Читать книгу SPURENLEGER - Jörg Schmitt-Kilian - Страница 7
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ОглавлениеDer Funkstreifenwagen RHEIN 11/1 rollt nahezu geräuschlos auf den kleinen Parkplatz hinter dem Deutschen Eck am Zusammenfluss von Rhein und Mosel. Polizeikommissarin Sabine Laube parkt den Streifenwagen rückwärts vor der alten Bruchsteinmauer am Ludwig-Museum ein. Der Streifenwagen ist neben den Müllcontainern nur schemenhaft zu erkennen. Die Blaulichter auf dem Dach werden von der Abenddämmerung verschluckt. Niemand würde neben übel riechenden, mit Graffiti beschmierten Containern ein Polizeifahrzeug vermuten. Ein geschickter Platz zum Observieren. Wer unentdeckt beobachten will, darf selbst nicht erkannt werden. Das hatte sie an der Hochschule der Polizei gelernt.
Seit der Personenüberprüfung der stadtbekannten Junkies in den Rheinanlagen vor dem Koblenzer Schloss hat sie mit Polizeioberkommissar Bernd Müller kein einziges Wort gewechselt. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie während der ersten Nachtstreife immer an diesen Ort fährt. Nur ein Auftrag von der Einsatzleitstelle RHEIN oder dem Dienstgruppenleiter der Schutzpolizeiinspektion 1 mit dem Rufnamen RHEIN 11 kann sie von diesem Ritual abhalten.
Sabine Laube schaltet den Motor aus, dreht den Schalter für die Lautstärke des Funkgeräts zurück und blickt in die Dunkelheit. Kurze Zeit später wird die Stille im Streifenwagen durch ein kurzes Rauschen unterbrochen. Die blecherne Stimme des Kollegen Werner von der Einsatzzentrale im neunten Stock des Koblenzer Polizeipräsidiums ertönt aus dem Funkgerät: »RHEIN 11/5 für RHEIN kommen!«
»11/5 hört!«, meldet sich Polizeikommissarin Andrea Bühler, die erotischste Stimme der Polizeiinspektion 1. Sie erkennen sich an ihren Stimmen wie vertraute Menschen, die häufig miteinander telefonieren.
»RHEIN 11/5. Fahren Sie VU ohne. Friedrich-Ebert-Ring, Höhe Bahnhofstraße, Fahrtrichtung Rhein-Mosel-Halle. Die Beteiligten erwarten Sie an der Unfallstelle!« Sabine atmet erleichtert aus. Der Auftrag »VU ohne« für die Aufnahme des Verkehrsunfalls ohne Verletzte wird an die Besatzung eines anderen Funkstreifenwagens erteilt. Alltagskram. Kleinigkeiten. Sie hat Wichtigeres zu tun.
»11/5 verstanden!«, bestätigt Andrea Bühler, indem sie nur kurz die Sprechtaste betätigt. Dann knackt es in der Leitung, und anschließend breitet sich wieder Stille im Funkkanal aus. Oftmals die Ruhe vor dem Sturm. Niemand weiß, was in der nächsten Sekunde geschehen wird. Und das ist gut so.
