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Ein neues Zimmer war nicht so schnell zu finden. Ich verstaute meine Besitztümer in einem Schließfach im Bahnhof Zoo. Von hier aus war es nur ein Katzensprung in die beiden Schwulensaunen, die es damals in Westberlin gab. Abend für Abend hatte ich die Wahl zwischen einer Kabine in der Apollo-Sauna und der Steam-Sauna. Touristen übernachteten hier. Warum nicht auch ich? Hatte ich Frühdienst, weckte mich das Saunapersonal. Eines Nachts lernte ich irgendeinen Thomas kennen. Wir kifften zu viel. Ich hatte frei, und Thomas lud mich in seine Wohnung ein. Er hauste im riesigen Zimmerlabyrinth einer Kommune. Dort drehte er einen Joint nach dem anderen. Als ich den Weg zur Toilette finden wollte, stand ich plötzlich im Treppenhaus. Splitternackt. Offenbar hatte ich die Wohnungstür zugeschlagen. Aber welche? Es gab mehrere. Oder war ich im falschen Stock? Ich hüpfte ein paar Treppen hinauf und hinab. Ich klingelte irgendwo. Jemand würde mir schon öffnen. Ein erstauntes türkisches Ehepaar stand vor mir, als ich fragte: »Wohnt hier Thomas?« Wäre ich siebzig Jahre älter gewesen, hätte man für mich eine Betreuung beim Amtsgericht beantragt?

Bald hatte ich meine Schlafplätze in den Saunen satt. Auch Martin wohnte in einer Kommune. Ein Mitbewohner war gerade ausgezogen. Ich Page 47nahm den Bus zum Hermannplatz. Die Fahrt zog sich in die Länge. Als der Bus durch die Oranienstraße fuhr, bekam ich Angst. Ich kannte Kreuzberg bisher nur von Fernsehbildern der alljährlichen Krawalle am ersten Mai. Jetzt sah ich heruntergekommene Häuser und Menschen mit frustrierten Gesichtern. Das revolutionäre Kreuzberg war eine dreckige Kleinstadt mit zu groß geratenen Häusern. Und Martins Kommune befand sich nicht einmal in Kreuzberg, nur an seiner Grenze, im noch erbärmlicheren Neukölln.

Als der Bus endlich den Hermannplatz erreicht hatte, fiel mir ein, dass ich erst am nächsten Tag in der Kommune verabredet war. Heute zu klingeln, wagte ich nicht. Ich beschloss, mich umzuschauen, wenn ich schon einmal hier war. Zum ersten Mal genoss ich meinen fehlenden Orientierungssinn und schlenderte durch graue Straßen, ohne zu wissen, wo ich war. Auf den zweiten Blick war Kreuzberg gar nicht so übel. Schlesisches Tor klang zwar nicht gerade nach Weltrevolution – offenbar hatten die Vertriebenenverbände hier die Straßen und U-Bahnhöfe benannt: Sie hießen Glogauer und Oppelner Straße. Das ließen sich die Linksautonomen gefallen? Und General Wrangel kannten sie offenbar nicht. Über einer Tür in der Muskauer Straße las ich das Schild Café Anal. Kreuzberg war verrückt. Und mitten in der Nacht tauchten jetzt auch noch Karawanen hupender Trabantfahrer auf und jubelten. Später füllten sich Page 48die Straßen mit Menschen, die sich in die Arme fielen und So ein Tag, so wunderschön wie heute sangen.

Mir wurde es allmählich zu viel. Wahrscheinlich hatte Gott einen Joint geraucht und stellte heute Nacht Berlin auf den Kopf. Ich war nicht bekifft, nur müde und trat den Rückweg zur Residenz an. Im Isozimmer würde ich mich für ein paar Stündchen aufs Ohr legen. Aber die Trabantkarawanen wurde ich nicht mehr los. Sie überholten mich. Sie überfluteten den Kurfürstendamm. Ich halluzinierte. Die vielen Frühdienste und das ewige Hin und Her zwischen der Residenz und den Nächten in verrauchten, dröhnenden Schwulensaunen zehrten an meinen Nerven. Kein Bus kam. Ich ging zu Fuß. Berlin war außer Rand und Band, und ich wollte ins Isozimmer. Jemand rief mir zu, die Mauer sei gefallen. Für Zonis gab es Bananen, Schokolade und Umarmungen. Wie praktisch, dass ich sächselte. Mein Vorrat an Bananen, Schokolade und Umarmungen war für Wochen gesichert.

