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Es war anstrengend, Ritas Untermieter zu sein. Kam sie morgens vom Strich, sturzbesoffen und mit zerrissenen Strumpfhosen, fuhr ich zum Frühdienst. Manchmal brachte sie Kunden mit. Sie hatte Angst vor ihnen und erzählte deshalb, sie besitze zwei Dobermänner. Sobald sie die Wohnung betrat und »Arko! Platz! Aus!« schrie, wusste ich, was ich zu tun hatte. Bellen und kläffen. Nie hatte Rita das Geld für die Miete am Monatsersten zusammen. Die ersten Mahnungen des Hausbesitzers trafen ein. Sie versuchte, ihre Geschäfte mit Annoncen in der BZ anzukurbeln und pries sich als amerikanisches Travestiemodell an. Die Anzeigen erschienen, und Mrs. America kam morgens torkelnd nach Hause, sank auf ihre Matratze und schnarchte. Fast ununterbrochen klingelte das Telefon. Ich hatte frei, aber ich nahm den Hörer nicht ab, bis ich den Schlafplatz unter der Brücke vor mir sah. Der Gedanke daran versetzte mich in Panik. Wenn Oberpfleger Rolf im Tagesraum vögelte, konnte ich mich ja wohl um den Dienstplan einer Nutte kümmern.
Also nahm ich beim nächsten Klingeln ab und hauchte und wisperte so, wie ich mir das Hauchen und Wispern eines amerikanischen Travestiemodells vorstellte. Ich verhandelte die Preise – fast immer die erste Frage der Kunden – und vereinbarte Termine. Klingelte es, lief ich zur Tür und begleitete die Männer in Ritas Zimmer. Sie hielten Page 25mich für ihren Zuhälter. Bellen musste ich jetzt nicht mehr. In diesen Wochen lernte ich die Welt der bizarren Kundenwünsche kennen. Rita hatte nur wenige Stammkunden. Der Chef einer großen Berliner Brauerei gehörte zu ihnen und frühstückte jeden Dienstag mit ihr. Rita aß ein Brötchen, und er verspeiste, auf einem Porzellanteller und mit Petersilie garniert, Katzenscheiße. Rita durfte dabei nicht lachen. Ein anderer Herr ließ sich sieben Tennisbälle in den Arsch stecken. Rita nannte ihn Boris Becker. Und dann war da noch Monsieur Nasenstein, den sie mit Popeln beschnipste. Ich fragte mich, was daran so dramatisch sein sollte, wenn die Zauberinnen in der Residenz den Weg zur Toilette nicht fanden oder ihre Nachthemden zerrissen. Und warum Rita mich bedauerte, weil ich dort arbeitete. Ihre Freundinnen waren die Nutten der Frobenstraße. Auch sie hatten Mitleid mit mir. Sie ließen sich auspeitschen und froren nachts auf der Straße. Kunden schikanierten und bedrohten sie. Aber für sie schien selbst das erträglicher zu sein als ein Frühdienst in der Residenz.
Rita träumte von einem steinreichen Kunden, der sie heiraten würde. Bevor sie abends loszog, schob sie eine Kassette in den Videorekorder. Sie stellte sich vor den Spiegel, mit dem Kerzenständer in der Hand, und spielte Marlene Dietrich. Rita ging nie zum Arzt. Ihre Schuppenflechte überschminkte sie, und ich klaute in der Residenz Balneum-Hermal-Waschlotion und Tramaltropfen, Page 26als sie Zahnschmerzen bekam. Damals entdeckte ich, dass die Residenz und ganz Westberlin Selbstbedienungsläden waren. Ich lief durch die Stadt und klaute. In einer Buchhandlung in Schmargendorf ließ ich bei jedem Besuch einen Gedichtband mitgehen, bis das Regal leer war. Jean Genet und Henry Miller, damals meine Hausgötter, hätten mir dafür die Wange getätschelt. Auch in Kaufhäusern interessierten mich Bücher, vor allem die eingeschweißten Hardcoverausgaben. Die winzigen Metallstreifen auf den Bücherrücken kümmerten mich so wenig wie die lästige Sirene, die immer dann losjaulte, wenn ich Karstadt, Hertie oder Wertheim verließ.
Als Rita mich bat, in der Residenz sterile Kanülen mitgehen zu lassen, entdeckte ich die Einstichstellen und Hämatome auf ihrer Haut. Ich schüttelte den Kopf. Dann fehlte Geld in meinem Portemonnaie. Und ich fand die fristlose Kündigung des Vermieters im Briefkasten. Rita hatte seit Monaten keine Miete gezahlt.
Die ausgemergelte Gestalt, die ich zwanzig Jahre später am Kottbusser Tor sehen würde, durfte Rita nicht sein. Sie würde am Eingang des Kaiser’s Supermarktes stehen, meinem Blick ausweichen und noch immer das knatschrote Jäckchen tragen, in das ich mich vor meinem Vorstellungsgespräch in der Residenz gezwängt hatte.
»Wenn du Oberpfleger bist, heirate ich dich«, hatte sie einmal gesagt.