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Zweimal im Schuljahr hatten wir vier Wochen lang Schwimmunterricht im Buna-Bad. Im Sommer im Freibecken, über das im Winter eine riesige Kautschukplane gestülpt wurde. Wir nannten sie die Buna-Blase. In der Buna-Blase war die Luft ein bisschen dünn, es hallte und dröhnte sonderbar. Das Echo aus Harpos Horoscope ließ sich dort mühelos nachahmen. Aber nicht einmal Harpos Echo konnte mich seit der sechsten Klasse dazu bringen, das Buna-Bad zu betreten. Damals beschloss ich, nie wieder dorthin zu gehen. Ich würde mich nicht noch einmal dem geifernden Befehlston der Sportlehrer aussetzen. Als Fräulein Blei den Rest der Klasse aufforderte, am Beckenrand Platz zu nehmen und mir dabei zuzusehen, wie ich mich abmühte, einen Kopfsprung hinzubekommen und stattdessen mit dem nächsten Bauchklatscher im verchlorten Wasser landete, war das Maß voll. Nie wieder. Bis zur zwölften Klasse hielt ich durch.

Meiner Mutter eine Erkrankung vorzuspielen, war keine große Kunst. Morgens im Bett rieb ich mir die Stirn heiß und schüttelte das Fieberthermometer hoch. Manchmal schlug die Quecksilbersäule zu weit aus, doch Gott sei Dank schöpfte meine Mutter keinen Verdacht, wenn das Thermometer 41,5 Grad Celsius anzeigte. Sie sagte, ich sähe aus wie das Leiden Christi. Ich wusste nicht, wie das Leiden Christi aussah, durfte aber im Bett bleiben.

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Stand dienstags Schwimmen auf dem Stundenplan, bekam ich am Dienstagmorgen hohes Fieber, das erst nach einer Woche ganz langsam abklang. Am Mittwoch ging ich wieder in die Schule, um am folgenden Dienstag einen heftigen Rückfall zu erleiden, der mir wieder genau eine gesamte Woche Zeit im Bett und auf der Couch im Wohnzimmer schenkte. Mit dieser Masche tilgte ich alle vier Schwimmunterrichtstermine im Schulhalbjahr. Ging meine Mutter zur Arbeit in die Konsumdrogerie, schlief ich bis zehn. Dann begann das Vormittagsprogramm von ARD und ZDF. Am liebsten sah ich Schwarzwaldklinik, Ich heirate eine Familie, Traumschiff und ZDF-Hitparade. Ich sah alles, was ich mir sonst verbot, lag auf dem Sofa, wickelte mich in Muttis Mollydecke und machte Urlaub. Meine wissenschaftliche Weltanschauung war mir schnuppe. Ich erholte mich von der Russischolympiade, Herrn Pfeiler und den Kirchlis. Ich konnte nicht mehr. Ich war todmüde. Das DDR-Fernsehen interessierte mich nur, wenn die Schlagersendung Bong! lief.

Nach dem Mittagsschlaf las ich Die Bettelprinzess von Hedwig Courths-Mahler. Ich hatte es auf dem Bücherregal meiner Oma Martha entdeckt. Wahrscheinlich hatte es seit Jahren dort gestanden. Der Roman war für mich eine Offenbarung. Natürlich wusste ich, dass Courths-Mahler Schund- und Schmutzliteratur schrieb und eine kleinbürgerliche Kitschautorin war, weil sie die Page 54Klassenunterschiede übertünchte. In der DDR waren ihre Bücher verboten. Meine Oma Martha las ausschließlich Kitschromane und brachte sie von ihren alljährlichen Westreisen mit. Sie nähte die Schmöker in ihr Mieder, ehe sie den Interzonenzug nach Halle an der Saale betrat. Zu Hause in Freienfelde betrieb Oma Martha eine illegale Leihbücherei, von der ihre Söhne nichts wissen durften, ausschließlich mit verbotenen Schmökern aus dem Westen. Als ich Die Bettelprinzess lesen wollte, war ihr das zunächst nicht recht. Oma Martha sagte, solche Bücher würden nur für alte Frauen geschrieben. Auf ihrem Bücherregal stand auch Die Mutter von Maxim Gorki. Das sei etwas für mich, befand Oma Martha. Schließlich würde ich später sowieso einer von den Hohen werden. Oma Martha wollte sich keinen Ärger mit meinem Vater einhandeln. Andererseits war ich ihr einziger Enkel. Ich ließ Die Bettelprinzess mitgehen und bediente mich aus den Stapeln mit den Erika-Luxus-Romanen. Gott sei Dank führte Oma Martha ihre Leihbücherei schlampig, sie stapelte ihre Schwarten in Schuhkartons. Allerdings hatte sie die Schwarten nummeriert. Fehlten mal ein paar Nummern, fragte Oma Martha mich nie.