In der Residenz trudelte am nächsten Morgen die Äbtissin gegen neun Uhr ein. Meine anderen Kolleginnen bekam ich erst kurz vor dem Mittagessen zu sehen. An diesem Tag dachte ich zum ersten Mal, dass ich gern hier arbeite. In der Residenz war ich sicher.

Am nächsten Tag fuhr ich wieder zum Hermannplatz. Ich nahm einen zweiten Anlauf. Berlin war noch immer im Rausch. In Martins Page 49Kommune jubelte niemand. Das war wohltuend nach den Heulkrämpfen, dem endlosen Gewinke und der Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung auf den Straßen. Begrüßt wurde ich mit der Bemerkung, dass es bei Penny heute keine Salzstangen mehr zu kaufen gab und nicht einmal Katzenfutter. Die Zonis würden alles wegkaufen. Die Katzen können doch nun wirklich nichts dafür! Fünf Linksautonome, drei Frauen und zwei Männer, starrten mich an. Martin, mein James-Dean-Nachtpfleger, verwandelte sich in einen RAF-Sympathisanten, als wir über Politik sprachen. Bald sollten wir nur noch über Politik sprechen. Es waren die Jahre vor Bad Kleinen und dem Ende der RAF. Noch waren die in der DDR untergetauchten Terroristen nicht enttarnt, noch agierte die dritte RAF-Generation im Untergrund. Der Mauerfall war für die RAF und die Katzenfutterkommune eine Katastrophe. Angeblich hatten Ulrike Meinhoff und Gudrun Ensslin hier Tee getrunken. Das genügte, um die Wohnung zur Gedenkstätte zu erklären. Zur dritten RAF-Generation hielt die Kommune angeblich konspirativen Kontakt, so konspirativ, dass der Kontakt mir nach der Beschwerde über das fehlende Katzenfutter bei Penny sogleich aufs Brot geschmiert wurde. Ich passte nicht hierher. Aber das freie Zimmer hatte einen Balkon. Es war hell, nur die Wände müsste ich weißen. Der Blick aus dem Fenster lockte. Sogar ein Stück Himmel war zu sehen. Marion deutete aus dem Fenster und Page 50erklärte mir, dass sich auf der anderen Straßenseite ein Puff befinde. Der Puff sei aber in Wirklichkeit ein Nest des Bundesnachrichtendienstes, um die Kommune zu observieren. Die Kommunardinnen und Kommunarden standen Nacht für Nacht am Fenster und beobachteten durch ein Opernglas, wer den BND-Puff betrat.

Ich sah aus dem Fenster. Es war später Abend, und tatsächlich klingelten dort immer nur einzelne Herren. Dann wurde zuerst ein Fensterchen geöffnet, anschließend die Tür. Die Kommune hatte den Dandy-Club, eine Schwulenbar, im Visier. Ich lud sie ein, auf ein Bier mitzukommen, und erntete enttäuschte Gesichter. Ich hatte das schöne Spiel verdorben.

In den nächsten Jahren spielte ich Radikalinski, auf jeder Demonstration, an der ich teilzunehmen hatte, wenn die Kommune das beschloss. Kreuzberg wurde am ersten Mai zum Mekka für Linksautonome, und ich vermummte mich so großartig, dass ich unerkannt im Lesbenblock mitmarschieren konnte. Sobald ich die Presse sah, drängelte ich mich nach vorn. Blitzten Kameras, lief ich zu Hochform auf. Auf der Titelseite der taz erschien ein Foto: Ich, ganz in Schwarz, vermummt mit Arabertuch und bitterbösem Blick. Ich halte ein Transparent, auf dem DEUTSCHLAND HALT’S MAUL steht. Eine Demonstration gegen die Wiedervereinigung. DEUTSCHLAND HALT’S MAUL war ein dämlicher Satz. Aber ich hatte schon einen Page 51Futon und einen Schreibtisch für mein Zimmer gekauft. »Feuer und Flamme für jeden Staat! Feuer und Flamme fürs Patriarchat!«, schrie ich und hob die Faust. Die Miete für das Zimmer war sagenhaft günstig.

Nur manchmal ertrug ich meine Heuchelei nicht mehr. Dann legte ich Amiga-Langspielplatten auf, die ich aus der DDR mitgebracht hatte. Durch die Wohnung schallten die Lieder von Veronika Fischer und Jürgen Walter. Das war meine Rache an der Kommune.

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