Читать книгу SPURENLEGER - Jörg Schmitt-Kilian - Страница 10

4.

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Endlich. Geschafft. Fertig. Lena druckt ihren Vermerk aus. Das war eine »schwere Geburt«, über den Tod eines Menschen zu schreiben, den man kennt und in sein Herz geschlossen hat. Lena atmet tief durch, heftet den Vermerk zusammen und geht zum Fahrstuhl. Drückt auf den runden Knopf. Etage 4. Der Flur der Mordkommission ist beleuchtet, und in allen Zimmern brennt Licht. Rechts und links herrscht hektische Betriebsamkeit. Das halbe Präsidium ist auf den Beinen. In ihrem Zimmer sitzt ein Kollege, den sie noch nie gesehen hat. Lena geht bis zum Ende des Flurs. Letzte Tür rechts. Haralds Büro mit Blick auf die von zahlreichen Scheinwerfern angestrahlte Festung Ehrenbreitstein. Harald Sauer sitzt am Schreibtisch und stützt mit beiden Händen den Kopf ab. Ist verdammt alt geworden, denkt Lena. Harald blickt nur kurz auf.

Früher hatte Lena immer einen frechen Spruch auf den Lippen: »Gab es die Jacke auch noch in deiner Größe?«, »Wann wird dein Pullover denn wieder modern?«, »Du hast auch schon mal besser ausgesehen, Augen wie ein beschissener Taubenschlag«.

Und ähnliche Nettigkeiten zwischen Kollegen. Diese Sprüche verkneift sie sich seit Haralds Operation. Sie legt ihm wortlos den Vermerk auf den Tisch. »Die Schüsse wurden vermutlich aus Sabines Dienstwaffe abgefeuert. Zwei Patronenhülsen haben wir im Auto gefunden. Die Waffe nicht«, sagt Harald, ohne seinen Blick zu erheben.

»Also kein Suizid. Die einzig gute Nachricht«, flüstert Lena. Harald nickt zustimmend. »Du siehst nicht gut aus, Lena. Fahr doch nach Hause. Es sind genug Leute hier. Was kann denn heute Nacht noch Schlimmeres passieren?«, flüstert er mit belegter Stimme. Lena umarmt ihn, verlässt das Zimmer, fährt mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss und meldet sich auf der K-Wache ab.

Es ist bereits halb fünf als sie die Tür ihres Appartements in Pfaffendorf öffnet und sich auf die Couch wirft Die Wände rücken plötzlich näher, wie in einem dieser blöden Werbespots für günstige Bankkredite. Wir wollen Ihr Bestes. Das hat Lena bei der neuen Einrichtung ihrer Wohnung gemerkt. Von wegen das Beste. Wir wollen Ihr Bestes, Ihr Geld. Dieser Slogan wäre zutreffender. Und gestern stand in der Zeitung was von der neuen Bankenkrise Gut, dass sie nichts auf der hohen Kante hat. Wieder gehen ein Arbeitstag und das Leben eines Menschen zu Ende. Eine junge Frau, die sie gerne näher kennengelernt hätte, ist tot. Nutze jede einzelne Stunde. Sabines Worte hallen wie ein Echo in Lenas Ohren. Und dann tauchen die Erinnerungen auf: jener düstere Tag Ende März, an dem sie das erste Mal mit dem Tod konfrontiert wurde.

Lena war sechs, als Vater plötzlich und unerwartet nach einem Herzinfarkt starb. Er wurde zu Hause aufgebahrt. Vaters bester Freund Alfred Schmidt hatte die kleine Kinderhand gegen Lenas Willen an den kalten Körper geführt. »Fass ihn ruhig an. Es tut ihm nicht mehr weh!«, hatte dieser Nachbar der kleinen Lena ins Ohr geflüstert und sie fest an seinen schwitzenden Körper gedrückt. Vaters Körper fühlte sich an wie Pappe. Seine Hand war kalt und knochig, und was zu Lebzeiten Haut war, fühlte sich an wie brüchiges Pergamentpapier. Damals hat sich die kleine Lena geschworen, nie mehr einen toten Menschen anzufassen. Sie hat ihren Kinderschwur gebrochen. Warum? Wie oft? Sie findet keine Antwort. Viele Leichen haben ihren beruflichen Weg gepflastert. Zu viele.