Von mir aus konnte Hedwig Courths-Mahler eine verlogene Sonstwasautorin sein. In ihren Büchern tauchte sie das Leben in Zuckerguss, und ich verschlang Seite für Seite. Ich wollte Gesellschaftsdame werden, bei einer Fürstin oder Gräfin. Page 55Oder im Westen in einem Reihenendhaus wohnen, wo ein Zwergkaninchen über den Rasen vor der Terrasse hoppelte, und im Sommer immer nach Italien in den Urlaub fliegen, in ein Hotel aus dem Reiseteil des OTTO-Katalogs. Meine Tante Irene aus Münster hatte zwei herausgerissene Seiten dagelassen. Nach der Kitschromanlektüre widmete ich mich den Reiseangeboten. Nie konnte ich mich entscheiden. Jedes Hotel im OTTO-Katalog lockte. Meinem Vater hatte Tante Irene einen Shell-Atlas geschenkt. Dort fand ich die Routen der Fähren nach Italien. Sie waren mit roten, dünnen Linien gekennzeichnet, darüber stand die Fahrtdauer. Am kürzesten war es von Dubrovnik nach Venedig. Vorher müsste ich es nach Jugoslawien schaffen. In der Jungen Welt hatte ich gelesen, dass die FDJ-Reisebüros sogar Reisen in das nichtsozialistische Ausland anboten. Ich nahm die Straßenbahn nach Merseburg. Im Jugendreisebüro sagten sie mir, ich solle wiederkommen, wenn ich achtzehn und in der Partei wäre, da man in Jugoslawien zwar einen Sozialismus aufbaue, aber einen, den wir nicht befürworteten.

Seit der achten Klasse wurde über meine Fehlzeiten im Schwimmunterricht gelacht. Meine Mitschüler prophezeiten, an welchem Tag ich wieder hohes Fieber bekommen würde. Ich wollte, dass sie sich schämen. Vor dem Schwimmunterricht hatten wir eine Stunde Englisch, und neben mir saß Steffen Schlumm mit den gut Page 56gepolsterten Oberschenkeln. In der Englischstunde simulierte ich einen Ohnmachtsanfall und landete auf Steffens Polster. Als der Krankenwagen kam und mit Blaulicht nach Merseburg fuhr, verstummten selbst die größten Lästermäuler in meiner Klasse. Im Krankenhaus würden sie entdecken, dass ich kerngesund war. Doch ich hatte vorgesorgt und mir ein paar blutdrucksenkende Tabletten aus dem Nachtschränkchen meiner Mutter eingepfiffen. Zur Beobachtung musste ich ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Das ließ hoffentlich die letzten Zweifler in meiner Klasse verstummen. Die Lehrer sprachen mich nie an. Ich bekam nur zu hören, dass sie in jeder Schwimmstunde beim Eintrag der Anwesenheit das Gesicht verzogen, wenn sie meinen Namen nannten.

Ich war der FDJ-Sekretär mit gesundheitlichen Handicaps. Erst in der zehnten Klasse riss Herrn Hoffmann, meinem Sportlehrer, der Geduldsfaden. Wieder hatten wir Englisch vor der Schwimmstunde, und ich wollte mich verdünnisieren und nach Hause gehen. Dieses Mal hatte ich die Rechnung ohne Herrn Hoffmann gemacht. Er wartete vor dem Unterrichtsraum auf mich, packte mich mit der rechten Hand am Nacken und ließ mich erst los, als wir das Buna-Bad erreicht hatten. Herr Hoffmann wartete vor der Umkleidekabine auf mich. Dort legte ich einen epileptischen Anfall vom Feinsten hin, krampfte, würgte und lallte. Der Krankenwagen kam nach wenigen Minuten, Page 57und Herrn Hoffmann wurde angst und bange. Ich durfte nie wieder auch nur eine Kletterstange berühren. Das war mehr, als ich erhofft hatte. In Sport erhielt ich eine Eins.

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