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Im April 1989 betrat ich zum ersten Mal die Residenz am Grunewald. Die Empfangshalle war ein Glaskasten mit Münzfernsprecher und Rohrstühlen. Auf einem nahm ich Platz und sah mich um. Vor mir hing das Porträt einer aufgedunsenen Frau in Schwesterntracht. Mit bohrendem Blick prüfte mich Oberin Irmgard Breugel, die Stiftungsgründerin. Auf der Tafel daneben las ich, dass ihr, einer Krankenschwester, 1938 drei Villen geschenkt worden waren. In Berlin-Grunewald war alles möglich. Setz dir eine Schwesternhaube auf, und schon bekommst du Villen hinterhergeschmissen. Ich überlegte, was ich mit den Häusern, die ich hier ergattern würde, anfangen könnte. Kein Heim. Das gab es ja schon. Ob die Breugel jetzt sah, dass ich eine Jacke aus knatschrotem Kunstleder und eine Damenhose trug?
Vor einer Woche war ich nach Westberlin ausgereist. Das einzige Zimmer, das ich hatte finden können, war ein Verschlag in Ritas Wohnung. Rita ging auf den Transenstrich in der Frobenstraße, ich zum Vorstellungsgespräch. In meinen Ostklamotten würde mir jede Chance davonfliegen. Also hatte ich mir Ritas Sachen geliehen. Ich war einundzwanzig Jahre alt und wollte wunderschön sein. Ich war wunderschön. Niemand hier würde merken, dass ich eine Bluse trug, sächselte und noch nie einen alten Menschen gepflegt hatte.
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»Da sind Sie ja schon.«
Eine Frauenstimme schreckte mich auf. Frau Schwalbe, die Verwaltungsleiterin, stand vor mir. Ich grüßte und lächelte. Deshalb stellte sie mich ein. Noch heute bin ich sicher, dass dieser Moment der entscheidende war. Frau Schwalbe, eine korpulente Dame in rostbraunem Kostüm, forderte mich auf, ihr zu folgen. In den Verwaltungstrakt gelangte sie mit einem Zahlencode. Ich fragte mich, welche Geheimnisse sich im Büro eines Pflegeheims verbergen konnten. Es waren gigantische und sagenumwobene, daran bestand kein Zweifel. Denn ehe Frau Schwalbe den Code eintippte, hob sie die Augenbrauen und befahl: »Jetzt schauen Sie mal weg.«
Dieser Satz sollte in der Residenz zu meinem Leitmotiv werden. Schon saß ich in Frau Schwalbes Büro und sah, wie sie sich über meine Bewerbungsunterlagen beugte, darin immer wieder blätterte, als suche sie etwas, und meinen beruflichen Werdegang studierte. Sechs Wochen Garderobier im Ratskeller Merseburg, ein Jahr Pflegehelfer im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie in Leipzig-Dösen. Den Rest hatte ich verschwiegen, und an der Garderobe hatte ich … Und was ging das die Trulla im kackbraunen Kostüm an? Gleich würde sie mir danken und das Gespräch beenden. Es tut mir leid, aber Ihre bisherige Karriere … Was, wenn jetzt ihre Perlenkette am Hals platzen und sich ein Schwall potthässlicher Perlen über die Auslegware ergießen würde, auf Nimmerwiedersehen. In zehn Page 9Jahren, während einer Teambesprechung, würde genau das passieren. Aber jetzt saß ich erst einmal da, und Frau Schwalbe räusperte sich.
»Nun, wie geht man in der Ostzone mit Inkontinenten um?«
Großer Gott, wer oder was waren Inkontinente? In meiner Magengegend zog sich etwas zusammen.
»Im Osten ist das nicht erlaubt«, sagte ich.
»Ach, kommen Sie. Irgendetwas werden Sie doch gemacht haben!«
Vorsichtig beäugte mich Frau Schwalbe. Ich spürte, dass meine Aussicht, hier einen Job zu ergattern, gleich Null war, wenn nicht schleunigst ein Wunder geschah.
»Wer war Irmgard Breugel?«, fragte ich.
»Sehen Sie diese Steine dort?« Frau Schwalbe deutete aus dem Fenster, und ihre Stimme wurde sanfter. »Ihre Pudel liegen dort begraben. Irmgard Breugel liebte Pudel.«
Ich schwieg und wartete. Das war die Antwort? Irmgard Breugels Pudelgrabsteine? Ich dachte an ihr Porträt in der Eingangshalle. Vermutlich hatte sie die Köter auch geschenkt bekommen.
