieb. Ich blätterte in den Lesebüchern der höheren Schuljahre und suchte ein Gedicht aus. In der sechsten Klasse fiel meine Wahl auf John Schehr und Genossen von Erich Weinert. Das passte. Das Gedicht leierte ich am Nachmittag wieder und wieder herunter, zog die Verszeilen in die Länge, senkte die Stimme am Versende, flüsterte, fauchte, brüllte und probierte beim nächsten Versuch eine neue Version. Die Ballade gehörte mir. Ich war John Schehr. Ich war 1933 nach der Verhaftung Ernst Thälmanns Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands geworden. Ich wurde verraten und im Wald mit drei Nahschüssen von Nazischergen erschossen. Als ich im Kinderzimmer übte und meine Meuchelmörder anprangerte, kamen mir die Tränen. Das durfte mir beim Rezitatorenausscheid nicht passieren. Ich stellte den Wecker. Mitten in der Nacht sprang ich auf, stellte mich neben mein Bett und rezitierte. Wenn ich nicht heulte, durfte ich weiterschlafen. Sonst begann ich von vorn.

Selbstverständlich war die Delegation zum Kreisausscheid mein Ziel. Dann würde der Page 40Bezirksausscheid locken. John Schehr und Genossen half mir, meinen Klassenstandpunkt zu festigen. Unsere Republik war auf dem richtigen Weg. Die Kaufhalle in Schkopau war zum fünfundzwanzigsten Gründungstag der DDR eröffnet worden. Wer darüber meckerte, weil es dort irgendetwas nicht zu kaufen gab, hatte John Schehr und Genossen nicht begriffen. Manche Kühltruhen in der Kaufhalle waren noch leer. Sie würden später im Kommunismus gefüllt werden. Aber man hatte sie für die Zeit des Kommunismus schon hingestellt. Im Kommunismus gab es kein Geld mehr. Jeder würde sich dann das nehmen, was er brauchte. Statt sich darauf zu freuen, wurde vor den leeren Kühltruhen gemault, gelästert, gezetert, gestöhnt, und manche sahen so aus, als würden sie am liebsten in die Truhen kotzen. Ich war umgeben von Konterrevolutionären, Maulhelden und hinterlistigen Kleinbürgern. Als ob die Leute hier etwas auszustehen hatten. Es fehlte ihnen an nichts. In der Werbung des Westfernsehens wurden immer prall gefüllte Obstregale gezeigt. Das war alles bloß Plastikobst, und die Kunden mussten die Werbung dort bezahlen. Die meisten Schkopauer hatten sowieso eine Vorratsmacke. Herr Kretzschmar, unser Nachbar, legte auf seinem Wochenendgrundstück in Borkwalde ein unterirdisches Depot an, in dem er Hunderte Liter Benzin bunkerte, weil er glaubte, das Benzin werde in der DDR bald rationiert. Im Keller meiner Oma Martha befand sich ein Kleiderschrank, Page 41stets von unten bis oben gefüllt mit Spee-gekörntPackungen. Horten, das konnten hier alle. Und Gerüchte verbreiten. Das Gerücht, im Bunawerk würden nachts die Filter der Karbidschornsteine abgeschaltet werden, um Strom zu sparen, war eine Frechheit. In Schkopau roch es niemals nach Chemie, ganz im Gegensatz zum Leunawerk nebenan, wo ich mir die Nase zuhielt, weil es nach Schwefelwasserstoffen stank. Hier bei uns nie, und falls doch, dann nur ein ganz kleines bisschen. Wer das nicht mochte, konnte seine Fenster schließen. Ich mochte es, wenn durch Schkopau ein Hauch von Chemie wehte. So duftete der wissenschaftlichtechnische Fortschritt. Und statt darüber zu stöhnen oder sich in der Kaufhalle darüber aufzuregen, weil im Zeitungsregal immer nur die Sowjetfrau lag, hätte es manchem hier gut getan, seine Nase in diese Zeitschrift zu stecken. Sie war bunt und informativ. Ich erfuhr dort Neues über das Leben in der UdSSR, unserem wichtigsten Bündnispartner. An der Haltung zur Sowjetunion erkennt man einen Kommunisten, hatte Ernst Thälmann gesagt. Wie konnte es dann möglich sein, dass ausgerechnet die Sowjetfrau hier immer herumlag? Niemand außer mir schien sie zu kaufen. Die Schkopauer fragten immer nach Atze mit Fix und Fax, dem Mosaik oder FF dabei. Vielleicht lag es an dem Schild Such dir eine Zeitung aus / lies sie aber erst zuhaus. Das schreckte ab. Das Schild musste weg. Ich würde das mit Herrn Pfeiler besprechen. Wir griffen Page 42nicht hart genug durch. Im Katastrophenwinter 1978 war ich, zwölfjährig, zum Bürgermeister gegangen und hatte ihm vorgerechnet, wie viele Kilowattstunden Strom in unserer Industriegemeinde gespart werden konnten, wenn wir nach 22 Uhr die Straßenbeleuchtung ausschalteten. Wer hatte hier nach 22 Uhr noch etwas auf der Straße verloren? Wir kämpften nicht dafür, dass die Schkopauer sich nachts herumtrieben und am nächsten Tag in der Kaufhalle maulten. John Schehr hätte sich im Grab umgedreht.

