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Als ich vierzehn war, gewann Anett Pötzsch bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid im Eiskunstlauf die Goldmedaille. Ihrer Trainerin Jutta Müller schrieb ich einen Brief und erwähnte mein Alter. Ich wollte Eiskunstläufer werden und war zu alt für die Kreuzspirale und den dreifachen Rittberger. Sonst hätte Jutta Müller mir geantwortet und mich zum Probetraining nach Karl-Marx-Stadt eingeladen. Ich blieb in Schkopau und beschloss: Wenn schon kein Sieg bei den Olympischen Winterspielen, dann bei der Russischolympiade. In der siebten Klasse kannte ich sämtliche Vokabellisten im Russischlehrbuch für das Abitur auswendig. Die Vokabeln der Lehrbücher von der siebten bis zur zwölften Klasse wurden meine Mantras. Sechs, sieben, acht Mal am Tag leierte ich sie herunter. Ich wurde meine eigene Jutta Müller, spornte mich an, zeterte und lobte. An die Wände des Kachelofens im Kinderzimmer kritzelte ich mit Kreide meine Resultate und das Lernprogramm für den nächsten Tag. Natürlich genügten keine Vokabeln, um die Russischolympiade zu gewinnen. Im zweiten DDR-Fernsehprogramm sah ich Für Freunde der russischen Sprache, Filme aus der Sowjetunion mit deutschen Untertiteln. Meine Mitschüler lasen Bravo, ich Po Swjetu und Sowjetfrau. Frau Besenkraut, unsere Russischlehrerin, lieh mir ein Tonbandgerät und Bänder mit Texten Page 17zum Übersetzen. Ich wollte siegen. Um jeden Preis. Kam ich aus der Schule, begann das Training. Mindestens bis Mitternacht lernte ich. Wenn mein Kopf schmerzte, ging ich auf dem Friedhof spazieren. Hier versuchte mich niemand in Gespräche zu verwickeln. Ich brauchte Ruhe und Kraft für die nächste Trainingseinheit. Ich roch nicht den Gestank aus den Schloten des Buna-Kombinats. Ich sah auch keine schlohweißen Bäume, an denen Karbidstaub klebte. Ich träumte von der Kreisrussischolympiade, der Bezirksrussischolympiade, der DDR-Russischolympiade. Die internationale Russischolympiade in Moskau sollte mein Lake Placid werden.
Die Schulrussischolympiade war nur der Probelauf, um meinen Trainingsstand zu überprüfen. Drei Unterrichtsräume in der Wladimir-Iljitsch-Lenin-Oberschule hießen an diesem Nachmittag Stationen. In jeder Station erwartete mich eine Russischlehrerin.
Ich betrat Station 1, selbstverständlich im FDJ-Hemd, grüßte auf Russisch und nahm Platz. Ein Monolog war fällig. Frau Krieg lächelte mir zu. Ich sollte berichten, wie sich die FDJler meiner Klasse auf den Geburtstag Ernst Thälmanns vorbereiten. Ich konnte mir ausrechnen, was sie hören wollte. In jedem Jahr gab es irgendwelche Jubiläen, im letzten Jahr war unsere Republik dreißig Jahre alt geworden, in diesem hatte ich auf den soundsovielten Jahrestag des Siegs der Sowjetarmee Page 18gesetzt. Aber halb so schlimm – für alle möglichen Jahrestage hatte ich Texte auswendig gelernt. Ich rasselte meine Sätze herunter. Volle Punktzahl und Zusatzpunkt für meine Aussprache.
Station 2: Dialog! Frau Besenkraut stellte mir Fragen wie »Hast du einen Freund in der Sowjetunion?« oder »Welchen Beitrag leistest du zur Erfüllung der Beschlüsse des neunten Parteitages?« Ich bot zehn kleine Sequenzen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Da ich auch hier nur fünfzehn Minuten verweilen durfte – anschließend läutete die Schulklingel, und ich hatte die Station zu verlassen –, musste ich mich kurz fassen, durch Originalität bestechen und in möglichst jeden Satz eine Vokabel, die im Russischunterricht noch nicht aufgetaucht war, unterbringen. Bei der DDR-Olympiade würde ich hier eins draufsetzen, aus meiner Hosentasche einen klitzekleinen Wandteller ziehen und ihn meiner Gesprächspartnerin zum Abschied schenken. Macht garantiert einen Zusatzpunkt.