Lena versucht die Gedanken an den Tod zu verdrängen und spürt plötzlich wieder diesen gallebitteren Geschmack in der Kehle. Sie läuft ins Bad, kniet sich vor die Toilette und würgt, bis sie erbrechen kann, hat das Gefühl, als würde sie ihre Eingeweide ausspucken. Dann zieht sie sich am Waschbecken hoch, greift nach einem Handtuch, öffnet den Wasserhahn, wischt sich Gesicht, Mund und Hände ab, taumelt zurück ins Schlafzimmer, lässt sich aufs Bett fallen. Innerhalb von wenigen Minuten sinkt sie in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

***

Die Strahlen der Morgensonne leuchten wie winzige Scheinwerfer durch die Fensterfront des kleinen Appartements direkt am Rheinufer. Vor den großen Glasscheiben tanzen staubige Fäden im Sonnenlicht durch den Raum. Das Läuten des Telefons durchschneidet die morgendliche Stille und erlöst Lena von ihrem Albtraum. Sie erwacht mit Herzrasen und versucht sich an die letzten Eindrücke ihres Traums zu erinnern. Irgendwas Bedrückendes war kurz nach Vaters Tod geschehen, aber es ist nicht mehr greifbar. Ihre Hände tasten nach dem Telefon. Wer besitzt die Unverschämtheit, sie nach dem Nachtdienst am frühen Morgen zu wecken? Das kann nur jemand sein, der keine Ahnung hat, wie stark der Wechselschichtdienst belastet. Also kein Kollege. Erst jetzt erinnert sie sich an die Ereignisse der vergangenen Nacht. Es war also doch kein Traum. Leider. Lena drückt auf das Symbol mit dem Telefonhörer.

»Hallo?«, gähnt sie in die Sprechmuschel.