»Können Sie pulsen?«
Wer wäre so dämlich und würde jetzt nicht nicken und Ja! sagen? Ich kann alles, liebe Frau Schwalbe.
»Wie sieht’s aus mit Insulin?«
Wie sollte es damit aussehen? Insulin hieß Page 10meine erste CD, mit der ich in ein paar Monaten die US-Charts stürmen würde. In dieser Woche von Null auf Eins …
»Selbstverständlich.« Ich biss mir auf die Lippen.
»Dann kommen Sie mal mit. Ich zeige Ihnen noch, wie eine Badewanne funktioniert.«
Wir verließen das Büro und gingen in den Wohnbereich 1. Im Flur begegneten uns zwei Pflegekräfte. Frau Schwalbe grüßte sie wie die Zöglinge einer Besserungsanstalt. Im Bad hantierte sie an der Armatur. Echtes Wasser floss.
Und was kam jetzt? Zeigte sie mir einen Waschlappen?
Wenn sie mir prophezeit hätte, dass ich dreiundzwanzig Jahre später in ihrem Büro an ihrem winzigen Schreibtisch sitzen und in meiner Personalakte blättern würde – ich hätte die Notklingel gedrückt. Heute lese ich Frau Schwalbes Gesprächsnotiz: Freundlicher Flüchtling, trägt Damenwäsche, recht willig. Grundkenntnisse, Einweisung Bad. Vorerst Station 1.
Nach meiner Ausreise aus der DDR hatte ich die Orientierung verloren und schwitzte deshalb Blut und Wasser. Schon das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde hatte ich erst gefunden, nachdem ich stundenlang umhergeirrt und zunächst im Mercedes-Werk gelandet war. Als ich schließlich das Lager erreicht und dort gesagt hatte, dass ich Page 11mir vorstellen könnte, vielleicht und zunächst erst einmal und wenn es gar nicht anders ginge, in der Altenpflege … Acht Stellenangebote hatte man mir in die Hand gedrückt. Den kürzesten Arbeitsweg von Ritas Wohnung hatte ich bis zur Residenz am Grunewald.
Ehe ich die Residenz fand, ging und lief und rannte ich zwischen Roseneck und Hagenplatz umher. Die Gegend erschien mir wie eine Filmkulisse, in der Dallas oder Die Schwarzwaldklinik gedreht wurden. Keiner der wenigen Menschen auf den gepflegten Straßen kannte die Residenz. Mehrere Male lief ich an ihr vorbei. Es gab kein Schild draußen, nichts. Ein weißgetünchter Block, strahlend wie die Zähne in der Fernsehwerbung. Wurden die Wände hier mit Dentagard geschrubbt? Warum existierte die Residenz am Grunewald inkognito? Weil dort betagte Millionärinnen inkognito lebten. Ich stellte mir vor, dass sie nach Rosenöl dufteten und mir Schwänke aus ihrem Leben erzählten. Sie hatten keine Krankheiten, starben nicht und schmierten niemals mit Stuhlgang.
Die Einarbeitung an meinem ersten Arbeitstag beschränkte sich auf zwei Sätze: »Alle waschen, pampern, aus den Nestern raus und die Zimmer picobello. Wäschewagen steht im Bad, Abwurfwagen in der Spüle.« Schwester Gisela sprach und ging. Ich sollte mit ihr und Oberpfleger Rolf, dem Stationsleiter, arbeiten. Beide verschwanden in die obere Etage. Die Station 1 erstreckte sich über Page 12zwei Stockwerke mit verwinkelten, endlosen Fluren. Ich dachte an Albert Einstein. Von wegen nur das All und die Dummheit der Menschen sind unendlich! Nach einer Stunde glaubte ich, die Zimmer vermehrten sich nach dem Prinzip der Zellteilung. Schon das erste Bett, vor dem ich stand, gab mir Rätsel auf. Wie um alles in der Welt löste man das Bettgitter? Gab es einen Schalter? Musste man kräftig schütteln? Ich suchte und probierte. Minutenlang. Mein erster Schweißausbruch. Ich schlich um das Bett und kroch darunter. Vielleicht gab es zwischen Matratze und Bettgestell einen Drücker? Oder konnte man das Bettgitter überhaupt nicht lösen und sollte mit einer einfachen Hebeübung …
Es klatschte. Eine Ohrfeige von Frau Klinke, 102 Jahre alt. Sie lag im Bett. Ich hatte sie übersehen. Frau Klinke drohte mit den Fäusten. Ohne ihre Ohrfeige hätte ich in der nächsten Minute Kran gespielt. Eine Uhr begann in mir zu ticken. Du bist in der Probezeit!, zischte eine Stimme in mir. Beeil dich! Ich wollte Frau Klinke das Nachthemd ausziehen. Wir zerrten um die Wette.