Sabine Laube tippt nervös mit den Zeigefingern auf das Lenkrad. »Willst du nachher weiterfahren?«, fragt sie, ohne ihren Kollegen anzuschauen. Bernd Müller nickt. Er öffnet wortlos die Beifahrertür, steigt aus, geht um den Streifenwagen herum und setzt sich hinters Steuer. Sabine ist inzwischen auf den Beifahrersitz gerutscht. Von hier aus kann sie besser beobachten. Ihr Blick wandert wieder zu den Dirnen, die am Rheinufer auf Freier warten. Die meisten jünger als Sabine. Auf Lolita gemacht, mit Puppengesichtern und Schmollmündern. Sie locken Freier an, die auf frisches Fleisch stehen. Männer aus allen Berufsgruppen finden hier eine kurze Befriedigung ihrer Lust. Die Mädchen sind nicht teuer. Für die Männer sind es nur billige Flittchen, die sie bei Tageslicht mit Verachtung strafen würden. Auch heute wird sie mindestens einem dieser geilen Böcke den Spaß verderben, ihn dermaßen scharf kontrollieren, dass er am Ende würde, warum er sich um diese Uhrzeit hier herumtreibt. Immer wieder dieses Déjà-vu-Erlebnis bei den Personenkontrollen. Die – meist älteren – Männer jammern, suchen Ausreden, rechtfertigen sich. Es sei wirklich das erste Mal. Echt, das müsse sie glauben. Dann stottern sie, werden verlegen und gestehen ihre Angst, die Gattin könne davon erfahren. Aber eigentlich seien die Ehefrauen selbst schuld. Im
ehelichen Bett würde ja schon lange nichts mehr laufen. Eklige Schweißperlen tropfen dann von ihren Gesichtern. Meist ziehen sie ein verschmutztes Taschentuch aus der Hose und wischen sich mit dem unappetitlichen Rotzfänger übers Gesicht. Sie zittern. Jämmerliche Kreaturen. Arme Menschheit!
Manche weinen sogar. Und wenn die Personenüberprüfung negativ ist, beruhigen sie sich wieder und starren unverfroren auf Sabines Brüste. Einige machen sie dann richtig an: »Von Ihnen würde ich mich auch gerne verhaften lassen.« »Wollen Sie mir keine Handschellen anlegen?«
»Sie sind viel zu hübsch für eine Polizistin.« Und andere schwachsinnige Sprüche. Am liebsten würde Sabine im Dienst ihr T-Shirt mit der Aufschrift Ich hab auch Augen, du Idiot!, tragen. Aber das würde gegen die Kleiderordnung bei der Schutzpolizei verstoßen. Lena Lieck von der Kripo dagegen kann anziehen, was sie will. Hosenanzug, Jeans, Lederjacke, schickes Kostüm. Pumps. Bei K kein Problem. Wenn sie morgen Mittag ausgeschlafen hätte, würde sie Lena anrufen und sich mit ihr zum Power-Shopping in Wiesbaden verabreden. Sie hatte Lena beim letzten Flurfest im Präsidium kennengelernt und fand die Kollegin vom Kommissariat für Kapitaldelikte auf Anhieb sympathisch. Von Lena könnte sie sicherlich noch viel lernen. Nicht nur für die Vorbereitung auf die Prüfung für den Schwarzgurt in Judo. Irgendwann würde sie auch von S zu K wechseln. Aber nicht zur Mordkommission, sondern am liebsten zur Sitte, dem Fachkommissariat, in dem Gewaltdelikte gegen Frauen und Kinder bearbeitet werden. Und den Grund dafür kennt niemand, außer ihm.
***
Polizeioberkommissar Bernd Müller dreht sich mit ruhiger Hand eine Zigarette. Durch das geöffnete Seitenfenster strömt
die warme Abendluft. Er zündet mit dem Sturmfeuerzeug den Glimmstängel an und bläst die Rauchkringel aus dem Fenster. Bernd denkt an seine Frau Ute, die Kinder und das fast bezugsfertige Einfamilienhaus in Neuborn, dem kleinen Westerwalddorf in der Nähe von Koblenz. Er stellt den Fahrersitz auf Liegeposition und hofft, dass in der nächsten halben Stunde kein Freier die Mädchen anspricht. Bis kurz vor Beginn der Nachtschicht hat er am Bau gearbeitet. Ein harter Tag.
Hoffentlich wird es eine ruhige Nacht. Ein Nachtdienst »ohne besondere Vorkommnisse«. Aber dieser Vermerk ist eher selten im Rapport der Schutzpolizeiinspektion 1. Irgendwas geschieht nachts immer: Verkehrsunfall, Schlägerei, Einbruch, Alarmauslösung, Vermisstenanzeige, Familientragödie, Verfolgungsfahrt, Leichensache und so weiter. Manchmal die ganze Palette in einer einzigen Nacht.