Station 3: Übersetzen! Mein Schwachpunkt. So langweilig wie die Pflichtelemente beim Eiskunstlaufen, die so gähnend öde waren, dass sie nicht einmal vom DDR-Fernsehen übertragen wurden, obwohl Anett Pötzsch dort immer glänzte. Manchmal patzte ich beim Übersetzen. Aber nicht hier. Da konnte Frau Belzig so streng schauen, wie sie wollte. Die Belzig war nur so zickig, weil ihre Tochter Jana heute auch an der Olympiade teilnahm und höchstens Dritte wurde.
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Anett Pötzschs gefährlichste Rivalin war Linda Fratianne aus Kalifornien, meine Tanja Bandow von der Tereschkowa-Oberschule in Merseburg. Bei der Kreisrussischolympiade lieferten wir uns seit der sechsten Klasse erbarmungslose Gefechte. Tanja Bandow hatte Haare bis zum Arsch und galt als unschlagbar. Mittlerweile schlief ich nachts auf Wörterbüchern, weil ich hoffte, die Vokabeln würden so in meinen Kopf wandern. Es half nichts. Ich blieb ewiger Zweiter im Kreis Merseburg. Zwar mit deutlichem Punktabstand zur Drittplatzierten, irgendeiner Antje aus Schafstädt. Aber wen tröstete das? Bei der Weltmeisterschaft in Wien 1979 war Anett Pötzsch zweimal gestürzt, und die Fratianne hatte ihr Glück kaum fassen können. Ein Jahr später kehrte Anett auf das Siegerpodest zurück. Als bei der Siegerehrung die Hymne der Deutschen Demokratischen Republik erklang, saß ich vor dem Fernseher und heulte Rotz und Wasser. Die Fratianne sah blöd aus der Wäsche. Genau so würde es der Bandow gehen.
Im nächsten Jahr bat ich Frau Besenkraut, mich nicht für die Kreisrussischolympiade meines Jahrgangs zu nominieren. Das war der große Schachzug, den ich plante. Ich würde einfach ein oder zwei Schuljahre überspringen. Tanja Bandow könnte die Olympiade der achten Klasse und ich in der neunten oder zehnten gewinnen. So würde ich meiner Gegnerin aus dem Weg gehen und mir Zeit verschaffen, um meinem großen Ziel, der Page 20Goldmedaille in der zehnten Klasse, näherzukommen. Frau Besenkraut war von meinem Vorschlag begeistert. In den Russischstunden durfte ich jetzt Iswestija und Komsomolskaja Prawda lesen. Und ich entdeckte Merseburg-West. Nachmittags stieg ich auf mein Fahrrad und radelte die F91 entlang. Schkopau zu verlassen, auf dem Radweg neben der Fernverkehrsstraße, drei oder vier Kilometer, war eine Verheißung und Merseburg-West eine andere Welt. Die Straßen mit den Häuserblocks aus den sechziger Jahren waren nach sowjetischen Kosmonauten benannt. Neben dem Kosmonautenviertel befand sich die Garnison der sowjetischen Streitkräfte. Auf der Straße spielten Kinder und sprachen russisch. Das war Musik in meinen Ohren. Es dauerte nicht lange, und ich spielte mit Wadim, Waleri und Lena. In ein paar Jahren würden sie in die Sowjetunion zurückkehren. Der Gedanke tat mir weh. Aber es würde neue Wadims, Waleris und Lenas geben, und ich hätte dann Brieffreunde, die mir Luftpostbriefe aus ihrer Heimat schreiben würden. Die Sowjetunion war das fortschrittlichste Land der Welt. Ich wollte nach Leningrad und Kiew, in den Kaukasus und auf den Pamir, in die Taiga und nach Sibirien. Ich war glücklich, dass es die Garnison in Merseburg gab. Sie war ein kleines Stück Sowjetunion.
Ich gewann die Olympiade im Bezirk Halle. Als Frühstarter, der eine Klasse übersprang, durfte ich als Erster die Stationen absolvieren. Meine Page 21Leistungen würden die Messlatte sein für alle, die nach mir kamen und ihre Monologe und Dialoge abspulten. Mich umwehte eine Wunderkindaura. Selbst den Weg von der Tür zum Stuhl, auf dem ich Platz nahm, hatte ich geübt. Ich durfte nichts dem Zufall überlassen. Zu Hause im Kinderzimmer hatte ich den aufrechten Gang und ein zaghaftes Lächeln geprobt. Zu selbstbewusst durfte ich auf keinen Fall aussehen. Sonst gingen im schlimmsten Fall die Zusatzpunkte flöten. Ich wollte das kleine Sprachgenie sein, unbekümmert und bescheiden.
