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In der Residenz spielte ich artiges Dummerchen. Seit sechs Monaten. Niemand sagte mir, dass ich die Probezeit bestanden hatte. Mein Name stand auf dem Dienstplan des nächsten Monats. Das genügte. Von nun an lockten Krankschreibungen. Die waren wie große Ferien und Kostproben des Rentnerdaseins. Sie versprachen Erlösung auf Zeit. Vor Doktor Max’ Praxis in der Reichenberger Straße standen die Patienten Schlange. Kleine gelbe stellte die Sprechstundenhilfe im Vorzimmer aus. Wer schwul war und drei Wochen blau machen wollte, musste mit Doktor Max essen gehen. Für vier Wochen war ein Fick fällig.

Meine Krankschreibungen nahmen immer unverschämtere Ausmaße an, und so lernte ich nach und nach alle Räumlichkeiten der Praxis um Mitternacht kennen. Doktor Max empfing mich dort in Stiefeln und Military-Hosen. Nach dem Sex musste ich mir Klagen über die Gängeleien der Krankenkassen und die Budgetierungen anhören. Es grenzte an ein Wunder, dass die deutsche Ärzteschaft noch nicht an einer Hungersnot verendet war. Ich ließ ihn jammern. Dann diktierte ich ihm die gewünschten Daten meiner Krankschreibung.

Später stellte mich Doktor Max’ Pensionierung vor neue Herausforderungen. In anderen Arztpraxen bot ich Kostproben meines schauspielerischen Talents. Fast immer wurde ich Page 59krankgeschrieben, aber meist nur für ein oder zwei Wochen. Das genügte mir nicht. Ich begann, von Krankheiten mit langwierigen Verläufen und Rückschlägen zu träumen. Ich pokerte mit meiner Gesundheit. Eine Ansteckung mit Salmonellen war kein großes Problem, zumindest nicht im Hochsommer, wenn man Döner Kebab aß, abends, wenn die Joghurtsoßen hoffentlich schon verdorben waren. Es funktionierte. In den nächsten Jahren bekam ich Salmonellen und die Ruhr, als könnte ich Krankheiten herbeizaubern. Der Preis dafür waren Krämpfe, Diäten und Gelbfärbungen. Ich zögerte die Abgabe der Stuhlproben hinaus. Nach drei negativen Ergebnissen war der Zaubertrick vorbei, und wieder drohte die Residenz.

Frau Bühling erwachte dort meist nach 22 Uhr, verließ ihr Bett und verfolgte mich mit ihrem Rollator. Frau Bühling fuhr Slalom. In jedem ihrer Tippelschritte lauerte ein Sturz. Aber sie stürzte niemals. Immer, wenn ich sie zurück in ihr Bett gebracht hatte, stand sie sofort wieder auf.

»Du spinnst doch, in der Nacht zu arbeiten!« Frau Bühling hatte Recht. Wer brauchte mich in der Villa, heute Nacht, jetzt? Heute war Samstag, und in Schöneberg im New Action tobte das schwule Leben. Ich verschloss die Villa, ging zur Haltestelle und fuhr mit dem Nachtbus zum Wittenbergplatz. Im New Action stand ich herum. Die Pornofilme auf den Monitoren störten mich. Es stank nach Bier und Pisse. Mit einer Flasche Page 60Incidinspray hätte man den Laden durchaus aufwerten können. Ich langweilte mich mehr als in der Residenz. Morgen früh würde alles auffliegen. Fristlos gekündigt wegen rektaler Auswärtsspiele. Im New Action nüchtern herumzustehen war so aufregend wie eine Teambesprechung unter Leitung der Äbtissin. Gegen vier Uhr kehrte ich in die Villa zurück, duschte, trank eine Kanne Kaffee und eröffnete die Waschstraße.

Mein Ausflug blieb unentdeckt. Von nun an übernahm ich an den Wochenenden gern den Nachtdienst. Nach Mitternacht versank ich im schwulen Bermudadreieck zwischen Nollendorf- und Wittenbergplatz. Eines Nachts sah ich dort Gregor. Ich erkannte ihn sofort. Seine Augen verrieten ihn. Ein Mann mit Mädchenaugen. Später sagte mir Gregor, mein Blick habe ihm Angst gemacht.

Es war eine laue Sommernacht, und vor Toms Bar standen Grüppchen schwuler Männer. Gregor stand allein, wie ich. Wenn mir damals, Anfang der neunziger Jahre, etwas panische Angst einflößen konnte, dann der wachsende Rechtsradikalismus in Deutschland. Die brennenden Asylantenheime, die Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien, rechte Aufkleber an Straßenlaternen paralysierten mich. Ich las alles, was ich über Rechtsradikalismus in Zeitungen und Buchhandlungen finden konnte. Oft hatte ich geträumt, von Neonazis zusammengeschlagen zu werden. Ich wusste, wer vor mir stand. Gregor Fönzke, Chef der Nationalen Page 61Alternative in Dresden. Ich ging auf ihn zu und sprach ihn an. In dieser Nacht log er mir das Blaue vom Himmel herunter. Er nannte sich William und erfand eine abstruse Biografie, einen Kauderwelsch aus Ich-bin-Kanadier-studiere-Slawistik-in-Moskau-Berlin-ist-nur-eine-Zwischenstation-just-for-fun. So stellte ich mir einen Mann von Welt vor. Kanada! Moskau! Berlin just for fun! Und ich? Irmgard-Breugel-Haus, Station 4. Gregor war ein hochintelligenter, gesprächiger Mann, der mich zum Abschied küsste. Wir tauschten unsere Telefonnummern.

»Ich heiße nicht William«, sagte er, drehte sich um und ging. Ich war einem Nazi auf den Leim gegangen. Das war die Strafe für meine nächtlichen Streifzüge. Hätte ich doch lieber Staub im Schwesternzimmer gewischt. Jeder Fluse hätte ich mich widmen können. Mit Rechtsradikalen wollte ich nichts zu tun haben. Ich wollte nur Bücher über sie lesen oder sie in Filmen sehen. Mehr nicht. In der Villa hörte ich es röcheln und rascheln, husten und schnarchen. Türen knarrten. Dann hörte ich die Stille. Dann die Angst. Die Angst lief hier umher. Sie absolvierte ihre Rundgänge und spähte in jedes Zimmer. Manche Zauberinnen lagerte sie und gab ihnen zu trinken. Ihre Kürzel fehlten zwar in den Trinkprotokollen und Lagerungsplänen. Aber ich wusste genau, dass ich die Zauberinnen in einer anderen Position gelagert hatte, ehe ich ins New Action gefahren war. Die Trinkbecher hatte Page 62ich aufgefüllt, jetzt waren sie halb leer. In der Villa ging es nicht mit rechten Dingen zu. Auf dem Fensterbrett hatte die Angst die Mirfulansalbe liegen lassen. Und den Materialwagen hätte sie ruhig mal auffüllen können. Die Angst war eine Schlampe.

Draußen läutete es. Das durfte nicht wahr sein. Gregor Fönzke war mir gefolgt. Ich beschloss, das Klingeln zu ignorieren. Es klingelte wieder. Ich lief im Schwesternzimmer auf und ab. Gott sei Dank gab es eine Gegensprechanlage.

»Was ist denn?« fragte ich betont gelangweilt.

Der Wachschutz teilte mir mit, dass ich die Fahrstuhltür mal wieder nicht abgeschlossen hatte.

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