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Jeden Mittwoch, 8 Uhr, ging ich zur Besprechung mit Herrn Pfeiler, dem Direktor der Lenin-Oberschule. Dafür stand ich gern eine Stunde früher auf. Herr Pfeiler nahm sich jede Woche für die Freie Deutsche Jugend Zeit. Ich war der Sekretär unserer FDJ-Grundorganisation. Jeden Mittwoch sollte ich Herrn Pfeiler berichten, worüber in den Klassen gesprochen wurde. Darauf war ich stolz. Die Stunde bei Herrn Pfeiler war mein Beitrag, um die Kampfkraft unserer Republik zu stärken. Überall lauerten Feinde. Überall betrieb die imperialistische Konterrevolution ihre Maulwurfstätigkeit. Auch in der Lenin-Oberschule in Schkopau. Als ich in die siebte Klasse ging, schrie ich bei den Fahnenappellen Schüler aus der zehnten Klasse an, die zum FDJ-Hemd Westjeans trugen. Wer sich diese Unverschämtheit beim Appell leistete und das Gesicht zur Ich-kau-lieber-Kaugummi-Fresse verzog, musste damit rechnen, dass ich ihn vortreten ließ und zur Rechenschaft zog.

Eines Tages besuchte der Botschafter Ägyptens die Lenin-Oberschule. Ich trug eine Rede vor, die Herr Pfeiler verfasst hatte. Ich ließ mir Zeit, senkte die Stimme kurz vor dem Satzende und sagte Sätze wie: »Alle Kinder in der Deutschen Demokratischen Republik lieben den Frieden.« Der Botschafter versuchte zu lächeln, während ich sprach. Er schenkte mir ein Medaillon mit dem Page 28Konterfei Kleopatras und erwiderte meine Rede mit dem Satz, dass auch die Kinder in Ägypten den Frieden lieben. Das war gelogen. Im Neuen Deutschland hatte ich etwas anderes gelesen. Ägypten machte seit dem Camp-David-Abkommen gemeinsame Sache mit Israel, dem zionistischen Aggressor. »Das stimmt nicht!«, rief ich dem Botschafter zu, ehe ich eilig zur Seite gedrängt wurde und Herr Pfeiler sich wortreich entschuldigte. Herr Pfeiler tadelte mich am nächsten Mittwoch. Potenzielle Bündnispartner wie Ägypten dürfe man niemals verprellen, und ich solle endlich lernen, mich taktisch klüger zu verhalten.

Seit dem sechsten Schuljahr saß ich mittwochmorgens bei Herrn Pfeiler und musste berichten. Aber woher sollte ich wissen, worüber in den Klassen 9b, 10a oder 7c gesprochen wurde? Ich erfand ein paar Gesprächsthemen und zählte politische Ereignisse auf. Das Kriegsrecht in der Volksrepublik Polen. Die Sowjetarmee befreit Afghanistan. Der NATO-Doppelbeschluss macht Westeuropa zur atomaren Startrampe.

Herr Pfeiler hatte gesagt, dass ich mich in den Schulpausen neben die Kirchlis stellen soll. Die Kirchlis musste man im Auge behalten. Auf dem Schulhof wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Ich galt als rotes Arschloch. Jeder neue Schultag bedeutete Klassenkampf. Wichtig war, sich nicht beirren zu lassen. Das dachte ich auch, als ich den Scheißhaufen entdeckte, den mir Page 29jemand in meine Schultasche gesteckt hatte. Es gab nicht viele Kirchlis in der Lenin-Oberschule. Jeder wusste, wer in Schkopau zur Jungen Gemeinde ging – aus meiner Klasse nur Barbara Pappauf mit den dünnen geflochtenen Zöpfen. Ich nannte sie Barbara Kaulquappe. Barbara Kaulquappe hatte vier Geschwister, wollte Pudelfriseuse werden und sprach am liebsten über ihre gesammelten Kaugummibilder. Ich behielt sie im Auge, aus sicherer Entfernung. Auf Gespräche über Kaugummibilder wollte ich mich nicht einlassen. Wer ging heutzutage noch in die Kirche? Meine Großmutter! Das war mir peinlich. Ich besuchte Oma Olga nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. An ihrem Geburtstag, zu Weihnachten, und einmal im Jahr schippte ich einen Berg Kohlebriketts in ihren Keller. Oma Olga lebte seit der Flucht aus Niederschlesien in ihrer eigenen Welt. An den Wänden ihrer winzigen, dunklen Wohnung in Merseburg-Nord hingen riesige Marienporträts, Jesuskreuze und Erst-wenn-du-in-der-Fremdebist-weißt-du-wie-schön-die-Heimat-ist-Sprüche. Oma Olga stand morgens nicht vor zehn Uhr auf. Sie sprach mit hartem, wasserpolnischem Dialekt über Schlegenberg, als wäre sie gerade eben noch dort gewesen, und über Gott. Sie war ein Überbleibsel aus der Zeit des Kapitalismus. Ich schämte mich, eine Großmutter zu haben, der es schnurzpiepe war, dass sie seit Jahrzehnten in einem sozialistischen Land leben durfte.

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