»Fühlen Sie sich wieder fit?« »Wie bitte?« Sie kann es nicht fassen: der Leiter der Kriminalpolizei höchstpersönlich. Er reißt sie nach den Ereignissen der vergangenen Nacht aus dem Tiefschlaf. Herr Kriminaldirektor Hinz, der klassische Beamte. Er hat nur einige Monate normalen Polizeidienst verrichtet. Der weiß nicht, dass es nachts draußen dunkel ist und ist von Lehrgang zu Lehrgang gestolpert. Beförderung bis zur absoluten Inkompetenz, ereifert sich Tom Schneider, ihr Lieblingskollege, immer wenn Hinz wieder nur an den eigenen Vorteil und die nächste Beförderungsmöglichkeit denkt. »Wie geht es Ihnen, Frau Lieck?«, säuselt Hinz in den Hörer. Lena ist überrascht, dass Hinz sich nach ihrem Befinden erkundigt. Aber es ist nicht mehr als eine Floskel, denn Hinz würde in der nächsten Sekunde mit der ihm eigenen nüchternen Sachlichkeit den Grund seines Anrufes mitteilen. Lena kocht vor Wut. »Haben Sie schon mal auf die Uhr geschaut? Ich hatte Nachtdienst. Wissen Sie eigentlich, wie viel Uhr es ist?« »Frau Lieck, falls Sie es vergessen haben sollten oder noch schlaftrunken sind: Eigentlich bin ich Ihr Chef bei der Kriminalpolizei, also exakt formuliert, Ihr Dienstvorgesetzter und nicht die Zeitansage bei der Telekom. Ich weiß sehr wohl, wie spät beziehungsweise früh es ist, und Sie sollten wissen, dass besondere Ereignisse auch besondere Entscheidungen rechtfertigen. Und ich als Ihr Dienststellenleiter habe soeben entschieden, dass Frau Hauptkommissarin Lieck als Mitglied der Soko an der Obduktion der getöteten Polizistin teilnehmen wird!« »So. So. Soeben«, murmelt Lena mit einem Kopfschütteln. »Ja soeben, weil ich soeben erst erfahren habe, dass Sie zu der Kollegin engen Kontakt hatten und Sie beide sich von Frau zu Frau auf dem Flurfest bestens verstanden haben. Das haben die anderen mir so berichtet. Von Mann zu Mann. Und im Übrigen habe ich es als Kriminaldirektor wirklich nicht nötig, mich vor einer Kriminalhauptkommissarin zu rechtfertigen.« Als Hinz gesagt hatte der Kollegin schien es, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegreißen. Gut, dass sie noch auf dem Bettrand saß. Er hatte noch nicht einmal Sabines Namen genannt. Wahrscheinlich war er ihm schon entfallen. Und war es nicht auch seine Kollegin? Auch wenn sie bei S und nicht bei K Dienst verrichtete. Hätte Hinz nicht zumindest unsere sagen können? Aber was hatte sie von diesem menschlichen Eisblock denn anderes erwartet? Das arrogante Arschloch war nach Bestehens des Ratslehrgangs auf der Polizeiführungsakademie in Hiltrup zu einem Höhenflug durchgestartet und viele, mit denen er sich früher geduzt hatte, mussten ihn wieder siezen. Von ihm soll der Ausspruch stammen: Die fortschreitende Fraternisierung des gehobenen mit dem höheren Dienst muss ein Ende haben. Und dieser Typ plädiert in seinen Leitbildzirkeln von der hohen Bedeutung des menschlichen Miteinanders. Worthülsen! Nur dummes Geschwätz. Mit welcher Begründung könnte sie den Auftrag ablehnen? »Um drei ist die Obduktion: Das schaffen Sie locker!«, nimmt Lena den Wortlaut der dienstlichen Anweisung wie aus einem Sprachcomputer wahr. Irgendwie schafft es Hinz immer wieder, auch vordergründig unverbindliche Aussagen wie einen Befehl klingen zu lassen. Locker? Dieses arrogante Arschloch! Welche Wortwahl angesichts dieser menschlichen Tragödie. Und wieso musste sie an der Obduktion teilnehmen? »Warum wecken Sie mich jetzt schon, wenn die Obduktion erst um drei Uhr ist?« Hinz geht erst gar nicht auf die Frage ein. »Sie werden mit Hauptkommissar Schneider zusammenarbeiten! Der Leiter K11 sagte mir, Sie beide seien ein starkes Team. Zusammen unschlagbar. Wollen wir mal hoffen, dass er nicht übertreibt. Schneider holt Sie um neun ab.« »Wieso schon um neun?« »Weil Sie beide zuvor noch zwei Vernehmungen durchführen und anschließen noch einmal mit der Mutter reden sollen!« »Wie spät ist es denn?« »Es ist halb acht!« »Danke für die Zeitansage. Sie sollten doch zur Telekom wechseln!«, kann Lena sich nicht verkneifen und drückt auf die Taste mit dem roten Hörer. Sie könnte ihn erwürgen. Widerspruch wäre zwecklos, erwirkt keine aufschiebende Wirkung. Gut, dass sie ihn in diesem Moment nicht sieht. Hinz setzt meist seine Pfeife als stilistisches Mittel ein und glaubt ernsthaft, mit dieser Geste sein Gegenüber zu beeindrucken. Er ist darauf bedacht, allen für seine Karriere wichtigen Menschen seine uneingeschränkte Loyalität zu demonstrieren. Leider immer nur auf dem Rücken anderer. Deshalb bleibt sein stiller Wunsch nach Anerkennung bei seinen Mitarbeitern unerfüllt. Die Vögel der Besorgnis müssen in seinem Kopf ein riesiges Nest gebaut haben, denn der »Oberbedenkenträger« lähmt mit seinen Rückfragen die für den Polizeialltag wichtige schnelle Beurteilung einer Lage. Hinz trifft Entscheidungen oft erst nach schlaflosen Nächten, die er mit der Frage verbracht hat, was denn alles schiefgehen könnte.

Privat soll er ein richtig netter Typ sein, obwohl Lena sich das schwer vorstellen kann. Vielleicht schlagen wirklich zwei Herzen in seiner Brust. Einerseits tut er ihr leid. Andererseits hält sich Lenas Mitleid in Grenzen.