»Er kann es nicht!«
Ich drehte mich um. Frau Salostowitz, die Bettnachbarin, sah mir zu und spielte Kommentatorin.
»Das schafft er nicht.«
»Jetzt schafft er’s doch.«
»Jetzt hat sie ihn.«
»Jetzt rollt er sie weg.«
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An diesem Morgen hatte mich die Hektik im Griff. Mir blieb keine Zeit für Gerüche, Ekel oder Angst. Wenn ich jetzt versage, werfen sie mich raus. Wenn ich jetzt versage, schlafe ich zwischen Müllkübeln. Wenn ich jetzt versage, wird der Westen so, wie es im Lehrbuch für Staatsbürgerkunde stand. Mir blieb auch keine Zeit zu staunen oder mich zu fragen, warum Frau Korn den Flur entlangschritt, sehr aufrecht, mit bedächtigen, würdevollen Schritten und einem Buch unterm Arm. Immerhin gab es an den Wänden im Flur Ballettstangen. Ab und zu gönnte ich mir dort ein Demi-plié. Und diese Tuben mit den Salben – wofür oder wogegen auch immer – machten sich ganz gut als Mikrofon. Ich zog den Wäschewagen weiter und trällerte Rock and Roll Star von Champagne.
»Alle fertig?« Die Stationsfrau stand plötzlich vor mir, Kaugummi kauend und reichlich mit Silberschmuck behangen.
»Fast«, brachte ich über die Lippen.
»Neue Aushilfe?«
»Fest.« Fest klang in diesem Moment wie lebenslänglich.
»Fast und fest.« Sie prustete los. Für Lady Silverstar war ich eine Eintagsfliege. Durchgeschwitzte Möchtegernis wie mich hatte sie schon oft erlebt. Zu melden hatte ich nichts, und morgen war ich wahrscheinlich weg vom Fenster. Da war es überflüssig, sich vorzustellen.
»Genau deshalb haben wir dich ins kalte Page 14Wasser geworfen«, erklärte mir Oberpfleger Rolf kurz vor Feierabend. »Hier muss man erst mal allein klarkommen.«
Und ich kam irgendwie klar. Frau Delbrück bewarf mich zwar mit Stuhlgang, und Frau Strohschneider wollte mich mit Erika-Luxus-Romanen bestechen, damit ich ihren Bronchialtee in den Ausguss schütte. Frau Schliepe fragte mich, ob ich in der Serie Das Erbe der Guldenburgs mitspiele. Als Fiesling.
Ich beschloss, die Frauen Zauberinnen zu nennen. Sie lachten und schrien, sie schwiegen und schimpften, sie unterrichteten mich. Die Zauberinnen arbeiteten mich ein.
Frau Wiedermeyer war die geheimnisvollste. Gelähmt von zwei Schlaganfällen, lag sie im Bett und rezitierte Balladen von Chamisso. Angeblich hatte sie einst Adenauer aus der Hand gelesen. Oder war es Bismarck gewesen? Egal. Jetzt war ich an der Reihe. Gespannt hielt ich meine Hand direkt vor ihre Augen. Frau Wiedermeyers Kopf begann zu zittern, und sie dehnte jeden Vokal.
»Komisch. Überall, wo sonst eine Frau steht, sehe ich bei Ihnen einen Mann.« Welch prophetische Gabe.
»Sie bleiben sehr, sehr lange hier!«
Jetzt reichte es aber. Ich drehte mich um und verschwand.
Auf Station 1 gab es einen Wettbewerb, ein Pflegen gegen die Uhr. Der oder die Langsamste Page 15wurde bei der Dienstübergabe mit Häme übergossen. Ich nicht. Ich wurde zum Turbopfleger. Das zählte. Das untere Stockwerk mit den achtzehn Zauberinnen war bald kein Problem mehr für mich.
»Du arbeitest wie eine Maschine!«, sagte Oberpfleger Rolf. Das klang für mich wie ein Lob. Den Vogel im Ich-bin-schneller-als-ihr-Spiel schoss ich schon nach wenigen Tagen ab, als ich hinauflief, um Rolf und Gisela zu fragen, ob sie meine Hilfe brauchten. Ich fand sie im Tagesraum. Fünf Zauberinnen saßen dort. Auf dem Tisch lag Schwester Gisela und vögelte mit dem Oberpfleger. Es war 9 Uhr morgens. Ich drehte mich um und hatte nichts gesehen. Ich war in der Probezeit und niemals im Tagesraum gewesen.