Der Schulrezitatorenausscheid fand in der Aula der Lenin-Oberschule statt. Frau Mühlewind, Frau Schwarzbrod und Frau Brosche, die Deutschlehrerinnen, nahmen im Präsidium Platz. Am Vormittag hatten sie mit Diktaten genervt, jetzt spielten sie Jurorinnen. Sie hatten aus jeder Klasse zwei Rezitatoren bestimmt, die hier antanzen mussten. Für die meisten schien das eine lästige Pflicht zu sein. Sie standen auf und stellten sich neben das Präsidium. Während sie rezitierten, kritzelte die Jury mit ernsten Mienen auf ihre Zettel. Wie gebannt sah ich hin. Von den anderen Rezitatoren bekam ich wenig mit, ich war mit dem Entziffern der Kritzeleien beschäftigt. Schrieben sie nur Blödsinn, weil sie sich langweilten und wussten, dass sie im nächsten und übernächsten Jahr hier wieder sitzen würden? Einige Rezitatoren brachten sich von vornherein um ihre Chance, weil sie die falschen Gedichte ausgewählt hatten. Mit Humor konnte man hier keinen Page 43Blumentopf gewinnen, und schon gar nicht mit einem Liebesgedicht. Verse von Max Zimmerring standen hoch im Kurs.

Frau Brosche setzte ein Ausrufungszeichen. Ich sah es genau. Und Frau Schwarzbrod schielte zweimal auf den Zettel von Frau Mühlewind. Frau Mühlewind schielte zurück. Vielleicht kannten sie die Gedichte von Max Zimmerring schon auswendig und hörten sie zum achthundertfünfundsiebzigsten Mal. Zumindest sahen sie so aus.

Es war nicht ganz einfach, drei Lehrerinnen gleichzeitig im Auge zu behalten und ihre Notizen zu erforschen. Frau Brosche schrieb am deutlichsten und Wörter wie gut oder nein. Frau Mühlewind seufzte mehrmals. Das durfte nicht wahr sein. Hier wurden immerhin Gedichte rezitiert. Ich fühlte mich wie vor dem Zeitungsständer in der Kaufhalle.

Sabine Gebhard galt als beste Schulrezitatorin. Vermutlich, weil sie wie eine Fernsehansagerin lächelte, keinen einzigen Konsonanten verschluckte, sondern sie dem Publikum entgegen spuckte. Vor allem das T hatte es Sabine Gebhard angetan. Sie sprach es so deutlich aus, dass ich mich in Acht nahm, weil ich nicht nass werden wollte. Ihr Gedicht, Brechts Lob des Lernens, trug sie mit einer Mappe aus rotem Kunstleder mit goldenem Staatswappen vor. Mit dem Staatswappen hatte man immer den Joker in der Hand. Alle anderen hier mussten ihr Gedicht auswendig können. Sabine brillierte mit ihrer Kunstledermappe.

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Nach unseren Auftritten zog sich die Jury zurück und verkündete anschließend, wer am Wettstreit der Kreisrezitatoren teilzunehmen hatte. Nur wenige Namen wurden genannt. Die meisten in der Aula schienen froh zu sein, weil es sie nicht getroffen hatte. Ich wurde delegiert – allerdings mit der Auflage, ein anderes Gedicht auszuwählen, weil John Schehr und Genossen Schulstoff war. In der Bibliothek des Klubhauses »Völkerfreundschaft« blätterte ich in Gedichtbänden und blieb bei Goethes Natur und Kunst hängen. Ich war zwölf, verstand kein Wort, und genau darin lag für mich der Reiz. Ich wollte das Gedicht so rezitieren, als hätte ich es durchdrungen, damit man mir den Bescheidwisser abnahm.

Meinen Siegen beim Kreis- und Bezirksrezitatorenausscheid folgte noch die Messe der Meister von morgen. Mein Vater mit den goldenen Elektrikerhänden baute irgendetwas, ich trug es in die Schule und gewann den Jahrgangspreis. Immer noch blieb mir Zeit bis zur nächsten Russischolympiade. Im Sommer gönnte ich mir noch einen Abstecher zur Kreisspartakiade im Rollschnelllaufen. In meinem Jahrgang war ich der einzige Starter. Die Goldmedaille war mir in jedem Jahr sicher. Ich schnallte meine Rollschuhe an und übte ein paar Tage auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Bunesen auf ihren Werksrädern wichen mir aus und beschimpften mich. Ich hörte nicht hin. Ich musste trainieren. Am Tag der Kreisspartakiade rollte Page 45ich eine Runde auf dem Parkplatz vorm Bunawerk, dann erklomm ich das Siegerpodest.

Nur manchmal wurde mir übel. Dann wollte ich weg. Olaf Knautsch aus meiner Klasse erzählte, dass man bloß nach Großkugel zum Schkeuditzer Kreuz trampen musste. Ich hatte es genau gehört. Am Schkeuditzer Kreuz war es ein Klacks, in den Westen zu verschwinden, wenn man einen Fernfahrer aufgabelte. Die Fahrer der Tanklastzüge schmuggelten gern Jungs in den Westen und verlangten dafür nichts. Man musste sich nur an die Autobahnzufahrt stellen und warten. Die Fernfahrer stopften die Jungen in die Tanks, und wer Glück hatte, überlebte, wenn die Tanks nicht völlig mit Benzin gefüllt waren. Den Fernfahrern war egal, wer im Tank ersoff. Ich träumte von Großkugel. Für meine Flucht kaufte ich schon einmal zehn Brötchen und bunkerte sie in der Mansarde. Zehn trockene Brötchen reichten, um im Tank nicht zu verhungern. Die Brötchen aus der Schkopauer Kaufhalle wurden schnell trocken und steinhart. Woche für Woche bevorratete ich mich neu. Ich traute mich nie nach Großkugel. Aber mein Fluchtproviant lag schon in der Mansarde. Meine Mutter fand sie und fragte, seit wann mir Brötchen aus der Kaufhalle schmeckten.

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