Sie braucht nach dem Anruf dringend eine Dusche. Unter dem heißen Wasserstrahl versucht sie intensiv an andere Dinge zu denken. Und es gelingt ihr tatsächlich: Szenen einer kurzen, aber leidenschaftlichen Affäre tauchen vor ihrem inneren Auge auf. Wie oft hatten sich unter dieser Dusche ihre Körper vereint? Intensiv, ekstatisch, aber leider zu selten. Sie hätte heute Nacht lieber von Fredy als vom Tod ihres Vaters geträumt. Lena erinnert sich an die Segeltörns auf Blackys Yacht von Medemblik aus kreuz und quer über das Ijsselmeer. Fredy war vom Rauschgiftdezernat des LKA Mainz zum Präsidium Koblenz versetzt worden. In seiner Latzhose, dem Schimanski-Parka, das Palästinensertuch um den Hals gewickelt, den hohen spitzen Cowboystiefeln, mit dem Ring im Ohr und dem zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen langen Haar vermutete man eher einen Dealer als einen Drogenfahnder. Vielleicht war sein Aussehen das Geheimnis seines Erfolges, sowohl im Dienst als auch bei den Frauen. Die wahren Gründe seiner Versetzung hatte sie niemals erfahren, konnte sie später allenfalls erahnen. Lena bewunderte Fredys fast graziöse Bewegungen, wenn er auf dem Vorschiff turnte und sich bückte, um die Fock zu hissen. Dann rutschte die meist zu enge Jeans nach unten, und Lenas Blick sah die leicht verblassten Hinterbacken, die an seinem gebräunten Körper einen besonders reizvollen Kontrast boten. Er hatte einen echt knackigen Hintern. Sein verlängerter Rücken war anziehender als das mit Pickeln übersäte Arschgesicht von Hinz. Bei diesem Vergleich muss Lena lächeln.

Beim Landgang in Enkhuizen hatte die verhängnisvolle Affäre mit Fredy begonnen. Für Lena war es das erste Mal, dass sie mit einem Kollegen ein Verhältnis hatte. Für Fredy nicht. Aber das erfuhr sie erst später.

Die ungewöhnlichen Orte, an denen sie sich liebten, fügen sich wie bunte Mosaiksteinchen zu einem Bild schöner Erinnerungen. Und dann hatte Fredy von heute auf morgen die Beziehung beendet. Per SMS! Der Feigling! Sie erinnert sich trotz seines feigen Abgangs gerne an jene Zeit zurück. Aber sie hätte Fredys Seitensprünge auch nicht weiter ertragen und zunehmend Angst, die Kollegen könnten das Verhältnis entdecken. Erst später musste sie erfahren, dass Fredy vor den anderen »Hasch-Papis«, seinen Kollegen im Rauschgiftkommissariat, keine Geheimnisse hatte und selbst über sexuelle Vorlieben seiner häufig wechselnden Geschlechtspartnerinnen en détail Bericht erstattete. Lena hätte ihn damals umbringen können. Sie hatte sich zuvor von Michael getrennt. »Der ist doch Valoron auf Füßen. Dem kannst du beim Gehen die Schuhe besohlen«, hatte Fredy über seinen Vorgänger gelästert. Okay, er hatte recht. Michael war zwar eine treue Seele, wie ein Bruder im Geiste. Aber körperlich? Na ja. Im Bett war er eine Niete. Und heute noch sehnt sich Lena in einsamen Stunden nach Fredys gierigen Händen und dem Duft seiner Haut. Immer noch, aber seltener, obwohl der Macho sie zutiefst gekränkt hat. Manchmal fällt Lena in eine tiefe Depression, wenn sie über ihr Leben nachdenkt. Ihr Kinderwunsch würde sich wohl nicht erfüllen. Sie flüchtet in die Arbeit. Der Dienst lenkt sie ab. Dann hat sie keine Zeit zum Grübeln, und so schiebt sie die tausend Überstunden weiter vor sich her. Immer mehr statt weniger. Gedankenverloren dreht sie den Wasserhahn zu.

Erst jetzt hört sie das bekannte Hupsignal. Dreimal kurz. Einmal lang. Sehr lang.

Lena springt aus der Dusche, wickelt sich in das rote Badehandtuch und läuft mit kleinen Schritten zum Fenster. Sie streckt die Hand aus. Das vertraute Zeichen. Noch fünf Minuten. Bedeutet fünfzehn, aber ihr Lieblingskollege Tom Schneider, den sie vom ersten Tag ihrer Zusammenarbeit an in ihr Herz geschlossen hat, wird geduldig warten. Tom lebt allein auf seinem Hausboot Albatros im Rheinarm bei Vallendar gegenüber der Insel Niederwerth. Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen. Mehr weiß Lena nicht. Noch nicht.

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