Morgen würde das Dach aufgeschlagen. Er freut sich auf das Richtfest mit Handwerkern, Freunden und den vielen Kollegen aus der Schicht, die ihn tatkräftig unterstützt haben. In ein paar Wochen würde er mit Ute, Jenny und Ben einziehen. Ein lang ersehnter Traum ginge in Erfüllung. Jenny würde die Grundschule besuchen, nur zweihundert Meter vom neuen Haus entfernt, Ben auf das Gymnasium Asterstein wechseln. Für die Fahrt zum Polizeipräsidium benötigt er über die Umgehungsstraße nur zehn Minuten. Bernd kann es kaum erwarten, endlich aus der kleinen Wohnung in dem Koblenzer Stadtteil Karthause in das eigene Haus umzuziehen. Vielleicht würde er einen belgischen Schäferhund kaufen und sich als Diensthundeführer bewerben. Das Grundstück am Rande des kleinen Dorfs bietet sich förmlich an, und der sehnlichste Wunsch der Kinder war schon immer ein eigener Hund. Trautes Heim, Glück allein. Er freut sich auf das gemeinsame Leben unter dem eigenen Dach. Beim Blick auf die sich dicht an Fels anschmiegenden Gebäude der Festung Ehrenbreitstein, die von zahlreichen Scheinwerfern beleuchtet wird, versinkt Bernd Müller immer tiefer in Gedanken. Hinter der Arenberger Höhe auf der anderen Seite des Rheins würde ein neuer Lebensabschnitt beginnen. Auf den Höhen des Westerwaldes ist es immer ein paar Grad kälter als im Rheintal. Im letzten Winter lag der Schnee so hoch, dass man eine Loipe für den Ski-Langlauf rund um den Golfplatz Denzer Heide spuren konnte. Er freut sich riesig darauf und wirft einen kurzen Blick auf Sabine. Er weiß immer noch nicht, warum Sabine bei der ersten Nachtstreife an diesen Ort fährt. Obwohl sie ansonsten ein eingespieltes Team sind. Nur ein einziges Mal hatte er Sabine nach dem Grund gefragt. Sie wolle kontrollieren, ob auch Minderjährige auf den Strich gehen, hatte sie geantwortet. Ihre Antwort klang nicht überzeugend. Da steckt mehr dahinter. Das spürt er.
Irgendwann würde er sie noch einmal fragen. Vielleicht heute Nacht zwischen vier und sechs, wenn die Zeit bis zum Schichtende nicht vergehen will und man jede Gelegenheit zur Überbrückung der letzten zwei Stunden nutzt.
***
Der Mann, der kein Mörder werden wollte, sitzt auf dem Mauersims hinter der Bruchsteinwand und starrt auf die rot glühende Spitze in der Finsternis, die in kurzen Abständen aufleuchtet. Der Polizist hat sich eine Zigarette angezündet.
Auf dem Parkplatz steht immer noch der Lieferwagen mit der Aufschrift Deutscher Paketdienst. Vor dreißig Minuten sind zwei junge Männer durch die Hecktür eingestiegen. Zunächst hatte er befürchtet, es könne sich um ein Observationsfahrzeug der Polizei handeln. Aber als der Wagen leicht schaukelte, war ihm klar, was sich im Fahrzeuginnern abspielt. Er erschrickt, als der Motor aufheult und der Lieferwagen den Parkplatz verlässt. In seiner Anspannung hatte er nicht bemerkt, dass die beiden Männer wieder in das Führerhaus gestiegen waren.
Die zwei jungen Bordsteinschwalben gehen auf der Rheinpromenade auf und ab, rauchen eine Kippe nach der anderen und warten auf Freier. Wenn sie wieder in die andere Richtung gehen, ist die Gelegenheit günstig. Die billigen Nutten auf der anderen Straßenseite könnten nicht erkennen, was in wenigen Sekunden neben den Müllcontainern geschehen wird.