Nach der Olympiasaison beendete Anett Pötzsch plötzlich ihre Laufbahn als Leistungssportlerin. Es gab Gerüchte, dass sie in den Westen abhauen und bei Holiday on Ice auftreten wollte. Der Erfolg war ihr zu Kopf gestiegen. Nachdem die Pötzsch in unserer Republik den dreifachen Salchow und den dreifachen Toeloop lernen durfte, wollte sie durch die NATO-Staaten tingeln. Ein Glück, dass der Blödsinn zeitig genug entdeckt worden war. Von ihrer Flucht war im Westfernsehen noch nicht die Rede. Meine Eltern sahen jeden Abend Tagesschau, und einen Fluchtversuch der Pötzsch hätte sich die imperialistische Propaganda niemals entgehen lassen. Aber auch im DDR-Fernsehen tauchte Anett Pötzsch nicht mehr auf. Also musste sie etwas ausgefressen haben. In unserer Republik wurde niemand fallen gelassen, schon gar keine Olympiasiegerin. Offenbar fehlte ihr der Page 22gefestigte Klassenstandpunkt. Ich redete mir ein, dass die Eiskunstläufer aus der Sowjetunion, im Gegensatz zu der undankbaren Schlampe aus Karl-Marx-Stadt, ihre Heimat wirklich liebten. Von nun an drückte ich ihnen die Daumen. Irina Rodnina war zehnmal Weltmeisterin im Paarlaufen geworden. Darin zeigte sich die Überlegenheit des Sozialismus.
In der zehnten Klasse visierte ich die DDR-Olympiade an. Dort würde ein schärferer Wind wehen. Frau Besenkraut sagte mir, dass ich während der Winterferien die sowjetische Mittelschule in Merseburg besuchen durfte. Was für ein Geschenk! Jeden Tag in die Garnison! In der Mittelschule trugen Jungen und Mädchen Schuluniformen. Sie sprangen auf, sobald ihr Nachname gebrüllt wurde, und leierten zwei oder drei oder vier Sätze herunter, während Frau Lehrerin eine Zensur in ihr Heftchen kritzelte. Setzen. Die Zensuren wurden weder verkündet noch erläutert. Die gesamte Klasse starrte auf die schreibende Hand der Lehrerin, während die Schüler sich abstrampelten. Mir taten die uniformierten Jungen und Mädchen leid. Aber ich war nicht hier, um mitzuleiden.
Meine Eltern waren stolz auf meine Auszeichnungen, die Urkunden, Medaillen und die Reisen mit dem Freundschaftszug nach Kiew und Saporoschje. Erst als ihnen zu Ohren kam, dass ich im Sommer im Buna-Bad nur noch mit Russkis unterwegs war, fragte meine Mutter, ob ich es nicht ein Page 23bisschen übertreibe. Sie verstand mich nicht. Die meisten Schkopauer sprachen miserabel russisch, und mich interessierte nicht, wer am letzten Samstag im Westfernsehen bei Auf Los geht’s los! aufgetreten war oder in der Bundesliga einen Elfmeter verschossen hatte. Die lang gedehnten russischen Vokale, die Musik, die in Wörtern wie dostoprimjetschatjelnosti schwang, die Lieder von Alla Pugatschowa, die mir Wadim, Waleri und Lena auf ihren Kassettenrekordern vorgespielt hatten – das war meine Welt. Die Druschba-Trasse und die Pionierrepublik Artek. Matrjoschka, Buratino und die Märchen von Wladimir Wolkow. Die Länderwertung bei den Olympischen Spielen. Das Haus der Offiziere in Merseburg.
Dort fand sonntags tanjez statt. Fast immer war ich der einzige Deutsche dort. Dem tanjez fieberte ich Woche für Woche entgegen. Im hinteren Teil des Hauses befand sich das magasin, wo es nach Fisch, Schweiß und Parfüm duftete, und daneben eine Tanzfläche unter freiem Himmel, wo Männer miteinander tanzten, tranken und sich umarmten. Als ich das zum ersten Mal sah, stockte mir der Atem. Ich würde immer wieder hierher kommen, jahrelang, damit jemand seine Hand auf meine Schulter legte und mit mir russisch sprach.