Sein Blick konzentriert sich wieder auf den Streifenwagen. Ob sie sich einem anderen Menschen anvertraut hatte? Eher unwahrscheinlich. Sie traut keinem Menschen über den Weg.
Noch nicht einmal sich selbst. Sie ist zu misstrauisch. Berufskrankheit. Sie ist halt eine Polizistin. Ein verächtliches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Bald war sie eine Polizistin. Ihre letzten Minuten bis zur Grenze ins Jenseits, die verbleibende Zeit zwischen Leben und Tod hält er in seiner Hand. Ein Machtgefühl baut sich in ihm auf. Niemand würde ihm diese Tat zutrauen. Er hat bewiesen, dass er sich in seinem Job durchsetzen kann. Aber er kann auch charmant sein, hat im Laufe der Zeit ein feines Gespür entwickelt, wann er sich Menschen mit Entscheidungsgewalt zu unterwerfen hat und besser sein Fähnchen nach dem Wind dreht. Er zeigt anderen immer ein gefälliges Lächeln. Keiner, dem man einen Mord zutrauen würde. Und nun huscht ein eiskaltes Lächeln über sein Gesicht. Eiskalt, wie ihn kaum einer kennt. Außer ihr. Er steigt von dem Mauersims, entsichert die Waffe und schleicht an der Wand entlang. Der Geruch nach verrottendem Abfall und Katzenpisse wird intensiver. Nur noch wenige Sekunden. Niemand wird ihn daran hindern, das zu tun, was er tun muss. Selbsterhaltungstrieb. Eine wichtige Funktion zum Überleben. Ein Trieb, so alt wie die Menschheit selbst. Nur die Starken überleben.
***
Bernd Müller zieht noch einmal an seiner Zigarette. Ein letzter gieriger Zug bis tief in die hintersten Verästelungen seiner Lunge, dreht er die Rückenlehne des Fahrersitzes wieder hoch und wirft den abgebrannten Glimmstängel aus dem Fenster.
Er dreht sich zu Sabine um und starrt in den Pistolenlauf, der auf seinen Kopf zielt. Bernd öffnet den Mund zu einem Schrei, doch die Worte bleiben im Hals stecken. Seine Hand greift zum Pistolengriff. Tausendmal hatte er diese Bewegung trainiert. Auf dem Schießstand Pfaffendorfer Höhe, in der Raumschießanlage des Polizeipräsidiums, unter realistischen Bedingungen im Schießkino und beim Einsatztraining in der Eifel.
Tausendmal trainiert, tausendmal ist nichts passiert. Zu spät. Ein Schuss zerreißt die Stille. Grelles Mündungsfeuer brennt in seinen Augen. Flackernde Lichtblitze lassen seinen Kopf explodieren. Die Kugel durchbohrt seine rechte Gehirnhälfte. Er spürt den brennenden Schmerz im Magenbereich, schmeckt das Blut in seinem Mund. Dann bellt ein zweiter Schuss.
Er sackt auf dem Fahrersitz zusammen, spürt eine warme Flüssigkeit, die sich ihren Weg vom Kopf über das Gesicht weiter auf dem Hals auf seinen Oberkörper bahnt und das von Ute heute Nachmittag erst frisch gewaschene Diensthemd rot verfärbt. Hinter einem grauen Schleier bauen sich Bilder auf: Ute vor dem Bügelbrett, die lachenden Gesichter seiner Kinder, die in der Badewanne planschen. Das Wasser färbt sich langsam rot. Ein letzter Gedanke an Ute, Jenny und Ben. Allein im neuen Haus. Ohne ihn. Für immer. Und ewig.
Der Druck im Gehirn lässt nach. Die Luft entweicht. Wie aus einem Luftballon nach einem kleinen Nadelstich. Er kann nicht mehr atmen. Die Lichter der Festung Ehrenbreitstein werden schwächer. Dann erlöschen die großen Scheinwerfer, als hätte sie ein riesiger Mund ausgeblasen. Dunkelheit breitet sich aus. Ewige Dunkelheit? Ewig?
Ewig kann verdammt lang sein. Verdammt lang.